Im Kino

Moment der Störung

Die Filmkolumne. Von Sebastian Markt, Fabian Tietke
14.04.2016. Etwas Unerhörtes artikuliert sich in Nicolette Krebitz' fragil widerspenstigem "Wild", der vom Leben in der Stadt, von Begehren und einem Wolf erzählt. Nabil Ayouchs "Much Loved" beschreibt den Alltag dreier Sexarbeiterinnen in Marrakesch.


Zwischen einer gemäßigt trostlosen Wohnung im Plattenbau und einem gemäßigt drögen Job bei einem irgendwie Internet-affinen Start-Up erscheint Anias Leben als mehr oder minder sortierte Unordnung. Die Wohnung hat sie bis vor kurzem mit ihrer Schwester geteilt, die Studienplatz und Freund zuliebe ausgezogen ist. Das Verhältnis der beiden wirkt so vertraut wie gegeneinander emanzipiert. Ein Großvater liegt schwer krank in der Klinik, Ania kümmert sich um ihn. Einen freien Abend verbringt sie auf einem Schießstand. Ihr Chef (Georg Friedrich, in siner Mischung aus Charme, Wehleidigkeit und unterschwelliger Aggression) scheint sie zu schätzen, was ihn nicht daran hindert, Arbeitsanweisungen mit einem an die durchsichtige Bürotrennwand geknallten Gummiball einzuleiten. Im Kreis ihrer Team-enthusiastischen Kolleg*innen ist sie geduldete Randfigur.

Lilith Stangeberg spielt diese Ania zunächst mit einer konzentrierten Unscheinbarkeit - eine gespensterhafte Existenz in der realexistierenden Lebenswelt, wie sie im jüngeren deutschen Kino nicht ganz unbekannt ist. Was "Wild" aber durchaus hervorhebt, ist die Entschiedenheit, mit der sich darin etwas Unerhörtes artikuliert. Mitten im wohlgelittenen Alltag widerfährt Figur und Film ein Moment der Störung, das sich in den Lauf der Dinge nicht mehr ohne Weiteres einsortieren lässt. Auf dem Weg zur Arbeit, durch einen Park, der halb urbane Anlage, halb vorstädtische, verwildernde Brache ist, steht ihr plötzlich ein Wolf gegenüber. Bis dahin ist der Film als präzise und nüchterne Schilderung eines unspektakulären Lebens erzählt, mit distanziertem Wohlwollen zu seinem Personal und einem auf Realismus eingestellten Blick auf urbane Orte und soziale Räume, zwischen dem Plattenbau in Halle Neustadt und dem Büro in der Altstadt.

Mit der Begegnung zwischen Wolf und Frau, die als ein Austausch faszinierter Blicke in Szene gesetzt wird, hält ein anderes Register Einzug. Im Gleichschritt mit Anias Faszination für das wilde Tier, der etwas von einer Liebe auf den ersten Blick anhaftet, verschafft sich ein schauriges Begehren Raum, das sich als ganz körperlicher Affekt manifestiert. Die Begegnung bringt etwas zum Glühen, was sich bei Ania, mit deutlichem Verweis auf das audiovisuelle Vokabular des Horrors als Infektion, als veränderte Wahrnehmung ihrer Umwelt wie ihrer eigenen Leiblichkeit manifestiert.

Nach erst zaghaften Lockversuchen mit Steakgeschenken schmiedet Ania den Plan, das Tier in einem nächtlichen Manöver, das halb performantes Ritual, halb Treibjagd ist, zu betäuben und bei sich in der Wohnung einzusperren. Die weitere Annäherung vollzieht sich zwischen Domestizierung und Verführung, während die Wohnung langsam zum Bau gerät und Ania eine Kraft entwickelt, die sie im Umgang mit ihrer Umwelt und den Rahmenbedingungen ihrer bürgerlichen Existenz, insbesondere ihrem Chef Boris, aus der Deckung kommen lässt. Sie hat, im übertragenen wie wörtlichen Sinn, Blut geleckt und trägt ihre nackte Haut irgendwann wie ein schützendes Fell.



Es ist tatsächlich eine Liebes- mindestens eine durchaus ins Drastische reichende Begehrensgeschichte, die Krebitz erzählt. Mit der in klassischer Erhabenheitsästhetik erzählten Selbstfindungreise einer Frau durch die Wildnis, die Reese Witherspoon in Jean-Marc Vallées ebenfalls "Wild" betitelten Film aus dem Jahr 2014 zurücklegte, hat dieses Spiel mit sich überlagernden Motiven von ungezähmter Natur und sozialen Formen wenig gemein. Überhaupt bleibt es die Besonderheit von Krebitz' Film, dass er naheliegende und mitunter problematische Lesarten wie Sehnsucht nach Zivilisationsüberschreitung, Entfremdungsmetaphorik, Emanzipationserzählung oder Zoophilie-Studie zwar zulässt, aber zugleich auf Distanz hält. Was Ania widerfährt und was sie durchlebt, ist weder das Wiederfinden einer verstellten Authentizität noch eine Regressions ins Animalische, sondern eine Freisetzung sozialer Energie, die in der Identifikation mit etwas radikal Anderem ihren Ausgang nimmt.

Dass dem Film das gelingt, liegt nicht zuletzt an einer mit sicherer Hand inszenierten und von Kameramann Reinhold Vorschneider konsequent umgesetzter Engführung von sozialer Beobachtung und aufblitzendem Phantasma. (Das Riskante eines solchen Entwurfs ist gewiss Kalkül, wirkt aber, sieht man vielleicht von der im medialen Umfeld gerne betonten Gefährlichkeit des Drehs mit tatsächlichen Wölfen ab, nie Koketterie.)

You're on your own / In a world you've grown … So be the girl you loved / Be the girl you love. James Blakes "Retrograde" ragt in einer klimaktischen Szene aus dem sorgfältig akzentuierenden Soundtrack von Terranova, einer Band, mit der Krebitz schon als Sängerin gearbeitet hat, heraus, und hört sich unweigerlich wie ein unumwundener Kommentar auf Anias Transformation an. So show me why you're strong / Ignore everybody else / We're alone now. Die weitgespannten assoziativen Bezüge, die Krebitz vorher aufgespannt hat, fängt der Film in der sinnlichen und konkreten Individualität von Stangenbergs Anias wieder ein, ohne seine motivische Vielschichtigkeit ganz aufzuheben. Was bleibt, ist das Portrait einer modernen Frauenfigur in der lebenshungrigen, fragilen Widerspenstigkeit ihres Eigensinns, in einem Film, den genau diese anmutig fragile Widerspenstigkeit in seinen Formen auszeichnet.

Sebastian Markt

Wild - Deutschland 2016 - Regie: Nicolette Krebitz - Darsteller: Lilith Stangenberg, Georg Friedrich, Silke Bodenbender, Joy Maria Bay, Pit Bukowski - Laufzeit: 97 Minuten.

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Frotzelnd sitzen Noha, Soukaina und Randa am Tisch und essen. Wenig später auf der Fahrt zur Party saudischer Touristen in Marrakesch schärft Noha Randa während des letzten Schliffs am Make-up ein: "Wenn ich tanze, tanzt Du auch und wenn ich ficke, fickst Du auch." Als Noha Saïds Blick vom Lenkrad bemerkt, blickt sie kurz zur Seite und fragt: "Was guckst Du so? Wär's Dir lieber, wenn ich poetischer wäre?" Noha, Soukaina und Randa arbeiten als Sexarbeiterinnen in Marrakesch und leben vom Geld, das ihnen saudische und europäische Touristen einbringen. Saïd ist ihr Fahrer, Koch und alles mögliche andere.

Nabil Ayouchs Film "Much Loved" wechselt zwischen der nächtlichen Arbeit auf Parties und dem individuellen Leben der drei Frauen, Momenten der Ruhe in der geteilten Wohnung. Auf den Parties müssen sie sich den Wünschen der Freier anpassen oder sie verdienen kein Geld. In Konfliktsituationen bilden sie ein Team: Als Randa einem Freier auf einer Party lautstark klar macht, dass sie keine Lust hat, für ihn zu tanzen, und der Konflikt schnell eskaliert, springt Soukaina ein und besänftigt den Mann.

Soukaina wiederum erfährt während der Besuche bei ihrer Familie, was es sozial bedeutet, in einer heuchlerischen patriarchalen Gesellschaft als Sexarbeiterin zu leben: Ihre ganze Familie lässt sich zwar gern von ihr aushalten, hält es aber immer weniger für nötig, ihre Verachtung zu verstecken. Ihre eigene Mutter verbietet ihr schließlich, wieder zu kommen. Ruhe finden die drei nur auf dem Sofa zuhause. Dort träumt selbst Noha, die die geschäftstüchtigste der drei und so etwas wie die Anführerin der Gruppe ist, von einem Flugzeug, das sie weit weg bringt. Weit weg auf eine Insel, auf der sie schön sind ohne Make-up und sexy Klamotten und als anständige Frauen leben können.



Ayouchs Film balanciert zwischen der um Realität bemühten Schilderung des Alltags der drei Sexarbeiterinnen, den durchaus voyeuristischen Bildern der Parties und den verlässlich folgenden Sexszenen. Es hätte zur Stärke des Films beigetragen, wenn auch die Arbeitsszenen auf den Parties stärker der Perspektive der Sexarbeiterinnen verpflichtet geblieben wären. Das zeigt sich nicht zuletzt in einer Sequenz, in der Randa mehr oder weniger auf der Flucht vor einer Gruppe selbstverliebter französischer Freier mit einer Frau zu tanzen beginnt und zum ersten Mal im Film so etwas wie Spaß zu haben scheint. Wenig später hat Randa, für Geld aber doch erkennbar mit emotionaler Bedeutung beladen, Sex mit derselben Frau. Randas Lesbischsein ist in dem Film so offen zu sehen wie selten im arabischen Kino.

Überhaupt ist die Darstellung von Homosexualität neben der Schauspielleistung die große Stärke des Films: einer der wenigen Verbündeten der drei ist Ousamma, der nachts in Frauenkleidern als Cherine Geld verdient. Ousamma ist neben Saïd der einzige Mann, den die drei in ihrer Wohnung dulden. "Much Loved" stellt seiner offenen Homosexualität die versteckte Homosexualität von Soukainas Freier Ahmad gegenüber. "Much Loved" erzeugte nach der Premiere in Cannes erwartbar einen Skandal in Marokko und wurde verboten, weil er eine Beleidigung für die Frauen Marokkos und die positive Darstellung von Homosexualität nicht hinnehmbar wäre. Eine Entscheidung, die Ayouch höchstens in der Vehemenz überrascht haben kann - angeblich gab es sogar Morddrohungen gegen die Hauptdarstellerin Loubna Abidar.

"Much loved" endet mit einer raren friedlichen Szene, in der die feindliche Welt hinter den vier Frauen zu liegen scheint, während sie gemeinsam mit Saïd aufs Meer schauen. Für einen kurzen Moment scheint die Welt den fünf zu gehören, ihrer Freundschaft und ihren Träumen. Fast erwartet man, dass Pat und Madjid, die beiden jugendlichen Protagonisten aus Mehdi Charefs "Le thé au harem d'Archimède" im schwarzen Mercedes auf der Strandpromenade hinter ihnen halten und 30 Jahre Träume und Hoffnungen im Blick auf das Meer verschmelzen.

Fabian Tietke

Much Loved - Frankreich, Marokko 2015 - Regie: Nabil Ayouch - Darsteller: Loubna Abidar, Asmaa Lazrak, Halima Karaouane, Sara Elhamdi Elalaoui, Abdellah Didane - Laufzeit: 104 Minuten.