Im Kino

Luftballett des Schreckens

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann, Katrin Doerksen
12.08.2020. Faktentreu, aber mit einem leichten Drall ins Surreale erzählt Marco Bellocchio in "Il Traditore" von dem Mafia-Aussteiger Tommaso Buscetta, der gegen den Capo di Capi, Totò Riina, aussagte. Marcell Jankovics imaginiert in seinem ungarischen Zeichentrick-Klassiker "Sohn der weißen Stute" die psychedelischen Fantasien, die wir mit der Muttermilch aufsaugen.

Das erste, was mir an "Il traditore", dem neuen Film von Marco Bellocchio, sehr gut gefällt, ist das Bildformat von 1,85:1. Dem 16:9 der allermeisten heutigen Bildschirme eng verwandt, aber eben nicht wirklich gleich, verbinde ich mit ihm die Klassiker des "New Hollywood" in den späten Sechzigern und Siebzigern. Kinofilme sind heutzutage eher in Scope gedreht - zumal zweieinhalbstündige Epen wie dieses, das die auf Tatsachen beruhende Geschichte rund um den Mafia-Prozess von Tommaso Buscetta (Pierfrancesco Favino) erzählt. Wenn Bellocchio mit Bildformat und Laufzeit Mafiafilm-Klassiker wie Francis Ford Coppolas "The Godfather"-Trilogie oder Martin Scorseses "GoodFellas" aufruft, dann tut er das zugleich, um sich von ihnen nur umso entschiedener abzugrenzen.

Bei Scorsese oder Coppola wird das Treiben der Mafia nicht unbedingt verherrlicht, aber es gibt einen narrativen Coup: die Figuren werden zwar als - neben vielem anderen - kaltblütige Mörder und skrupellose Geschäftemacher charakterisiert. Zugleich sind sie aber die einzigen Identifikationsfiguren, die in der geschlossenen Welt des organisierten Verbrechens dem Publikum angeboten werden. Symptomatisch ist dafür der umgekehrte Bildungsroman, den Michael Corleone (Al Pacino) im ersten "Godfather" durchläuft: vom Außenseiter, der mit den Geschäften der crime family, in die er geboren wurde, nichts zu tun haben will, zu deren Boss.

Bellochio nähert sich dem organisierten Verbrechen wesentlich nüchterner, realistischer. Die Tatsache, dass die großen Hollywood-Stars hier fehlen, hat daran sicherlich nicht den kleinsten Anteil. Zugleich ist der Realismus des Films auf vielfältige Weise gebrochen, und zwar nicht nur in expressiven, von der Realität der Diegese klar geschiedenen Albtraumszenen. Vielmehr zeichnet sich der Film durchweg durch einen Drall ins Surreale aus. Einmal fliegt Buscetta in einem Hubschrauber und wird von brasilianischen Militärs gezwungen, mit anzusehen, wie eine junge Frau um ein Haar aus einem anderen, vis-a-vis fliegenden Hubschrauber geworfen wird. Bellocchio inszeniert das, in einer der gar nicht so wenigen sehr musikalisch gedachten Szenen des Films, als eine Art Luftballett des Schreckens. Wenn Buscetta wenig später in dem Flugzeug sitzt, mit dem er nach Italien ausgeliefert wird, klingen durch die standardisierten Vorführungen der Stewardessen vor dem Start seine Erinnerungen an das Trauma an.



Schließlich ist da der Prozess in Sizilien, in dem Buscetta gegen die anderen Bosse und Funktionäre der Cosa Nostra, wie sich das organisierte Verbrechen auf der Insel selbst nennt, aussagt. Er ist das Herzstück des Films, um das herum Buscettas Geschichte, geschickt verschachtelt, hauptsächlich in Rückblenden erzählt wird - bis zu seinem Tod im Jahr 2000, als er 72-jährig schließlich dem Krebs erlag. Die Zustände im Gerichtssaal erinnern, wie der oberste Richter bemerkt, an ein Irrenhaus. Einer der Gefangenen hat es selbst in der Sicherheitsverwahrung geschafft, sich den Mund zuzunähen - und lässt nun durch seinen Anwalt eine schriftliche Erklärung zu seinem ewigen Schweigen verlesen. Ein anderer gibt an, dass ihm sein Arzt wegen einer Atemwegserkrankung verordnet habe, beständig Zigarren zu rauchen, weswegen er sich ans Rauchverbot im Saal nicht halten könne.

Beeindruckend sind vor allem die Kreuzverhöre zwischen Buscetta und den Männern, gegen die er aussagt. Insbesondere das mit dem Capo di Capi, dem Boss der Bosse, Totò Riina (Nicola Calì). Dieser lässt sich von Buscetta nicht im geringsten aus der Ruhe bringen. Selbst als sein Gegenüber dazu übergeht, jeden seiner Sätze nur noch mit einem vehement geknurrten "Heuchler" zu quittieren, zeigt er nicht das kleinste bisschen Wut. Vergegenwärtigt man sich, dass er dem Mann, mit dem er sich hier konfrontiert sieht, in einer anderen Situation ohne eine Sekunde zu zögern eine Kugel in den Kopf jagen würde, kann es einem kalt den Rücken runter laufen. Überhaupt ist das Entscheidende an der Gewalt der Mafia möglicherweise die Affektlosigkeit und Lakonie, mit der sie verübt wird. Für die Mörder sind ihre Taten offenbar integraler Teil eines millionen- und millardenschwerer Geschäfts - und sonst nichts.

Wenn auf die Nachricht von der Ermordung des berühmten Staatsanwalts Giovanni Falcone (Fausto Russi Alesi) durch eine Autobombe im Jahr 1992 ausgelassen mit Champagner angestoßen wird (Bellocchio inszeniert das als ein weiteres infernalisches Kabinettstückchen), scheinen das alle Gefühle zu sein, die man von diesen Männern im Hinblick auf ihre Bluttaten je erwarten darf. Sehr effektiv auch eine Szene im Exil: Buscetta hat sich mit seiner brasilianischen Frau Maria Cristina de Almeida Guimarães (Maria Fernando Cândido) vorübergehend in die USA abgesetzt. Beim Abendessen in einem Restaurant singt eine Art Mariachi in einem Weihnachtsmann-Kostüm ein Lied. Schon als er anfängt, auf Italienisch zu singen, entsteht ein latentes Gefühl der Bedrohung, das sich mit der letzten Zeile des Lieds konkretisiert: "Ich bin ein echter Sizilianer."

Der unbedingte Wille Bellocchios zur Faktentreue, aber auch sein (Stil)Wille finden zueinander in der Affinität des Films zum geschriebenen Wort, zur Schrifteinblendung. So gibt es etwa zu Beginn einen immer wieder eingeblendeten Counter, der die Zahl der Toten einer regelrecht epidemischen Mordwelle angibt. Später begleiten die Schlagzeilen der Tageszeitungen den Verlauf der Prozesse und auch das finale Schicksal der Protagonisten wird der Schrift überantwortet.

Nicolai Bühnemann

Il traditore - Italien 2019 - Regie: Marco Bellocchio - Darsteller: Pierfrancesco Favino, Luigi Lo Cascio, Fausto Russo Alesi, Maria Fernanda Cândido - Laufzeit: 153 Minuten.

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Marcell Jankovics gilt als der ungarische Walt Disney. Mit "János Vitéz" drehte er 1973 vom Staat gefördert Ungarns ersten abendfüllenden Animationsfilm, und für seinen Kurzfilm "Sisyphos" erhielt er 1974 eine Oscar-Nominierung. Trotzdem bekam er bei "Sohn der weißen Stute" Ärger mit der Zensur. Jankovics hatte den Film zunächst aus Versatzstücken verschiedener Volkssagen konstruiert, als eine Erkundung der zyklischen Muster von Zeit und Raum. Nicht vereinbar mit der marxistischen Lehre, befanden die Filmkader. Zeit verlaufe linear. Also begann Jankovics von Neuem und entschied sich dafür, ein ganz bestimmtes ungarisch-hunnisches Volksmärchen nachzuerzählen: Der dritte Sohn einer weißen Stute wächst versteckt in einer ausgehöhlten Eiche heran und entwickelt übernatürliche Kräfte. Bis er es mithilfe seiner zwei Brüder vermag, Drachen zu besiegen, Prinzessinnen aus der Unterwelt zu befreien und ein Königreich zu vereinen.
 
"Sohn der weißen Stute" wird oft als psychedelisches Erlebnis beschrieben und der Gedanke erscheint naheliegend bei all den leuchtenden Farbflächen, neu zum Leben erweckt durch die 4K-Restaurierung in einer Zusammenarbeit des Nationalen Ungarischen Filmarchivs mit der in L.A. ansässigen Arbelos Films, die auch Eiichi Yamamotos Anime-Klassiker "Belladonna of Sadness" neu aufbereitete. Aber so ganz passt das eigentlich nicht: "Sohn der weißen Stute" fühlt sich nicht an wie ein Trip, dafür entspringen die Bilder einerseits einer zu urwüchsigen, naturnahen Ikonographie: Helden und langbärtige Gnome, die in dunklen Höhlen hausen, Drachen und ausgehöhlte Eichen verbindet man als Mitteleuropäer vermutlich weniger mit drogeninduzierten Fantasien als vielmehr mit Erzählungen, gleichsam mit der Muttermilch aufgesogen; so vertraut, dass man beinahe meint, selbst ihre Autorschaft beanspruchen zu können.
 

Andererseits vermittelt der visuelle Stil wenn schon, dann den Eindruck eines ausgesprochen kontrollierten Rausches. Jankovics verzichtet auf schwarze Konturlinien, die seine Motive begrenzen würden, stattdessen lässt er weitere Farben seine Figuren umranden, die sich an deren Enden ausweiten und selbst zu neuen Bildelementen werden, als würde man mit sehr steter Hand bedächtig ein Kaleidoskop drehen. Die drei Brüder auf Drachenjagd mögen beeindruckende Titel tragen - Baumausreißer, Steinbröckler, Eisenkneter - aber auf der Ebene der Zeichen macht Jankovics sie allesamt zu Formwandlern, den Helden ebenso wie die geretteten Prinzessinnen, die Stute ebenso wie die Eiche und den heimtückischen Gnom. Verhältnismäßig langsam verzerren sich in "Sohn der weißen Stute" die Silhouetten, Spalte öffnen sich und geben Verstecke frei, Kreise drehen sich wie kleine Planeten, auf denen die Figuren voran marschieren und erinnern dabei in ihrer Flächigkeit an die Anfänge des Animationsfilm, den Scherenschnitt; so schmuggelt Jankovics seinen Gedanken an das Zyklische doch noch hinein in den Film.
 
Wer nicht damit umgehen kann, wenn er am Ende eines Films nicht alles verstanden hat, wird mit "Sohn der weißen Stute" womöglich nicht glücklich werden. Marcell Jankovics arbeitet zwar mit denkbar einfachen Mitteln, mit linearer Narration, mit Figurentypen und -konstellationen auf vorbestimmten Bahnen. Aber dennoch sperrt sich sein Film erfolgreich dagegen, leicht verständlich zu sein, sauber einzuordnen oder zu analysieren. Er verleitet dazu, sich in traditionellen Märchenbilderwelten zu verlieren und tischt einem Monster auf, die vage an frühe Pixelart erinnern oder die aus Kanonenrohren zusammengesetzt scheinen. Als seien die Bilder nicht in erster Linie aus dem Narrativ inspiriert, sondern entstünden alle immer nur aus sich selbst heraus, als obligatorische Folge aus dem vorangegangenen Bild, das wiederum in die nächste bildliche Expression mündet, ein einziges Kontinuum. Jankovics findet dafür das perfekte Ende. Nicht das narrative, gewissermaßen auch obligatorische, eine Dreifachhochzeit. Sondern das visuelle Ende: Der Mond wird zur Sonne, die Sonne zum Gesicht, das Gesicht verblasst und zuletzt bleibt ein tränendes Auge.

Katrin Doerksen

Sohn der weißen Stute - Ungarn 1981 - OT: Fehérlófia - Laufzeit: 81 Minuten.