Im Kino

Juliette singt

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster
05.07.2023. Pietro Marcello erzählt in "Die Purpursegel" von zwei Außenseitern, Vater und Tochter, in der französischen Provinz der Nachkriegszeit. Als Mittler zwischen Mensch und Welt dient beiden in erster Linie die Kunst, die Hoffnung macht, der Mensch müsse nicht fortlaufend dieselben Traumata produzieren.


Seine Hände können alles, heißt es einmal im Film über Raphaël (Raphaël Thierry). Massive, von einem langen Arbeitsleben gegerbte Pranken sind das, und doch sind Raphaëls Hände in der Tat nicht nur im Umgang mit dem Meißel und anderen Werkzeugen geübt, denen der Handwerker seinen Lebensunterhalt verdankt; sondern sie entlocken auch einer Ziehharmonika wehmütige Töne. Wenn der auch insgesamt massive, knorrige, einem alten Baum mit dickem Stamm und nicht allzu weit ausladenden Ästen gleichende Mann auf dem Friedhof vor einem Grab sitzt, verleihen seine Finger auf dem Instrument der Trauer um seine verstorbene Frau Ausdruck.

Die Frau ist gestorben, während der Mann im Krieg war - im Ersten Weltkrieg, der, wenn der Film einsetzt, gerade zu Ende gegangen ist. Die Wunden, die dieser erste Krieg der Moderne geschlagen hat, in Raphaëls Seele und auch in der zivilen Welt, in die er nun zurückkehrt, werden nicht direkt sichtbar. Manchmal dringen in die von natürlichem Licht durchfluteten 16mm-Bilder, aus denen Pietro Marcellos Film hauptsächlich besteht, Archivaufnahmen ein, geisterhafte Emanationen einer anderen, gleichzeitig intensiveren und entweltlichten Farbigkeit, aber auch diese materiellen Vergangenheitssplitter bleiben dem zivilen Leben verhaftet, führen nicht zurück in die Schützengräben, die gleichwohl gelegentlich, fast wie ein allerdings uneingelöstes Menetekel, über dem Film zu schweben scheinen.



Der Tod der Frau Raphaëls ist gleichfalls von einem dunklen Geheimnis umhüllt, das nicht restlos aufgeklärt oder gar bewältigt ist. Hinterlassen hat sie ihm eine Tochter: Juliette ist zunächst noch klein und hat vorerst eine lediglich flüchtige Präsenz im Film. Staunend legt sie ihre zarte, winzige, kindlich-hellrosa Hand auf die seine, prankige, tiefrote. Später wächst sie zur jungen Frau (nun verkörpert von Juliette Jouan) und zur zweiten, schließlich zur ersten, alleinigen Hauptfigur von "Die Purpursegel" heran.

Der Wechsel von Raphaël zu Juliette verändert den Film, obwohl die Welt um die beiden herum vorderhand die gleiche zu bleiben scheint. Es geht Vater und Tochter zunächst ums nackte Überleben. Da mögen die Naturaufnahmen auch noch so atmosphärisch-analog leuchten, das Sonnenlicht auch noch so lieblich Großaufnahmen fein gefaserter Blätter umschmeicheln: Es mangelt praktisch an allem in der französischen Provinz der Nachkriegszeit, auch an Arbeit für Raphaël, erst recht, weil Ungeklärtes in der familiären Vergangenheit Vater und Tochter in der Dorfgemeinschaft zu Parias gemacht hat. Zuflucht finden sie in einer stabilen, bis auf Raphaël komplett weiblichen Außenseiterinnengemeinschaft.

Was sich im Verlauf des Films verändert, ist nicht die Welt, sondern der Bezug der Figuren zu ihr. Als Mittler zwischen Mensch und Welt dient in erster Linie die Kunst. Sowohl Vater als auch Tochter verhalten sich zur Welt ästhetisch. Raphaël spielt nicht nur Ziehharmonika, sondern fertigt später auch eine weibliche Holzbüste an, die einem Schiff als Galionsfigur dienen soll. Juliette wiederum singt: liebliche, ätherische Melodien, so perlend frisch und klar wie der See, in dem sie in der schönsten Szene des Films, das schönste ihrer Lieder auf den Lippen, badet. Ein junger Mann, Jean (Louis Garrel), wird von ihrem Gesang angelockt, gleitet durchs Wasser auf sie zu und erhascht doch vorerst nur einen kurzen Blick auf die schöne Nymphe. Jeans eigenes Element ist nicht das Wasser, sondern die Luft. Die Liebesgeschichte, die sich fortan in den Film schleicht, bleibt vorerst eine des gegenseitigen Verfehlens.



Die Kunst der Tochter ist anders als die Kunst des Vaters. Raphaël orientiert die seine an der Vergangenheit: die Galionsfigur ist der Zeichnung einer Frau nachempfunden, die wiederum seine verstorbene Gattin darstellt. Auch sein Ziehharmonikaspiel ist der wehmütigen Erinnerung verpflichtet. Juliettes Lieder hingegen sind in eine offene Zukunft, ins noch Unbekannte hinein entworfen. Eben deshalb löst sich der Film, sobald Juliettes Melodien anheben, vom realistisch-naturalistischen Idiom, erweitert sich ins Märchen- und Parabel-, gelegentlich fast ins Retro-Science-Fictionhafte.

Die Hand des Vaters greift zurück, die Stimme der Tochter schallt nach vorn. Dass sich in dieser Differenz nicht bloß psychologische beziehungsweise biografische Kontingenz artikuliert, sondern eine genuin geschichtliche und damit kollektive Entwicklungstendenz, ist die größte Leistung dieses Films. Der sich, das sei hinzugefügt, im Kleinen nicht immer ganz rund anfühlt. "Die Purpursegel" ist die lose Adaption eines Romans Alexander Grins, dessen romantischer Überschwang von Marcello merklich gezügelt wird. Es herrscht bisweilen ein Mißverhältnis zwischen den wagemutigen Manövern der Narration und den weitaus behäbigeren, in Handkamera-Intimismus und einer gewissen Humorlosigkeit eingehegten Figurenzeichnungen. Raphaël insbesondere ist, aller eindrücklichen körperlichen Präsenz zum Trotz, eine arg simpel konstruierte Gestalt, ländlich-urwüchsige Maskulinität als Salz-der-Erde-Projektion eines Stadtmenschen. (Ich weiß nicht, wo Marcello aufgewachsen ist; aber verglichen mit dem Personal seines Films sind alle modernen Europäer Stadtmenschen). Die tröstliche Gemeinschaft der Frauen wiederum, die Raphaël und Juliette schützend umschließt, scheint etwas zu deutlich entlang aktueller antipatriarchaler Befindlichkeiten konstruiert.

Ganz anders funktioniert, zum Glück, Juliettes eigene Geschichte und damit der wahre Kern des Films. Kein bisschen fügt sie sich in ein psychologisch und dramaturgisch vorgeprägtes Coming of Age. Anstatt seine Protagonistin in eine gegebene Form hineinzuwachsen zu lassen, entwirft der Film, in der Musik und auch im utopischen Versprechen der Liebe, die Ahnung eines anderen, neuen Seins, das im Hier und Jetzt noch nicht ganz Bild werden kann. Die Purpursegel des Titels künden nicht nur von einer (sowieso stets nur vorläufig) geglückten individuellen Emanzipation; sondern von der Möglichkeit einer besseren Welt. Einer Welt, die der Immanenz und Permanenz des Leids ein Ende setzen könnte. Oder zumindest einer Welt, die nicht dazu verdammt ist, wieder und wieder, Generation für Generation, dieselben Traumata zu reproduzieren.

Lukas Foerster

Die Purpursegel - Frankreich, Italien, Deutschland 2022 - Regie: Pietro Marcello - OT: L'envol - Darsteller: Raphaël Thierry, Juliette Jouan, Noémie Lvovsky, Louis Garrel, Yolande Moreau - Laufzeit: 100 Minuten.