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Sinnstiftende Manipulationen

Über Bilder, Bände und Sites. Von Peter Truschner
26.05.2018. Man kann in der Londoner Retro Andreas Gurskys und dem zugehörigen Katalog dabei zusehen, wie es ist, wenn eine sorgfältig ausgearbeitete Methode nicht zufällig am Höhepunkt ihres Erfolgs allmählich in einen gewinnträchtigen Leerlauf verfällt.
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Zwei Jahre war die Hayward Gallery im Londoner Southbank Center geschlossen. Anlässlich ihrer Wiedereröffnung Ende Jänner 2018 hat sich ihr Leiter Ralph Rugoff vorgenommen, es mit einer Retrospektive von Andreas Gursky ordentlich krachen zu lassen. Zeitgleich erschien im Steidl Verlag das sorgfältig gestaltete Buch zur Ausstellung.

In der Art und Weise, wie die Betrachter_innen vor Gurkys monumentalen Bildern andächtig verharren, sich dann näher zu ihnen hin und wieder von ihnen weg bewegen, antizipieren sie mit ihren Körpern und Blicken entscheidende Aspekte jener Bilder: ihre Ehrfurcht gebietenden Ausmaße (mit einer Länge von bis zu fünf Metern); ihr tiefenscharfer Detailreichtum; der Blick auf das große Ganze als eine kompakte, zur Uniformität neigende Choreografie seiner Einzelteile.

Den Mienen und Gesten ist das Erstaunen über das Offenkundige und vermeintlich Unspektakuläre anzusehen - ein Plattenbau (Paris, Montparnasse, 1993), eine Viehweide (Greeley, 2002), ein Flughafen (Frankfurt, 2007). Ein andere Wirkung ist, dass die Bilder nach einem ersten Moment der Verblüffung weniger zu einem vertiefenden Nachdenken oder einer kritischen Bestandsaufnahme des Gesehenen zu führen scheinen, als vielmehr zu dem Gefühl, etwas mit den Augen erlebt zu haben oder Zeuge von etwas geworden zu sein. Dieser Umstand ist - nicht anders als bei Jeff Koons' monumentalen Trash-Skulpturen - mit entscheidend dafür, dass die Bilder nicht nur zu einem großen Erfolg bei der Kritik, sondern auch beim Publikum wurden - und der Handel mit ihnen zu einem großen Geschäft.

Bereits in frühen Arbeiten, von Klausenpass (1984) bis Ruhrtal (1989), ist offensichtlich, dass Gursky sich für den Raum als Rahmen interessiert, in dem der Mensch sich von Beginn an vorfindet. Der Raum ist nach Einstein "alleiniger Träger der Realität", weil alle anderen Größen wie Zeit oder Masse nur Bestimmungsmomente des Raums sind, der "daher nie leer sein kann". Heidegger übersetzt das ins Existenzielle: "Der Raum ist weder im Subjekt, noch ist die Welt im Raum. (...) Der Raum zeigt sich als Apriori. (...) Die Räumlichkeit des Daseins wird daher auch nicht bestimmt durch die Angabe der Stelle, an der ein Körperding vorhanden ist." "Körperding" ist auch im Zusammenhang mit Gursky ein adäquater Begriff, da es ihm nicht um Individuen geht, sondern um Kollektive. "Ich habe mich nie für Leute interessiert," sagt er in einem Gespräch mit Jeff Wall, das im Buch abgedruckt ist,  "sondern ausschließlich für die menschliche Spezies und ihren Lebensraum."



Besucherin vor Gurskys Rhein I. Foto: anonym.

In den Neunzigern gelingen Gursky in der Vertiefung seines Ansatzes - Raum und Räumlichkeit als Apriori; der Rahmen ist genauso wichtig, wenn nicht wichtiger als der Inhalt; der Mensch als Spezies, nicht als Individuum - seine prägnantesten und bedeutendsten Arbeiten: Von Paris, Montparnasse (1993) über Rhein I (1996) bis Prada II (1997). Auch das Motiv der global entfesselten ökonomischen Produktivkräfte und ihrer Räume ist bereits vorhanden, etwa Tokio, Börse (1990) oder Karlsruhe, Siemens (1991). Rhein I und Paris, Montparnasse stellen sinnstiftende Manipulationen des Dargestellten dar: In Rhein I wird der Hintergrund (eine Fabrik) wegretuschiert; bei Paris, Montparnasse wird der bis hinter die Fensterfront der einzelnen Wohnzellen ausgedehnte, tiefenscharfe Panorama-Blick durch eine Collage aus Einzelaufnahmen von verschiedenen Standpunkten aus hergestellt. Der Fluss und der Wohnblock werden nicht als gekrümmter, sondern als von menschlichem Formwillen begradigter Raum präsentiert, eine Begradigung, in der sich nichts weniger als eine Conditio Humana ausdrückt. "Die menschliche Tatsache par excellence", schreibt André Leroi-Gourhan, "ist die Schöpfung einer menschlichen Zeit und eines menschlichen Raums. (...).Diese symbolische Inbesitznahme führt auch zum Übergang von der natürlichen Rhythmik der Jahreszeiten, der Tage und der zu Fuß zu bewältigenden Distanzen zu einer neuen Rhythmik, deren Regelmäßigkeit durch das symbolische Netz des Kalenders, der Uhr und der Längenmaße bestimmt wird."

Nach der Jahrtausendwende vollzieht sich Gurskys großer Sprung in den Kapitalismus, dessen abgefeierter Chronist er wird, und dessen Forderung nach Spektakel und Sexyness (der Farben, der Kontraste, der Formate, der ereignishaften Inszenierung des Kunstwerks, der finanziellen Verwertbarkeit) er auf seine Weise ebenso entgegenkommt wie Koons, Eliasson oder Hirst. Wie Koons, der aus einem arbeitsamen und geschäftstüchtigen Umfeld kommt, tut sich Gursky leicht mit diesen Anforderungen. Im Werbestudio seiner Eltern hat er die Parameter des Handwerks und des Geschäfts von der Pieke auf gelernt. "Die ästhetischen Standards der Werbefotografie haben sich meiner Art zu sehen eingebrannt", bekennt er dementsprechend im Gespräch mit Wall.

Auch wenn die Nullerjahre auf den ersten Blick überaus spektakuläre Fotos hervorbringen - wie die massenhafte Fertigung von Rattanmöbeln in Nha Trang (2004) oder eine Rennstrecke der Formel 1 in der Wüste in Bahrain I (2005): Man kann sowohl in der Galerie, erst recht jedoch im Buch, wo das durch intensive Softwarebearbeitung Hochgepushte unweigerlich zurechtgestutzt wird, dabei zusehen, wie es ist, wenn eine sorgfältig ausgearbeitete Methode nicht zufällig am Höhepunkt ihres Erfolgs allmählich in einen gewinnträchtigen Leerlauf verfällt. Gursky ist nicht der einzige, dem das passiert ist, und er wird nicht der letzte sein. Das entsprechende Bild jener Jahre wäre wohl - im Anschluss an die leeren Regale von Prada II - ein großformatiges Foto der weißen, leeren Galerie von Larry Gagosian mit dem Titel "Gursky".

Ab Mitte der 2000er Jahre tritt Gursky künstlerisch auf der Stelle. Manche bis heute visuell immer noch imposante Aufnahme wie Amazon (2016) kann den Eindruck nicht verdecken, dass Gursky mit seinem Ansatz an ein Ende gekommen ist. Das mag zugespitzt oder gar hart klingen - aber wie soll man es sich sonst erklären, dass er im Zeitalter von Google Earth und immer präziserer Satellitenaufnahmen in Helikopter steigt und eine Viehweide - Greeley (2006) - oder eine Bergetappe der Tour de France (2007) abfotografiert, mittels Software aufwändig rekonstruiert und überlebensgroß aufbläst, als handele es sich um eine Fotoserie für "Red Bull Highlights"? Was soll das?

Verschiedene deutende, oder besser: legitimierende Thesen fluten das austrocknende Terrain, verorten Gurskys Arbeit zum Beispiel in der Tradition der "All-over-Paintings" von Jackson Pollock. Aus der Tatsache, dass dort jedes Detail gleich wichtig ist wie das andere, schließen manche etwa angesichts von Bildern wie May Day IV (2000), auf dem jede der unzähligen Personen den gleichen Fokus und die gleiche Schärfe abbekommt, die Bilder wären substanziell "demokratisch".  Gursky springt gerne auf diesen Zug auf und behauptet: "Was ich erschaffe, ist eine Welt ohne Hierarchie." Und das bei einem Mann, der sich in künstlerischer Hinsicht nicht für Leute interessiert, sondern nur für die Spezies.

Wie Gursky sein Alterswerk gestaltet, ob er noch einmal etwas von Relevanz hervorbringt oder ob er es wie etwa Georg Baselitz dabei belässt, zur Freude der Sammler bereits Erreichtes zu verwalten und minimal zu variieren, wird man sehen. Obwohl erfahrungsgemäß eher mit dem zweiten Fall zu rechnen ist, würde man ihm als Künstler wünschen, dass der erste eintritt.

Andreas Gursky. 168 Seiten, 29.5 x 26 cm, mit zahlreichen farbigen Abbildungen, Text Englisch. Steidl Verlag, Göttingen 2018. 50 Euro. (Bestellen bei buecher.de)