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Alphabetographie

Über Bilder, Bände und Sites Von Thierry Chervel
30.05.2018. Aktualisierung: Susan Meiselas bekommt den Deutsche-Börse-Fotopreis 2019. Auch wenn viele ihrer Fotos Reportagefotos gleichen, ist Susan Meiselas keine Reportagefotografin. Ihre Kritik an dem Genre ist, dass es Opfer notgedrungen als Opfer zeigt und zu einem Blick  führt, der den Opferstatus mit diesen Menschen unauslöschlich assoziiert. Sie arbeitet über und gegen das Verschwinden. Susan Meiselas' Arbeiten sowie die der anderen Finalisten Laia Abril, Arwed Messmer und Mark Ruwedel sind noch bis 2. Juni in der Photographers' Gallery in London zu sehen. Anschließend wird die Ausstellung vom 14. Juni bis 23. August 2019 in der Unternehmenszentrale der Deutschen Börse, The Cube, in Eschborn/Frankfurt gezeigt.
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Susan Meiselas ist eine Fotografin, die schreibt. Dem Satz, dass ein Foto mehr sage als tausend Wörter, würde sie niemals zustimmen. Ihre Bilder stehen stets im Kontext - und die zweite Silbe dieses Wortes ist sehr ernst zu nehmen.

Ein Fotobuch wie "On the Frontline" habe ich noch nie gelesen. Versteht sich, dass das hier das richtige Wort ist. Eine Fotografin erzählt hier ihr fotografisches Leben. Es ist Text mit Bildern, die zum Teil glorios und berühmt sind und hier noch mal thematisiert werden. Der Text ist so unprätenziös wie die Bilder selbst. Durch die Kontextualisierung ist sie stets auch eine Fotografin des zweiten Blicks - mindestens!

Ihre Texte sind von eherner Einfachheit. Und dann und dann. Und dann blitzen diese Sätze von bestürzender Tiefsinnigkeit heraus wie "I was drawn to history, not to news." Darum tendiert ihre Fotografie auch ganz natürlich zum Buch, dem Medium, in dem man Geschichte erzählt.

Bekannt wurde sie mit den "Carnival Strippers", einem Buch, das man für eine Fotoreportage halten könnte und sicher bis zu einem gewissen Grad auch eine ist. Aber Meiselas hat nie Bücher gemacht, in denen sie ihre Objekte nicht als Subjekte begriff. Die Stripperinnen eines elenden kleinen Clubs in New England, Pennsylvania, haben sie als Fotografin nicht nur aufgenommen. Sie haben aktiv mitgearbeitet. Meiselas hat die Stripperinnen interviewt. Sie lässt die von ihr Fotografierten in vielen Projekten selbst Texte schreiben. Über die Stripperinnen wollte sie auch einen Film machen, für den sie dann nicht mehr die Mittel fand.

Ihr neuestes Fotobuch, "A Room of Their Own", hat sie im Auftrag des faszinierenden Kulturprojekts Multistory im Black Country gemacht: Multistory ruft Künstler auf, mit den Leuten ihres benachteiligten Landstrichs in der Brexit-Region zusammen Projekte zu erarbeiten. Meiselas wählte ein Frauenhausprojekt, sie fotografierte die leeren Zimmer der Bewohnerinnen, zeigt die Spuren eines neu beginnenden Lebens. Die Frauen schreiben ihre Geschichten auf, fragmentarisch, nicht immer konzise. Von Zwangsheiraten ist die Rede, von üblicher männlicher Gewalt, aber vor allem zeigt dieses Buchs die Rückeroberung einer Autonomie. Großenteils konnten die Frauen natürlich zu ihrem eigenen Schutz nicht gezeigt werden. Zu den Spuren in dem Frauenhaus gehören auch die Videoanlagen und die schriftlichen Sicherheitsanweisungen an den Wänden - nie die Kinder allein lassen! Immer droht die Gefahr, dass die Familien und die Männer das Haus finden.

Am Schluss des Buchs aber zeigen sich einige Frauen, denn einige von ihnen bleiben als Mentorinnen und finden so eine neue Rolle für sich.

Schon die Carnival Strippers, die sie in ihrer ganzen ramponierten Pracht zeigt, waren für Meiselas alles andere als Opfer. Kristen Lubben erzählt im Katalog zur großen Meiselas-Retrospektive, die in Paris lief, dass Meiselas die Fotos der Stripperinnen im Jahr 1977 dem feministischen Magazin Ms. anbot. Aber das Magazin lehnte ab, möglicherweise, weil die Bilder überhaupt kein politisches Statment abgeben, vermutet Lubben. Meiselas äußerte sich dagegen in ihrer charakteristischen Glasklarheit: "Ich fühlte mich den Frauen, die davon durchdrungen waren, dass sie ihre Leben selbst bestimmten, tief verbunden." Sie weigerte sich, ein Klischee abzuliefern.

Man könnte Meiselas eine immersive Fotografin nennen. Ihr frühes Selbstporträt, eine Doppelbelichtung, die sie transparent macht, ist programmatisch: Bei den Carnival Strippers ist sie so präsent, dass sie verschwindet. Es ist auch eine Sache des Vertrauens: Die Stripperinnen selbst haben erlaubt, dass Meiselas zum Teil der Szenerie wird. Das Verschwinden, ein Verschmelzen mit der Sache, ist Prinzip ihres Arbeitens - bis dahin, dass sie Fotobücher machte, in denen so gut wie kein Foto von ihr selbst war.

Susan Meiselas, Self-portrait, 44 Irving Street, Cambridge, Massachusetts, 1971; from Susan Meiselas: On the Frontline
(Aperture, 2017) © 2017 Susan Meiselas.



Auch aus Angst, in eine Schublade gesteckt zu werden - die "feministische Fotografin" - begibt sich Meiselas nach der Arbeit mit den Stripperinnen in die totale Fremde: Sie wusste nichts über Nicaragua und hat die Lage erkundet, indem sie fotografierte. Ziemlich tollkühn. Ihre Fotos sind zum Teil krasser als es heute noch in Medien gezeigt würde. Sie muss sich gefühlt haben wie Fabrizio in Stendhals "Kartause" auf dem Schlachtfeld von Waterloo. Sie beschreibt die Erfahrung der Fremde in ihrem Buch und lässt bei dieser Gelegenheit wieder einige ihrer tiefgründigen Sätze fallen. Ihr sei die "Unangemessenheit" der Fotografie stets bewusst gewesen.

Und damit meint sie auch eine häufige Lüge der Reportagefotografie, die meist zu spät kommt und stets behauptet, das Ereignis selbst zu zeigen. Und die frustrierendste Erfahrung, die bestimmt jeder Reportagefotograf schon gemacht hat: "Ich weiß, dass etwas passiert, aber ich kann es nicht sehen." Oder auch: "Die Spannung ist spürbar, aber schwer zu fotografieren". Der Schrecken, der von einem Militärfahrzeug auf Patrouille ausgeht, lässt sich nicht wiederherstellen, indem man es abbildet.

In ihrem ganzen Werk setzt sich Meiselas mit diesem Spalt zwischen ihrer Wahrnehmung und dem Bild auseinander. Da ein einzelnes Bild diesen Spalt zwischen dem, was ist, und dem, was gezeigt werden kann, nicht auflösen kann, können nur Bücher diese Erfahrung für sie zu einem vorläufigen Resümee bringen.

Ihr Buch "Nicaragua" erzählt die Geschichte des sandinistischen Aufstands in etwa siebzig Bildern, bis hin zur Siegesfeier, die die scheinbare Apotheose bildet. Das Buch, heute ein antiquarische Kostbarkeit, aber in Wiederauflage erhältlich, lässt zunächst die Bilder sprechen. Hier ist nicht viel Text. So gesehen ist es eigentlich ihr konventionellstes Werk. Was es zeigt, sind verschiedene Arten des Verhältnisses zwischen der Fotografin und ihren Objekten. Sie werden auch hier ganz von selbst zum Subjekt, etwa in dem berühmten Foto von drei Sandinisten in indianischen Masken, die zu Steinen greifen - es kam auf ihren eigenen Wunsch zustande. Die Fotografin hatte gezögert, denn das Foto ist auch Dokument einer Kooperation zwischen Fotografin und Fotografierten, ja, einer Identifikation, die über Reportagefotografie hinausgeht.

Ein anderes "ikonisches" Bild des Bandes zeigt einen Sandinista, der in einer Hand ein Maschinenpiostole hält und mit der anderen ausholt, um ein Molotow-Cocktail zu werfen. Diesen "Molotov Man" machte sich die sandinistische Bewegung als eine Art Markenzeichen zu eigen. Auch dieses Bild diffundiert wie von selbst mit der Sache der Sandinisten. Es wurde als Silhouette an Hausmauern gepinselt und von den Schergen des Rimes geschwärzt. Das Bild des Katalogeinbands zeigt eine solche Hauswand, auf der sich - nur bei genauem Hinsehen - die Silhouette noch durch die Übermalung des Regimes durchsetzt.

Susan Meiselas, Sandinistas at the walls of the National Guard headquarters: "Molotov Man," Estelí, Nicaragua, July 16, 1979;  Meiselas: On the Frontline (Aperture, 2017) © 2017 Susan Meiselas


Die Ausstellung heißt auch deshalb "Mediations", weil sie zeigt, wie Meiselas sich selbst mit ihren Bildern auseinandersetzt. Sie nimmt ein Ausstellungsprojekt Meiselas', das sie schon einige Jahre nach dem Aufstand entwickelte, wieder auf: In drei Reihen übereinander werden die Fotos in drei Stadien gezeigt - aus Kontaktbögen oder als Negative - also im vorläufigen Stadium der ästhetischen Auswahl -, als abgezogene Fotos, manchmal gerahmt, also als Kunstwerk oder auch Ware, und im veröffentlichten Zustand, also zumeist in Zeitschriften. Hier legt Meselas auch das Moment des Zufalls in der Fotografie offen. Der Kontakbogen des "Molotow-Manns" zeigt, dass sie auch andere Momente aus der Phase des Wurfs hätte auswählen können. Jahre später ist sie noch einmal nach Nicaragua gefahren und hat ihre berühmten Fotos als Plakate an genau jenen Orten aufgestellt, an denen sie sie aufgenommen hatte. Diese Plakattafeln fotografierte sie dann ebenfalls in ihrer Szenerie: Auch ein Buch wie "Nicaragua" ist für sie also nur ein vorläufiger Abschluss des Kontextualisierungsprozesses.

Egentlich aber, schreibt Eduardo Cadava in einem großartigen Essay des "Mediations"-Katalogs, ist "Nicaragua" nur der Kontext eines einzigen Bildes das in schockierender Beiläufigkeit dieses Diffundieren und Verschwinden zeigt, das Meiselas' größte Obsession und vielleicht auch Angst ist. Sie, die sich selbst sozusagen auflöst wie in ihrem programmatischen Selbstporträt, um sich mit ihren Gegenständen zu verbinden, ist zugleich besessen von Bildern des Verschwindens.

Dieses Foto präsentiert sich dem Betrachter zunächst als wohlkomponiertes Panorama mit grünen Hügeln, einem See, einer bekränzenden weiteren Hügelkette im Hintergrund. Eine harmonische, konventionelle Vedute, an der allerdings an der oberen Bildkante ein sehr dunker, abgeschnittener Wolkenstreifen auffällt, der wie ein Trauerrand wirkt. Erst dann fällt der Blick auf den angefressenen Torso eines Mannes, von dem nur die die durch Verwesung aufgedunsenen Beine in der Hose und die säuberlich abgenagte Wirbelsäule bleiben. Ein grotesker, darum um so grauenvollerer Anblick. Der Körper liegt da mit ebenjener Beiläufigkeit, die auch vom Regime intendiert war, die diesen Platz als einen Ablageplatz für die Leichen ihrer Opfer nutzte. Die Körper lagen da gut sichtbar - seht da, so wird es euch ergehen - und zugleich ist der Verwesungsprozess ebenfalls ein Prozess des Verschmelzens mit der Landschaft, eine Anonymisierung, die die größte Demütigung war, die das Regime den Opfern und ihren Angehörigen zufügen konnte. Das anonyme Verschwinden des Opferkörpers ist in allen Verbrechen gegen die Menschlichkeit der ultimative Terror der Täter. Es sagt den Menschen, dass es keinen Sinn hat, sich aufzulehnen, dass die Revolte in der Spurlosigkeit enden wird.

In diesem Bild, das in "On the Frontline" übrigens ebenfalls fast beiläufig in relativ kleinem Format gezeigt wird, ist alles gebannt, was Meiselas ausmacht. Übrigens hat sie es seinerzeit nicht in Magazinen publiziert - es wurde erst in dem Buch "Nicaragua" zum ersten Mal gezeigt.

Cardoso schreibt in seinem Katalogessay, den er als Brief an "Dearest Susan" verfasst: "Wenn diese Reproduktion eines leblosen Torsos sprechen soll, wenn er Zeugnis ablegen soll von den Gräueln, die ihm widerfuhren und die auf den Kontext verweisen, der zu seiner Zerstörung führte, wenn wir 'alles, was er darstellt' verstehen sollen, müssen wir die in ihm versiegelte Geschichte rekonstruieren - und sie ist in dem Bild unsichtbar. Darum erklärte Walter Benjamin in seiner 'Kleinen Geschichte der Photographie", dass hier 'die Beschriftung einzusetzen hat…, ohne die alle photographische Konstruktion im Ungefähren stecken bleiben muss'." Die Beschriftung lautete in diesem Fall: "Cuesta del Plomo, ein Hügel außerhalb Managuas, ein bekannter Ort vieler von der Nationalgarde verübter Morde. Die Leute suchte hier jeden Tag nach vermissten Personen, Managua, Nicaragua, 1978." Heute ist dieser Ort, auch und vor allem wegen dieses Fotos, ein Gedenkort.



Cardoso bringt das Foto in Zusammenhang mit der "Alphabetographie", einer Idee, die Meiselas für ihr sehr frühes Buch "Learn to See" entwickelte (siehe Cover und Ausriss). Zu dieser Zeit arbeitete sie mit Kindern, denen sie das fotografische Sehen beibringen wollte. Eines der Projekte: Dinge fotografieren, deren Form an einen Buchstaben erinnert . Die seitliche ansicht einer Schaukel ist ein "A", ein Strommast ist ein "T".

Wieder verschmilzt hier das eine im anderen: Schon im Wort "Alphabetographie" verbinden sich die Ideen des Textes und des Bilds. "In der Tat wurde das Alphabet ja immer zunächst visuell dargestellt", schreibt Cardoso, "ganz einfach, weil Lesenlernen zunächst Sehenlernen heißt." Und dann, nochmal mit Blick auf "Cuesta des Plomo": "Dass wir in dem halb aufgefressenen Torso ein 'Y' sehen können, ist vielleicht weniger wichtig, als der Fakt, dass der Anblick dieses 'Y' uns sofort auf die Sprache zurückführt, die notwendig ist, um die Gewalt des Verschwindens vor und während der Nicaraguanischen Revolution zu verstehen."

Meiselas radikalisierte ihre Idee noch in ihrem kurdischen Projekt einige Jahre später. Wieder ist es aus dem Schmerz geboren, dass Fotografie zu spät kommt. Das Verbrechen hatte längst stattgefunden. Ganze kurdische Dörfer hatte Saddam Hussein verschwinden lassen. Und er hatte Massenvernichtungswaffen eingesetzt. Meiselas konnte nur noch leere Stätten fotogtrafieren, und erst die Bildunterschriften sagten, dass hier einmal etwas gewesen war. Aber in ihrem Buch "Kurdistan - In the Shadow of History" sind nur zwölf Bilder von ihr selbst. Einige zeigen, wie nach Überresten gegraben wurde und einige der gefundenen Kleidungsfetzen auf die Massengräber gelegt wurden, in der Hoffnung, dass Angehörige die Opfer so identifizieren können.

Sie grub weiter: in Archiven. Ihr Buch wurde dick wie ein großer Ausstellungskatalog. Sie grub nach ethnografischen Fotografien des 19. Jahrhunderts, die das Leben der Kurden zeigten, nach Fotografien, die die Kurden von sich selbst gemacht hatten und die zeigten, wie sie existierten, heirateten, Feste feierten. Eine Kritik, die Meiselas an Reportagefotografie hat, ist, dass sie Opfer notgedrungen als Opfer zeigt und zu einer Wahrnehmung führt, die den Opferstatus mit diesen Menschen gewissermaßen unauslöschlich assoziiert. Sie sagt zwar von sich selbst, dass sie vom Verschwinden angezogen sei. Aber was sie hier tut, ist Restitution. Sie zeigt das Leben dieser Leute, nicht ihren Tod. Und so gesehen verschwindet Meiselas in ihrem Selbstporträt vielleicht auch nicht, sondern erscheint.

Thierry Chervel

Die Meiselas-Ausstellung im Pariser Jeu de Paume ist leider abgelaufen. Sie wird ab 21. Juli im Moma San Francisco gezeigt. Meiselas wird am Samstag beim Kasseler Fotobook-Festival auftreten.

Susan Meiselas: On the Frontline. Photographs and text by Susan Meiselas. Edited with Mark Holborn. 256 Seiten, gebunden in Leinen, 21 x 17 cm. Aperture, New York, 2017.  ISBN 9781597114271 ( bei buecher.de)



Susan Meiselas: Mediations. Foreword by Carles Guerra, Marta Gili. Text by Ariella Azoulay, Eduardo Cadava, Carles Guerra, Marianne Hirsch, Kristen Lubben, Isin Onol, Pia Viewing. English edition. 24 x 18 cm. ISBN 9788862085694 . 30 Euro. (Bestellen bei buecher.de)



Susan Meiselas: A Room of Their Own. Gebunden, 204 Seiten. Edition Multistory. ISBN
9780995506206. 37 Euro. (Bestellen bei Multistory)
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