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Überblick über Dies und Das

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
29.06.2023. Daido Mariyama im c/o Berlin, Trevor Paglen im Neuen Berliner Kunstverein, Ralph Gibson in den Deichtorhallen, Lee Miller im Bucerius Kunstforum Hamburg, Inge Morath im Salzburger Fotohof: Der Sommer bietet eine Fülle sehenswerter Ausstellungen - ein kleiner Überblick. Außerdem: Der Deutsche Fotobuchpreis hat sich neu aufgestellt.
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Spätestens nach der Eröffnung des Fotofestivals in Arles Anfang Juli, das sowohl einen Abschluss der Frühjahrssaison des Fotobetriebs als auch ein Vorspiel auf den Urlaub darstellt, ist -  von Veranstaltungen für kulturbewegte Touristen und Daheimgebliebene abgesehen - erst mal Sommerpause angesagt.

Ein untrügliches Zeichen dafür ist, dass immer weniger Einladungen und Veranstaltungshinweise in meinem Perlentaucher-Postfach eintrudeln. Das ist auch gut so, weil ich selbst auch nicht mehr so richtig bei der Sache bin.

Nach einer intensiven Arbeitsphase in April und Mai war ich zuerst auf einem niederösterreichischen Alpenausläufer wandern, danach in der Uckermärkischen Pampa an einem der vielen Seen. Beides hat  - beflankt von kulinarischen Genüssen wie französischem Gris und gegrilltem Fisch - eine absolute Arbeitsunwilligkeit bei mir bewirkt, der ich nur deshalb nicht nachgebe, weil ich sie mir nicht leisten kann.

Stattdessen gibt es nun wie immer um diese Zeit einen kleinen Überblick über Dies und Das, das anzuschauen sich noch vorm Urlaub oder auch im Zuge dessen lohnt.

Da wäre die Darido Moriyama Retrospektive bei C/O Berlin.

Drei Jahre soll die Vorbereitung dafür gedauert haben, was vielleicht daran lag, dass Moriyama nicht nur ein bedeutender Fotograf, sondern auch ein exzessiver Knipser war, der alles mehrfach abgeschossen hat, gleichgültig, ob es bei drei auf den Bäumen war oder nicht.

Ein Freund, der ihn in den siebziger Jahren in New York bei seinen Streifzügen begleitet hat, meinte später, Moriyama sei ihm vorgekommen "wie ein Hund, der überall seine Duftmarke setzen muss".

© Daido Moriyama, C/O Berlin
 
Diese Knipserei erfolgt bei Moriyama jedoch nicht aus Leichtfertigkeit oder Gewohnheit, sondern aus Rigorosität. Abgesehen von einer Serie Anfang der neunziger Jahre, in der er sich (leidlich) an der Ästhetik der Frühzeit der Fotografie von Niepce bis Atget versucht hat, spielt das Einzelbild keine entscheidende Rolle, sondern nur der Strom der Bilder, dem er mit der Kamera Augenblicke entreißt - Emanationen der Vergänglichkeit, die zugleich Emanationen der Wiederkehr des Immergleichen sind.

Moriyama hat viel experimentiert, mit unterschiedlichen Kameras, Linsen, unterschiedlichem Papier, unterschiedlichen Publikationsformaten, mit Unschärfe, grober Körnigkeit, großem Kontrast und auch Farbe. Aber anders als Masahisa Fukase, der darin soweit ging, dass einzelne Serien auf den ersten Blick wie von verschiedenen Künstlern wirken, hat sich Moriyamas grundlegende Ästhetik kaum verändert.

Wie bei Barockmusik, deren Fundament ein Generalbass ist, folgt seine Fotografie seiner aktiven, physischen Bewegung auf das Motiv zu, das er deshalb nicht wirklich suchen muss und auf das er stößt, indem er die moderne Figur des urbanen Flaneurs, wie sie Benjamin für Kunst und Philosophie fruchtbar gemacht hat, in eine Nachkriegswelt übersetzt, die vom Verlust des ländlichen Lebens und damit verbundener Traditionen ebenso geprägt ist wie von US-amerikanischen Kulturimperialismus, Konsum und einer intensiven Beschäftigung mit marxistisch-kommunistischen Gesellschaftsentwürfen unter linken Intellektuellen.

Es ist kein Zufall, dass Moriyamas Serie "Hunter", für die er in den siebziger Jahren durch Japan reiste, von Jack Kerouacs "On the Road" inspiriert ist. Kerouac hat den klassischen Stream of Consciousness von James Joyce vom Kopf auf die Füße gestellt und so gut wie alles, was mit klassischer Bildung und stupendem (Vor-)Wissen zu tun hat, aus seinem Stil entfernt, der eine unprätenziöse Anschauung all dessen bietet, was Kerouac gerade vor die Augen und in den Sinn kommt - nicht anders als bei Moriyamas rastloser Fotobewegung, die keinen Unterschied zwischen high oder low, bedeutend oder unbedeutend kennt.

Es ist C/O Berlin (Kuratorin: Sophia Greiff) in der Gestaltung der Ausstellungsräume eindrücklich gelungen, diese Bewegung nachzuzeichnen und - von einem eher belanglosen, farbigen Ausflug ins Jahr 2017 abgesehen - auf das Wesentliche zwischen 1960 und 1990 zu beschränken. Uneingeschränkt sehenswert.

Der Neue Berliner Kunstverein n. b. k. hat einen kleinen Coup gelandet und präsentiert aktuelle Arbeiten von Trevor Paglen, der sich in seiner Arbeit interdisziplinär mit staatlicher Überwachung, militärischen Operationen, geheimdienstlichen Praktiken und der gezielten Produktion von Fake News beschäftigt, und dem es dabei immer wieder gelingt, diesem komplexen und  schwer darzustellenden Themenkreis äußerst interessante Bilder abzugewinnen.
Wer in Berlin abseits von Ostalgie und Ostkreuz ein international bedeutendes, zwischen Fotografie, Video und Internet oszillierendes Werk  besichtigen möchte - nichts wie hin.

© Trevor Paglen, n. b. k.

Und natürlich gibt's immer noch den American Roadtrip.

Nachdem die Reinbeckhallen in Berlin 2022 Alec Soth gezeigt haben, der diesem Genre nach der Jahrtausendwende mit "Sleeping by the Mississippi" und "Niagara" weitere Klassiker hinzugefügt hat, gibt es ebendort nun Paul Grahams "Shimmer of Possibility" zu sehen - ein Werk, das eine Generation junger FotografInnen ebenso beeinflusst hat wie das von Soth.

Zwischen 2004 und 2006 reiste der britische Fotograf durch die USA. Das Ergebnis war eine größenwahnsinnige Edition von zwölf gebundenen Fotobücher, die von Steidl publiziert und später von Mack übernommen wurde. Wenn junge Fotografinnen wissen wollen, was Leute im selben Alter vor fünfzehn, zwanzig Jahren inspiriert hat - hingehen.

Interessante Ausstellungen gibt es selbstverständlich auch abseits von Berlin.

In den Deichtorhallen Hamburg etwa gibt es eine Retrospektive des Werks von Ralph Gibson, der vor der Jahrhundertwende eine ungemein einflussreiche Figur der sich gerade erst gründenden, internationalen Fotoszene war, und dessen Fotos unter anderem die Qualität haben, dass sie beschwören, was auf dem Foto nicht zu sehen ist, ihm zugrunde liegt oder liegen könnte.

© Ralph Gibson, Deichtorhallen Hamburg

Im Bucerius Kunstforum in Hamburg darf man sich vom seichten Titel der Retrospektive von Lee Miller nicht abschrecken lassen: "Fotografin zwischen Krieg und Glamour". Das ist zwar nicht unwahr - hört sich aber eher nach Brigitte an. (Obwohl: Was im deutschen Kulturbetrieb hört sich 2023 tendenziell nicht nach Brigitte an?)

Ein Wahnsinnsleben, privat wie künstlerisch, in fotografischer Hinsicht changierend zwischen Surrealismus, Mode-, Porträt- und Reisefotografie sowie Kriegsberichterstattung. Das legendäre Foto, das sie in Hitlers Badewanne zeigt, davor die Stiefel, die sie beim Besuch des Konzentrationslagers Dachau getragen hat, sind da nur das bekannteste Detail unter vielen. Eine ungemein vielseitige Fotografin und echte Ikone eines selbstbestimmten Lebens als Frau.

Der Salzburger Fotohof zeigt anlässlich ihres hundertsten Geburtstags die auf Dia-Film aufgenommenen Farbfotografien von Inge Morath. Sie hat von sich gesagt, Farbe schlicht da zu fotografieren, wo sie sie vorfindet, experimentiert also nicht mit ihr wie Ernst Haas, Saul Leiter oder René Groebli. Dennoch als Ergänzung zu ihren ungleich bekannteren Schwarzweiß-Fotos sehenswert, vor allem (wie in meinem Fall) im Rahmen eines Besuchs der Salzburger Festspiele.

Über die wohl bedeutendste Ausstellung des ersten Halbjahrs - die Präsentation der Walther-Collection im Münchner Haus der Kunst - schreibe ich noch mal gesondert Anfang Juli.

Zum Abschluss noch ein Hinweis auf etwas, an dem ich selbst beteiligt bin: 2020 habe ich im "Fotolot" die Vergabe des Deutschen Fotobuchpreises (teils heftig) kritisiert - einer jener Beiträge, die mit am meisten Resonanz hervorgerufen haben. Während der Corona-Zeit ist nun die veranstaltende Stuttgarter Hochschule für Medien abgesprungen, die Preisverleihung einmal ausgefallen.

©  Inge Morath, Fotohof Salzburg

Nun ist der Fotobuchpreis Teil des "Festivals fotografischer Bilder" in Regensburg, das von Martin Rosner und Andy Scholz veranstaltet wird. Scholz zeichnet auch verantwortlich für den Podcast "Fotografie Neu Denken", bei dem VertreterInnen der deutschsprachigen Fotoszene zu Wort kommen (inwieweit Scholz' Gesprächspartner dem Motto des Podcasts gerecht werden, überlasse ich dem Urteil der geneigten HörerInnen).

Man würde meinen, der Deutsche Fotobuchpreis ist ein Selbstläufer - dabei war er zuletzt ein beinah tot gerittenes Pferd, auf das der eine oder andere Verlag gar nicht mehr aufsitzen wollte.  Den Karren aus dem Dreck zu ziehen ist mit viel Arbeit verbunden, in deren Folge sowohl der Umfang an preiswürdigen Kategorien erweitert als auch die Jury neu besetzt und vergrößert wurde. Unter den Namen der elf (!) JurorInnen befindet sich auch der meine. 

Einerseits wollte ich mal einen Überblick haben über die Jahresproduktion an Fotobüchern (bis Mitte Juni gab es über dreihundert Einreichungen, die Einreichfrist endet am 15. Juli), andererseits sehe ich mich auch als Fürsprecher explizit künstlerischer, formal und inhaltlich herausfordernder Ansätze, die bei der Vergabe bisher nicht wirklich im Vordergrund standen.

Ziel der Veranstalter ist auch, einen potenten Sponsor zu finden, damit die bislang unerlässliche Teilnahmegebühr entfallen kann. Ich wünsche den Veranstaltern viel Glück - und den geschätzten LeserInnen von Fotolot einen schönen Sommer.

Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de