Fotolot

Allerseelen der Fotografie

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
31.08.2020. Doch, durchaus, es gibt einige interessante Fotoausstellungen in dieser beginnenden besonderen Herbstsaison: Vor allem Michael Schmidt im Hamburger Bahnhof natürlich. Aber auch einige andere Klassiker werden hier und dort gewürdigt.  Alles in allem teils durchaus interessante, publikumsfreundliche Veranstaltungen ohne ausgeprägte Ecken und Kanten oder gar gröbere Irritationen, die nur unnötig am unter Corona ohnehin fragilen Nervenkostüm der Besucher zerren würden.
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Gerade noch habe ich die schattige Kühle des niederösterreichischen Waldviertels genossen, bin in alten Flussbädern in die kalten Fluten des Kamp getaucht, während in Wien und Berlin Temperaturen bis vierzig Grad den Asphalt zum Glühen gebracht und die Nerven vieler, die wegen Corona zu Hause geblieben waren, blank gefegt hat.

Das Kamptal ist zudem eines der besten Anbaugebiete für Grünen Veltliner, mit großartigen Heurigen in Hanglage, einer davon mit Blick bis zur fernen Donau unweit meines Studios, in dem ich in einem kleinen, vom Fluss und vom Wein umspülten Rausch unter anderem an meinem neuen Buch zum Thema Künstler und Modell geschrieben habe. Ausgangspunkt dafür bildete mein Essay "Die Maske abgenommen" im Fotolot im Mai und die große, überwiegend positive Resonanz darauf.

Zurück in Berlin gilt es zuallererst, nicht trübsinnig zu werden in Gedanken an das gerade Vergangene, und sich einen Überblick zu verschaffen über das unmittelbar Bevorstehende wie den European Month of Photography EMOP im Oktober oder den vorangehenden Auftritt der Photo Basel auf der Berliner Art Week (10. bis 13. September).

Ungeachtet der beiden Ereignisse lässt sich sagen: es hat sich nichts geändert, was angesichts von Corona und der generellen Lage, die ich Anfang des Jahres hier im Fotolot ausführlich beschrieben habe, auch nicht zu erwarten war. Soll heißen: Die vergangenheitslastige Nostalgie- und Retro-Show geht weiter.

© Michael Schmidt, Kunstmuseum Magdeburg

 



























Als ich vor Wochen nach Österreich aufgebrochen bin, war in der Akademie der Künste gerade die überaus gelungene John Heartfield (1891-1968)-Ausstellung "Fotografie plus Dynamit" (mit dem schönen Katalog bei Hirmer) zu Ende gegangen. Im Urlaub endete die Umbo (1902-1980)- Ausstellung in der Berlinischen Galerie (eine umfangreiche Schau gab es 2019 bereits im nicht wirklich weit entfernten Sprengel Museum in Hannover, eine Ergänzung zu der Schau in Berlin bot zeitgleich die Galerie Kicken).

Bei C/O Berlin wurde die Ausstellung über die viel zu früh verstorbene, großartige Francesca Woodman (1958-1981) wiedereröffnet (hier die Besprechung im Fotolot), parallel waren dazu übrigens die konzeptuell durchaus interessanten Arbeiten der jungen Sophie Thun ( geboren 1985) zu sehen, die jedoch in der Konfrontation mit Woodman erwartungsgemäß untergingen.

Fotografien eines anderen viel zu früh Verstorbenen gibt es in der Galerie Dorothée Nilsson: "Aurora" von Sascha Weidner (*1974 †2015), der die Fotografie als ein "Refugium" betrachete, "wo Utopie die Realität inszeniert und Realität die Utopie" (hier der Beitrag von Thierry Chervel zu Weidner im Fotolot).

Vor meiner Abreise ließ mir jemand den bei Spector Books im Frühjahr erschienenen, sehenswerten Katalog zur Retrospektive von Christian Borchert (1942-2000) "Tektonik der Erinnerung" zukommen, die 2019/2020 im Dresdner Kupferstichkabinett zu sehen war. Von Borchert gab es in Hansgert Lambers' ex pose -Verlag dazu zeitgleich die Publikation "Wege ins Land".

Ein ebenso schön und aufwändig gefertigtes Teil gibt es jetzt bei Koenig Books zu Michael Schmidt (1945-2014), dessen Werk man nun im Hamburger Bahnhof in aller Ausführlichkeit und losgelöst von seinem Wirken in der inzwischen legendären Kreuzberger "Werkstatt für Fotografie" in Augenschein nehmen kann (einen Artikel zur Ausstellung über die Werkstatt bei C/O Berlin aus dem Jahr 2016 von Thierry Chervel fürs Fotolot gibt es hier).

Abgerundet wird das ganze durch eine Ausstellung bei argus fotokunst von Roger Melis (1940-2009), der gerade letztes Jahr eine große Retrospektive zum zehnten Todestag hatte.

Im Kunstfoyer der Münchner Versicherungskammer gibt's noch bis 27. September die Retrospektive "Schaut her!" von Toni Schneiders (1920-2006), der u. a. mit Otto Steinert die formal an die zwanziger und dreißiger Jahre anknüpfende Gruppe "fotoform" begründete und an der Entwicklung und Verbreitung der "Subjektiven Fotografie" beteiligt war. Bei Steidl ist ein Katalog erschienen.

Die x-te Ausstellung (samt x-ten Katalog) über Robert Capa (1913-†1954) gibt es im Centrum Judaicum unter dem für Berliner Verhältnisse perfekten Titel: "Berlin, Sommer 1945".  In Erfurt läuft parallel dazu noch bis 18. Oktober die Schau "To believe it" einer anderen berühmten Kriegsfotografin: Lee Miller (1907-1977).

Im Willy-Brandt-Haus geht es ebenfalls um den Krieg: ab September gibt es dort die Ausstellung "Echo des Krieges" mit Bildern aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs.

Neben Fotografien aus der Sammlung von Benita Suchodrev sind zugleich auch Arbeiten von Valery Faminsky (1914-1993) und Dieter Keller (1909-1985) zu sehen, deren Werk der Verlag Buchkunst Berlin einer größeren Öffentlichkeit zugänglich machte. Verständlich, dass ein Berliner Fotobuchverlag der herrschenden Berlin-Nostalgie Tribut zollen muss, weshalb es jetzt die Veröffentlichung "Standing by the Wall / Berlin 1990" mit Bildern aus der Zeit des Mauerfalls von Josef Wolfgang Mayer gibt.

Das Haus der Kulturen der Welt zeigt im Zusammenarbeit mit der Gemäldegalerie den komplexen, thematisch ineinander verwobenen "Bilderatlas Mnemosyne" von Aby Warburg (1866-1929) - ironischer Weise die für die Gegenwartsfotogafie in ästhetischer Hinsicht (Ästhetik im Sinne von philosophischer Disziplin wie bei Hegel oder Dewey) relevanteste Ausstellung .

©René Groebli

 



























Mal was ganz Neues gibt es in der Helmut-Newton-Foundation -  nämlich Fotografien von Helmut Newton (1920-2004), dazu Joel Meyrowitz (1938) und anderen zum bisher ja völlig vernachlässigten Thema "America 1970s/80s". Passend dazu gibt's im Haus der Photographie in Hamburg die Ausstellung "Beautiful America", Straßenfotografie der 1960er bis 1980er Jahren von Jerry Berndt (1943-2013).

Chaussee 36 widmet sich im Oktober einerseits der erotischen Fotografie - darunter alte Bekannte wie Noboyoshi Araki (geboren 1940), Herb Ritts (1952-2002) und Jeanloup Sieff (1933-2000) -, andererseits gibt es eine sehenswerte Ausstellung zum einem breiten Publikum immer noch zu wenig bekannten Werk des Schweizer Farbpioniers René Groebli (1927).

Alles in allem teils durchaus interessante, publikumsfreundliche Veranstaltungen ohne ausgeprägte Ecken und Kanten oder gar gröbere Irritationen, die nur unnötig am unter Corona ohnehin fragilen Nervenkostüm der Besucher zerren würden. Die eine oder andere Ausstellung - vor allem Schmidt oder Groebli - kann dabei auch für Kenner und Kennerinnen den einen oder anderen interessanten neuen Aspekt zutage fördern.

Ein Alien aus einer anderen Galaxie jedoch, das wieder mal auf einen Zeitsprung kurz in Berlin oder überhaupt in Deutschland vorbeischaut, um sich im Jahr 2020 über die Fotografie als gegenwärtige Kunstform zu informieren, müsste sich unverrichteter Dinge wieder auf den Heimweg machen angesichts dieses lokalen Allerseelen der Fotografie. Aber das ist es ja schon gewohnt.

Peter Truschner

truschner.fotolot@perlentaucher.de