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Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
13.08.2019. Sophie Calle hat neue Strategien gefunden, die Fotografie in künstlerische Projekte einzubinden. Der Preis dafür ist manchmal, dass die Fotos zuweilen bloß illustrativ wirken. Zur Retrospektive der Künstlerin im Fotomuseum Winterthur.
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Sophie Calle ist durch Projekte berühmt, kurzfristig regelrecht berüchtigt geworden, die heute wahrscheinlich nicht mehr auf ungeteilte Begeisterung stoßen würden. 1979 begann sie, unbekannten Personen auf der Straße hinterherzuspionieren, was 1980 in der Serie "Suite vénitienne" (mehr hier) mündete: Auf einer Party lernt sie Henri B. kennen, in den sie sich verknallt. Sie beschließt, ihm nach Venedig hinterher zu reisen, ohne genau zu wissen, wo er wohnt. Sie klappert Hotels ab, fragt sogar bei der Polizei nach und bittet, als sie ihn schließlich gefunden hat, eine ihr Unbekannte, von deren Wohnung auf der gegenüberliegenden Straßenseite aus das Zimmer von Henri B. zu fotografieren.

Im selben Jahr trägt sie ihrer Mutter auf, ihr einen Tag lang einen Detektiv hinterherzuschicken, der alle ihre Schritte verfolgt. 1981 schleicht sie sich schließlich für ihr Projekt "L'Hotel" (Video) als falsches Zimmermädchen in die Zimmer der Hotelgäste, durchwühlt deren Koffer, fotografiert deren Inhalt, liest ihre Post, riecht an den Laken und macht sich Notizen, die eine Mischung aus Inventarliste und Selbsterforschung sind.

Binnen kürzester Zeit ist Calle damit zum Star geworden und in aller Munde.

Die achtziger Jahre sind noch dem experimentellen Individualismus nach 1968 verpflichtet, haben jedoch zu Konsum und Mainstream ein unkompliziertes Verhältnis. Der Neoliberalismus, der ab 1989 mit dem Sieg des Kapitalismus über den Sozialismus Einzug halten wird, hat die Individuen noch nicht in karrierefixierte Egos verwandelt, und die Folgen der rasanten Globalisierung für Umwelt und Wirtschaft sind noch kaum zu spüren - alles in allem eine relativ entspannte Dekade.

Die Gesellschaft ist ungleich mehr von der Verwirklichung des privaten Glücks erfüllt als heute, förmlich überzeugt vom Recht auf dieses Glück und die damit verbundene Selbstverwirklichung - eines der Schlagwörter jener Zeit, das nicht zuletzt die Frauen für sich in Anspruch nehmen, die den Prozess der Gleichberechtigung unwiderruflich auf den Weg gebracht haben. Künstlerinnen dienen dabei zur Orientierung. Cindy Sherman lotet in ihren Fotos bissig die Facetten jener Rollen aus, die einzunehmen Frauen historisch zugestanden oder vorgeschrieben wurde. Marina Abramovic hat die Grenzen spektakulär erweitert, innerhalb derer Frauen sich selbst und ihren Körper in der Kunst zum Einsatz bringen können. Agnès Varda hat mit der Herumtreiberin in "Sans toit ni loi" (Vogelfrei, 1985) eines der bis heute radikalsten Bilder einer Frau geschaffen, deren Verhalten allem zuwiderhandelt, das konventionell mit Weiblichkeit in Zusammenhang gebracht wird.

In diesem Klima gedeihen Calles Ideen und Projekte wie in einem Treibhaus und schießen medial bald durch die Decke. Tout Paris  - und kurz darauf auch der Rest von (West-)Europa - ist fasziniert von der jungen Frau. Sie trifft einerseits den Zeitgeist perfekt, bedient anderseits jedoch klassische bourgeoise Phantasmen - lustvoll zelebrierte Indiskretion, Libertinage, Promi-Kult und eine Besessenheit für die (nicht zuletzt sexuelle) Unberechenbarkeit selbstbestimmter Frauen.

Copyright: Sophie Calle.


Einmal als Fundament in den Boden versenkt, hat die Faszination mit dem Wechsel der Zeiten und Moden etwas nachgelassen, ist jedoch nie verschwunden. Die Beiträge zu Calles Leben und Werk sind zahllos und würden ein eigenes Archiv füllen. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Calles Arbeiten keine gediegenen Endprodukte sind, sondern Fragen, die zwar aus einem persönlichen Interesse heraus gestellt werden, deren Beantwortung im Zuge der Arbeit daran jedoch alles andere als abgeschlossen oder allgemein gültig ist, sondern vielmehr Raum bietet für die Fragen der Betrachter*innen. "Selbst wenn ich über mich rede in meiner Arbeit, bin das nicht ich", behauptet Calle dementsprechend konsequent.

In den weitläufigen Räumen des Fotomuseums Winterthur gibt es noch bis zum 25. August "Un Certain Regard" zu sehen, den ersten Teil einer großen Retrospektive anlässlich von Calles fünfundsechzigstem Geburtstag. Der zweite Teil folgt im Herbst in Thun.

Die Ausstellung leidet nicht nur an dieser umständlichen kuratorischen Konstruktion, sondern auch ein wenig daran, dass die präsentierten Werke vor allem der jüngeren Schaffensperiode der Künstlerin entstammen, für die gilt, dass der forsche und riskante Gestus der früheren Arbeiten einem eher ernsten, beinah soziologischen Ansatz gewichen ist.

Die Serie "Que voyez-vous?" (2013) zeigt leere Bilderrahmen, in die Besucher*innen sinnierend starren. Die Inspiration dazu lieferte ein legendärer Kunstdiebstahl in einem Museum in Washington, die Bilder von Rembrandt, Vermeer oder Manet sind bisher nicht wieder aufgetaucht. In "La dernière image" (2010) arbeitete Calle nach "Les Aveugles" (1986) erneut mit Blinden. Sie fragt Menschen, die im Laufe ihres Lebens erblindeten, nach dem letzten Bild, an das sie sich erinnern. An der Wand hängen je ein Porträt der Befragten, ihre Antwort als Text und ein Abbild der Antwort - eine Methode, die zwar zur Meditation über die Lücke zwischen Beschreibung und Beschriebenem taugt, in Fülle jedoch monoton wirkt.

Claire Dorn Sophie Calle ADAGP Paris 2019, Courtesy Perrotin



Ein Problem, das spätestens schon 2007 virulent war, als Calle den französischen Pavillon der Biennale von Venedig gestaltete. Ihr Beitrag "Prenez soin de vous" basierte auf einer Email, mit der ihr damaliger Partner die Trennung vollzog. Calle ließ den Text von 107 Frauen interpretieren, darunter eine Wahrsagerin, eine Richterin und ein weiblicher Papagei. An den Wänden gab es unter anderem die Fotografie der ursprünglichen Mail, Fotos der jeweiligen Frauen, ihrer Bearbeitung der ausgedruckten Mail sowie persönliche Notizen. Ein Projekt, das dem Feuilleton einen wunderbaren Anlass bot, sich an seinen Facetten abzuarbeiten, (Privatheit, neue Medien, Voyeurismus und so weiter), was den Schauwert der Exponate an der Wand jedoch nicht erhöhte.

Calles neuere Arbeiten sind in Wahrheit sehr komplexe Bücher, in denen Text und Bild einander wunderbar ergänzen oder konterkarieren. An den Wänden der repräsentativen Räume, die man einem anerkannten Star wie ihr zur Verfügung stellt - vom Centre Pompidou bis zur französischen Nationalbibliothek -, gehen die Arbeiten unter, wird man ihrer Betrachtung rasch müde.

Calle benutzt die Fotografie eher illustrativ und deskriptiv, viele Fotos sind folgerichtig schlicht banal. Ganz selten gibt es in ihrem Werk wahrhaft ikonische Fotos wie "Le Divorce" (1982), wo man Calles Hand sieht, die den Penis ihres Ex-Lovers Greg beim Urinieren hält (Calle begründete das damit, dass sie diese intime Situation aus dem Blickwinkel eines Mannes erleben wollte). Das Bild erinnert in seiner zeitlosen Heftigkeit eher an Robert Mapplethorpe als an das, was bei Calle sonst fotografisch üblich ist.

Obwohl Calle also im Grunde keine künstlerische Fotografin, sondern eine konsequente Konzeptkünstlerin ist, ist der Hasselblad Award 2010 dennoch verdient, da Calle zwar nicht das ästhetische Spektrum der Fotografie erweitert hat, jedoch den Gebrauch, den man von ihr in der Kunst macht.

Wer immer sich die Mühe macht, für Sophie Calle in die Schweiz aufzubrechen, sollte sich vorher genau überlegen, was er/sie sich davon erwartet, Mit den spektakulären Fotografien in anderen aktuellen Retrospektiven bedeutender Künstlerinnen - Cindy Sherma in London und Sally Mann in Paris, hat das, was es in Winterthur zu sehen gibt, nur am Rande zu tun.


Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de

Sophie Calle: "Un certain regard". Fotomuseum Winterhur. Kein Katalog.