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Die Maske abgenommen

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
29.05.2020. Gedanken zur komplexen Beziehung zwischen Künstler und Modell, zur Arbeit im Atelier, zu Nacktheit, Transgression, Jacques Rivette, Michel Piccoli, Paul Cezanne und einer Begegnung auf Augenhöhe.
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Am 12. Mai ist Michel Piccoli im Alter von vierundneunzig Jahren gestorben. Als Schauspieler war er von jener seltenen und kostbaren Art, die sich weigert, die Kunst im Sinn einer Karriere zu betreiben und sich irgendwann auf ein klar umrissenes Profil festzulegen, das sich gut vermarkten lässt. Piccoli hat die Schauspielerei betrieben wie eine Wanderung in anspruchsvollem, die Aufmerksamkeit aller Sinne forderndem Gelände. Ein Terrain, unabsehbar, vage, lockend, in dem es sinnvoll ist, einen Blick in dunkle Ecken zu riskieren, halsbrecherische Vorsprünge zu erklimmen, sich durch dichtes Gestrüpp hindurchzukämpfen. Die Praxis des ständigen Ortswechsels wird dabei mit der Zeit verinnerlicht und ermöglicht die Praxis eines ständigen Perspektivwechsels, der jeder Verfestigung, jeder Zufriedenheit mit dem einmal Erreichten entgegenwirkt.

Wer sich lange auf diesem Gelände aufhält, immer wieder neu aufbricht, wird mit der Zeit selbst Bestandteil dieses Geländes. Jacques Lacan nannte diese besondere, räumliche Verschränkung Extimität, da sich Intimes und Externes überlagern. Was man erlebt, bleibt nicht außen vor, sondern dringt in einen ein, vermischt sich dort mit bereits Vorhandenem. Das gilt nicht nur für ein reales, sondern auch für ein imaginäres oder symbolisches Geschehen, das von Bildern und Texten vermittelt wird. Die Kunst wird darüber zu einer Reise, die niemals endet, gleich, welche Etappenziele man zwischendurch verfolgt. Für Schauspieler*innen bedeutet das, "eine Reise durch die Figur hindurch zu unternehmen. Eine Figur ist kein fester einheitlicher Punkt, sondern ein Raum, in dem die Wege in unterschiedliche Richtungen führen." (Declan Donnellan)

Warum viele Künstler*innen zwar gerne vorgeben so zu verfahren, es aber in Wahrheit nur selten tun, bringt der Maler Frenhofer auf den Punkt, den Piccoli im Alter von fünfundsechzig Jahren in Jacques Rivettes Film "Die schöne Querulantin" spielt: "Man glaubt, auf etwas zuzugehen, und verliert sich darin. Man muss alles loslassen, und das macht Angst."

Michel Piccoli und Emmanuelle Beart in "Die schöne Querulantin"

Frenhofer lebt mit seiner Frau und einstigen Muse Liz zurückgezogen im Süden Frankreichs. Er bekommt Besuch vom jungen, gerade angesagten Maler Nicolas und dessen schöner Freundin Marianne (gespielt von Emmanuelle Béart). Die erwartungsfrohe Befangenheit, mit der sich Nicolas und der Kunsthändler Porbus Frenhofer, über den es kaum nennenswerte Veröffentlichungen gibt, nähern, lässt darauf schließen, dass es sich bei Frenhofer um einen 'Maler für Maler' handelt, wie Cézanne einer war (an den tatsächlich das eine oder andere im Verlauf des Films erinnert).

Wie Frenhofer in weiterer Folge in Szene gesetzt wird, erinnert zudem an Rilkes Beschreibungen von Auguste Rodin: "Rodin besaß die Kraft derjenigen, auf die ein großes Werk wartet, die schweigsame Ausdauer derer, die notwendig sind. (...) Der Mann mit der gebrochenen Nase wurde 1864 vom Salon zurückgewiesen, Rodin als Fälscher beschimpft. Als er sich daraufhin noch mal dreizehn Jahre verschloss, reifte er als Unbekannter zum Meister, zum Beherrscher seiner Mittel, immerfort arbeitend, denkend, unbeeinflusst von der Zeit, die nicht an ihm teilnahm."

Als sie Frenhofers Atelier besuchen, kommt das Gespräch auf ein einst begonnenes, jedoch nie vollendetes Bild: "La Belle Noiseuse" - ein Frauenakt, der seinen legendären Status der Tatsache verdankt, dass Frenhofer ihn einst unter dem Eindruck begonnen hat, in ihm grundlegende Dinge über die Malerei, die sich ihm mit der Zeit offenbarten, in einem Bild festhalten zu können. Als Nicolas ihm Marianne leichtfertig als mögliches Modell für einen Neubeginn offeriert, ohne sie gefragt zu haben, willigt diese trotz - oder gerade wegen - Nicolas' Anmaßung ein und beharrt kühl und in maliziöser Genugtuung darauf, als Nicolas aufgrund der Konstellation bald von Eifersucht geplagt wird und sie bittet, mit ihm abzureisen.

Das ist das kurze, leichthändig wie Antipasti servierte Vorspiel vor dem ausgedehnten, komplexen Höhepunkt des in der Langfassung knapp vier Sunden langen Films, in dem es um die Auseinandersetzung eines (männlichen) Malers mit seinem (weiblichen) Modell und um den teils mit-, teils gegeneinander geführten Kampf um die Fertigstellung des Werks geht.

Es gibt keinen vergleichbaren Film. Martin Scorsese hat Nick Nolte in "Life Sessions" (seinem Beitrag zum Episodenwerk "New York Stories") einen bis zur Bösartigkeit  egozentrischen Maler spielen lassen, der sich seine junge Muse einverleibt wie eine lebensverlängernde Infusion, bis sie leer und verbraucht ist und er sich eine neue beschaffen muss. Celine Sciammas Film "Porträt einer jungen Frau in Flammen" ist  - wie sie selbst sagt - im Grunde ein Film über die Liebe und dazu eine aussagekräftige Episode über den langen Kampf der Frauen um Chancengleichheit. Der Prozess des Malens selbst und die Auseinandersetzung mit dem Gegenüber werden bei Scorsese lediglich pointiert und teils küchenpsychologisch, bei Sciamma schlicht zu romantisch abgehandelt.

Da die im Film zu intensiver Anschaulichkeit gebrachten, diversen Problemfelder von den üblichen verdächtigen Medien auf Zeitgeist-Narrative wie "male/female gaze" verkürzt werden, lohnt es um deren ungebrochener Brisanz willen, sich die schöne Querulantin - nicht anders als Frenhofer - genauer anzusehen.

Es ist zu Beginn ein Schock mitzuerleben, dass sich Frenhofer der nackten Marianne nähert wie einem Objekt. Er gibt ihr Anweisungen, zerrt und biegt an ihr herum, verlangt von ihr, in unbequemen, geradezu schmerzhaften Posen still zu halten. Diese Szenen korrelieren allem, was junge Zuschauerinnen über den "male gaze" und die historisch verankerte "Objektifizierung" des weiblichen Körpers gelernt haben. (Wenn man nicht gleich an Elisabeth Bronfens "Nur über ihre Leiche" denken muss, das darlegt, dass vor dem männlichen Blick traditionell nur - im realen wie übertragenen Sinn - tote Frauen gute Frauen waren.)

"Ich werde sie zerlegen, sie auseinandersprengen. Wir werden sehen, was bleibt, wenn sie alles vergessen, alles hinter sich gelassen hat." Was bewegt Frenhofer, so nüchtern, geradezu rücksichtslos und unter völliger Vernachlässigung der Bedürfnisse und Gedanken seines Modells vorzugehen? Im ersten Moment hört es sich nach den Berichten von jungen Schauspieler*innen an, die davon erzählen, ihre Lehrer*innen würden es darauf anlegen, sie zu "brechen": ihren Willen, ihre Gewohnheiten, ihre Strategien, sich zu schützen - eine Praxis, die eher den Methoden einer Sekte zuzuordnen ist und überwiegend dem banalen Ziel dient, dass die Schauspieler*innen den Anweisungen der Regie blind Folge leisten.

Frenhofer ist an solchen Dressurakten jedoch nicht interessiert. Schon gar nicht sucht er willenlose Anhängerinnen oder überhaupt irgendeine Form von Gefolgschaft.

Wie bei Paul Cézanne gilt seine Leidenschaft dem Sichtbaren, das ihm unmittelbar vor Augen liegt. 'Malen' heißt für ihn: malen, was man sieht, nicht malen, was man denkt oder imaginiert. Eine Einstellung, die es mit sich bringt, dass sich der Maler gegen das Wissen an und für sich stellen muss, gegen alles von Konventionen, Meinungen oder Bildung Verformte. Rückblickend auf seine erste Marokko-Reise 1957 schreibt Cees Noteboom: "Damals war ich noch unbelastet von jeglichem Wissen über die Berber, ich schaute nur. Nun, da ich mehr von ihnen weiß, weiß ich wie gewöhnlich weniger."

Paul Cezanne, Les Grandes Baigneuses (1906)

Verformungen dieser Art gilt es, nicht nur bei sich selbst, sondern auch beim Modell entgegenzuwirken. Etwas, dass bis zu einem gewissen Grad unabdingbar ist, wenn das Werk nicht bloß Sichtbares wiedergeben, vielmehr Unsichtbares sichtbar machen soll.

Eine große Rolle spielt dabei nicht zuletzt das Gesicht. Wie entscheidend es für die Wahrnehmung der Persönlichkeit ist, kann man aktuell gut an den Corona geschuldeten Masken erkennen, die die Gesichter der Menschen zur Hälfte bedecken. Mit ein Grund, warum Frenhofer die Kommunikation mit Marianne auf Augenhöhe, von Angesicht zu Angesicht meidet. Rainer Maria Rilke bemerkt darüber in seinem Text zu Rodin: "Das Leben, das in den Gesichtern wie auf Zifferblättern stand, leicht ablesbar und voll Bezug auf die Zeit - in den Körpern war es zerstreuter, größer, geheimnisvoller. Hier verstellte es sich nicht (...). Zurück von der Bühne des Angesichts, hatte es die Maske abgenommen und stand, wie es war, hinter den Kulissen der Kleider."

Frenhofer: "Ich werde herausfinden, was unter dieser dünnen Oberfläche ist. Das Unsichtbare." Das Heikle an dieser Absicht besteht für das Modell darin, dass es nicht unbedingt erfreut ist von dem, was es am Ende zu Gesicht bekommt. Geschweige denn, dass es sich damit identifiziert. Frenhofer weiß darüber natürlich Bescheid: "Wenn das Bild stark ist, wird es Sie zeigen. Sie werden alles zurückbekommen, wenn Sie es dann noch wollen." - Marianne: "Warum sollte ich es nicht wollen?" - Frenhofer: "Verstehen. Wissen. Niemand will das wirklich:" - Marianne: "Ich schon." - Frenhofer: "Wir werden sehen."

Eine Sitzung folgt der nächsten, und was im Film auf wenige Tage verteilt scheint, könnte in Wahrheit auch Wochen oder Monate dauern wie bei Lucian Freud. Wenn nur das zählt, was sich unmittelbar vor dem Auge befindet, liegt die wiederholte Rückkehr zum selben Motiv, die Entscheidung, es als einzige Instanz zu akzeptieren, auf der Hand. Fehlversuche, Irrtümer, Abbrüche  - die das Modell am Anfang in Bezug auf den Aufwand an Zeit, Ausdauer und Geduld, die sie ihm abverlangen, nicht absehen kann - werden dabei notwendig in Kauf genommen. "Die Hälfte meiner Maltätigkeit besteht darin, zu zerstören, was mir leicht von der Hand geht." Und: "Ich hasse eine gemütliche Atmosphäre. Ich habe immer das Gefühl, dass die Malerei einen zu gemütlichen Hintergrund hat. Ich möchte der Intimität der Figur einen sachlichen Hintergrund entgegensetzen. Ich möchte die Figur isolieren und sie aus dem Innenraum ihrer häuslichen Umgebung herausnehmen." (Francis Bacon)

Kein Wunder, dass irgendwann einmal der Punkt kommt, an dem Marianne sagt: "Ich kann nicht mehr", und Frenhofer darauf antwortet: "Das ist erst Anfang."

Marianne: "Ich spüre meinen Körper nicht mehr." - Frenhofer: "Ich auch nicht." - Marianne: "Sie sind widerlich. - Frenhofer: "Ich bin nichts. Es gibt nur das Bild, und was es von uns verlangt."

© P. T., she stood there a loaded gun (2016-19)

Im weiteren Verlauf kommt Frenhofer zu dem Schluss, dass es sinnlos ist, und er die Arbeit abbrechen will. (Wahrscheinlich hat er jedoch nicht resigniert, sondern befindet sich an jenem Punkt, von dem Kafka sagt: "Von einem bestimmten Punkt an gibt es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu erreichen" - etwas, wonach man sich sehnt, wovor man aber auch zurückschreckt.) Aber Marianne ist dagegen. Ein Mann hat, ohne sie zu fragen, dieses Vorhaben eingefädelt; ein anderer will es nun, ohne sie zu fragen, abbrechen. Sie sagt: "Nein. Ich bin auch noch da, ich zähle auch." Sie verfügt, dass Frenhofer sich am nächsten Tag zur selben Zeit im Atelier einzufinden und weiterzuarbeiten hat. Und als es dann soweit ist: "Geben Sie mir meine Zeit, meinen Raum, meinen Platz. Lassen Sie mich so, wie ich bin. Vergessen Sie, wie Sie sonst arbeiten."

Wenn man das, was sich bis dahin ereignet hat, auf die Fotografie anzuwenden und eigenen Erfahrungen gegenüberzustellen versucht, ergeben sich Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede. Ich will mich im Folgenden auf ein paar Grundsätze beschränken, von denen ich glaube, dass sie  für eine intensive künstlerische Auseinandersetzung zwischen Künstler und Modell relevant sein können, wobei mein Blickwinkel für dieses eine Mal explizit der eines heterosexuellen Mannes ist, der mit Frauen arbeitet.

Um es gleich zu sagen: mit "Künstler" meine ich nicht die "Pirelli-Kalender-Knipser", die die Parameter der Mode-, Werbe- und Promi-Fotografie verinnerlicht haben und versuchen, im immergleichen Spektrum zwischen Helmut Newton, Peter Lindbergh und Jürgen Teller ihren Platz zu finden. Um Fotografen, die glauben, Aktfotografie bestünde darin, von sexy Frauen schöne Bilder zu machen, geht es ebenso wenig wie um Frauen, die glauben, es gehe darum, schöne sexy Bilder von ihnen zu machen. All das eben, was sich in unzähligen Lifestyle-Magazinen mehr oder weniger verhüllt abspielt. Auch wenn dabei coole, schöne, krasse Bilder vorkommen - mit einer tiefer gehenden Auseinandersetzung zwischen Künstler und (nacktem) Modell oder Nacktheit per se hat das nichts zu tun.

Wählen Sie den Raum gut aus. Bei professionellen Shootings, die oft nicht länger als einen Tag beanspruchen, kann die sachliche Atmosphäre eines professionellen Studios genau richtig  sein - für alles andere taugt sie zumeist nicht. Suchen Sie nach einem Raum, der - ohne überladen zu sein - etwas von einem Versteck hat, in dem zwei Verschworene etwas anzetteln, von dem die Außerwelt bis auf Weiteres ausgeschlossen ist.

Vergessen Sie das Wort "Shooting", die Kategorie "Akt" und Zuschreibungen wie "sexy". Denken Sie in Bezug  auf die Treffen immer an eine Begegnung, nicht an eine Arbeitssitzung - auch wenn Sie nicht umhin kommen werden, sich selbst und das Modell ab und an daran zu erinnern, dass man nicht nur eine tolle Zeit hat, sondern dass es um etwas geht, das seinen Preis hat. Oder wie Frenhofer es ausdrückt: "Es gibt nur das Bild, und was es von uns verlangt."

Vergessen sie das Wort "Modell". Es drückt etwas Statisches aus, das dem Menschen, der sich vor ihnen entblößt und sich ihnen partiell anvertraut, überhaupt nicht gerecht wird. Denken Sie eher an etwas Bewegliches wie eine "Performerin" - jemand mit einem eigenen Tempo, eigenen Absichten, der ebenso wie sie auf der Suche ist, auf  fruchtbaren Widerstand und Resonanz hofft. Sagen Sie von Beginn an, was Sache ist, worum es  Ihnen geht, auch wenn Sie sich selbst nicht sicher sind, ob Sie dem gewachsen sind, und welche Ausmaße es annehmen wird. Die Frau, die dann nicht gleich davonrennt, sondern sich bewusst darauf einlässt, wird dann zur Partnerin auf Augenhöhe.

Wenn Sie im Atelier schließlich zu Werke gehen: Vergessen Sie den Glauben an den entscheidenden Moment, wie ihn Cartier-Bresson in die Welt gesetzt hat. Cartier-Bresson kommt aus dem Fotojournalismus, in dem es von großer Bedeutung ist, einen komplexen Vorgang (ein Kriegsgeschehen, eine Naturkatastrophe) im Optimalfall symbolisch auf den Punkt zu bringen. In Wahrheit passiert bei der intensiven Arbeit mit einem Gegenüber genau das Gegenteil: je länger sie mit ihm zu tun haben, je mehr es aus sich herausgeht, je mehr es sich zeigt, nicht nur körperlich, und je mehr Sie darauf eingehen - desto verschwommener wird alles, vieldeutiger und nicht auf den Punkt zu bringen. Ganz im Sinn Montaignes, der sagte: "Je mehr ich mit mir Umgang habe, desto mehr verwundert mich meine Ungestalt."

© P. T., she stood there a loaded gun (2016-19)

Ab einem bestimmten Punkt  - falls man es bis dahin schafft - betreibt die Frau das Projekt zu ihrem eigenen Zweck, (falls sie das ohnehin nicht von Anfang an im Kopf hatte), der da lautet: Selbsterkenntnis.  Ein Vorhaben, das man als Fotograf unterstützen sollte, da man von ihm künstlerisch in einer Weise profitiert wie von kaum etwas anderem. Frenhofer: "Keine Brüste, keine Schenkel, kein Bauch mehr - Wirbelstürme." Vor allem, wenn die Frau noch jünger ist, will sie ihre Grenzen kennenlernen, sich austesten, belasten, sich konfrontieren. Ab da kommt es zu jener Zusammenarbeit und entstehen jene Bilder, auf die man zu Beginn gehofft hat. Es beginnt die spannendste, aber auch heikelste Phase des Projekts. Man hat sich geöffnet, Vertrauen zueinander gefasst, geht geradezu hemmungslos miteinander um. Aus einem nackten Modell ist ein Gegenüber geworden, das vor der Kamera seine Sexualität bewusst in Szene setzt, damit spielt.

Als Mann ist man damit in den meisten Fällen nicht gemeint. Die Frau kommuniziert in dieser Situation mit sich selbst. Die Kamera und auch der Blick des Fotografen werden zum Spiegel des Schauspiels, das sich die Frau selbst bereitet. Zu allen Zeiten sind der Körper und die Sexualität der Frau Kampfplatz religiöser, politischer, ethischer und ästhetischer Auseinandersetzungen gewesen: was sie wo wann wem wie und wie oft zeigen oder nicht zeigen, machen oder nicht machen darf oder soll. Hinzu kommt, dass Frauen tendenziell immer noch dazu erzogen werden, nett, rücksichtsvoll, kommunikativ, zurückhaltend, empathisch, fürsorglich und so weiter zu sein. Ein solches Projekt kann dann eine Gelegenheit darstellen, dies alles abzuwerfen, hinter sich zu lassen - genauso, wie es befreiend sein kann, in einer reinen Frauentruppe wie der Tanz-Compagnie von Florentina Holzinger (mehr hier) mal männliche Blicke und Kommentare komplett außen vor zu lassen.

Man hört Dinge wie: "Was ich hier mache, könnte ich sonst nirgendwo machen" oder "Gut, dass das jetzt niemand sehen kann". Die beiden Sätze - so euphorisierend sie sind - weisen zugleich auf jenes Problem hin, dass sich im Zuge einer solchen Zusammenarbeit sowohl währenddessen als auch im Nachhinein ergeben kann: wie das Ganze zu bewerten ist und was daraus werden soll. Es ist etwas, das man nie einschätzen kann, womit man sich immer wieder aufs Glatteis begibt. Obwohl man währenddessen die Bilder gemeinsam durchgegangen ist, kann das Ende des Projekts wie ein Erwachen sein, und eine Frau ist plötzlich bestürzt über das, was stattgefunden hat. Im Affekt können Worte wie "Manipulation" und "Missbrauch" fallen. Wenn klar wird, dass ich bei gewissen Fotos ohnehin nicht an eine Veröffentlichung gedacht habe, schon gar nicht ohne ihre Zustimmung, glätten sich die Wogen. Meist stellt sich heraus, dass die Frau schlicht Panik vor dem hat, was passiert, wenn ihr Umfeld sie so sehen könnte: ihre Eltern, ihre Freundinnen, ihre Kollegen. Nicht zu vergessen ihre unschuldigen, zukünftigen Kinder, die sich ihrer Mama keinesfalls irgendwann einmal schämen sollen. Die Grundkonstellation, die Virginie Despentes 2006 in "King Kong Theorie" beschrieben hat, ist mehr oder weniger immer noch dieselbe: "Auf Schritt und Tritt überwacht von Männern, die uns erklären, was gut oder schlecht für uns sei, und nicht zuletzt von anderen Frauen, in der Familie, in Frauenzeitschriften und im alltäglichen Diskurs."

Indem wir bei dem angekommen sind, was gezeigt wird und was nicht, sind wir auch beim Ende von "Die schöne Querulantin" angekommen. Frenhofer hat das Bild fertiggestellt. Als er es Marianne zeigt, ist sie schockiert: "Etwas Kaltes, Ausgetrocknetes...das bin ich." Ihr graut vor dem Moment, da alle es sehen und erkennen werden. Aber soweit  kommt es nicht. Frenhofer mauert das Bild in eine Wand seines Ateliers ein und präsentiert stattdessen eine freundliche, gefällige Version, die alle zufrieden stellt: Den Kunsthändler Porbus, Frenhofers Frau Liz, die das Original gesehen hat (die Zuschauer nur ein Randstück davon) und Marianne, die ihre Souveränität zurück gewinnt, ja, klarer ist als zuvor und auf Nicolas' Vorschlag, mit ihm nach Spanien zu reisen, kurz und bündig mit "Nein" antwortet.

Warum hat Frenhofer das Bild eingemauert? Ist er ein Gentleman, der Marianne schützen will? Tut er es für seine Frau, die ihn für diese Geste liebt? Tut er es, weil er dem Kunsthändler Porbus sein Meisterwerk nicht überlassen will? Von allem ein bisschen, vielleicht - aber vor allem, weil die Existenz eines ultimativen Meisterwerks eine Art Endpunkt bedeutet, von dem aus weiterzumachen - nicht zuletzt in Frenhofers Alter - schwer, wenn nicht sinnlos ist. Zudem kann die Kunst mit dem voranschreitenden Alter manchmal eine höchst private, geradezu intime Angelegenheit werden (wie ich selbst nur zu gut weiß), bei der man keine unnötigen Zuschauer wünscht. Frei nach Adorno: "Mit dem Glück ist es nicht anders als mit der Wahrheit. Man hat es nicht, sondern ist darin."

© P. T., she stood there a loaded gun (2016-19)

"Das unbekannte Meisterwerk" - so heißt die Novelle von Balzac, die Jacques Rivette zu seinem Film inspiriert hat (und in der es im völligen Gegensatz zum Film überhaupt nicht um den Akt des Malens an sich geht). Der Titel passt wie angegossen auch auf das, was ich generell zur Arbeit eines Künstlers mit seinem Modell gesagt habe und zu dem, was am Ende davon bleibt. Jener Teil, der der Öffentlichkeit (bis auf Weiteres oder gar für immer) unbekannt bleibt, beschränkt sich dabei nicht nur auf allzu intime Fotos; er beinhaltet auch all das, was gesprochen wurde, das man einander anvertraut hat, darunter schmerzhafte Geschichten aus der Kindheit, (noch) nicht ausgelebte sexuelle Fantasien, Versagensängste.

Wie bei Frenhofers Meisterwerk lagert das alles irgendwo gut versteckt vor den neugierigen Blicken Unbefugter - wobei das Verstecken im Unterschied zu Rivettes Film kein einseitiger Entschluss ist, und beide Seiten jederzeit auf das Verborgene zurückgreifen können. Ganz im Sinne des hoffnungslos schwärmerischen Rilke, der 1902 - siebzehn Jahre, bevor mit Marianne Weber zum ersten Mal in einem deutschen Parlament eine Frau das Wort ergreift - in seinem Text zu Rodin schreibt: "Das Weib ist nicht mehr das überwältigte oder das willige Tier: Sie ist sehnsüchtig und wach wie der Mann, und es ist, als hätten sie sich zusammengetan, um beide nach ihrer Seele zu suchen."

Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de