Essay

Blick und Anblick

Von Uta Ruge
31.12.2021. "…ausdauernd überrundet von Wortläufern / und global organisiertem Nachschub / über Gegenden hinweg / denen Zeitdruck in Deutschland die Landschaft abnötigt…" Zum achtzigsten Geburtstag der Dichterin Anne Duden
Anne Dudens Gedichte und lyrische Prosa sind in der Literatur der Gegenwart einzigartig. Man kann sich davon durch die Lektüre ihrer sieben Bücher überzeugen. Und ihre langjährige Mitgliedschaft in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (Darmstadt), im PEN Deutschland und ihre korrespondierende Mitgliedschaft in der Akademie der Wissenschaften und der Literatur (Mainz) legen davon ebenso Zeugnis ab wie die vielen ihr verliehenen Literatur-Preise - es sind insgesamt zwölf, von denen hier nur der Große Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und der Heinrich-Böll-Preis erwähnt sein sollen.

Die außerordentliche Wertschätzung ihrer Arbeit ist allerdings ein wenig heimlich geworden, ein verstecktes Geschehen, in dem manche Kulturschaffenden sie immer wieder neu entdecken, kluge Interviews mit ihr führen oder Tanzprojekte kreieren, zu denen ihre Texte Pate stehen.

Anne Dudens Sprache funkelt wie ein schwarzer Diamant, ein Solitär. Wer in den vielfältigen literarischen Veranstaltungen unvorbereitet unterwegs ist, hält ihren Blick und Anblick kaum aus. Das erlebte ich selbst einmal bei einer ihrer Berliner Lesungen. Da wandte sich ein Zuhörer auf der Bank vor mir - auf sommergrüner Wiese zu Lyrik geladen - schaudernd seiner Gefährtin zu und forderte mit zum Himmel verdrehten Augen empört ihre einverständige Missbilligung. Die Blickrichtung war eigentlich gar nicht so falsch, nur verstand er sich selbst nicht.

In den 1980er Jahren wurde ich Anne Dudens Zufallslektorin. Schon in ihrem ersten Buch "Übergang" zeigte sich der Prozess, der das Schreiben für sie bedeutete, sich nämlich mit dem eigenen Leben in die Wissenslandschaften der Kunst hineinzustellen und dort auf Augenhöhe zu leben und zu schreiben. Es ist ein von Anfang an hochkritisches Schaffen - von sich ausgehend und mit jenen längst Verstorbenen in Aug und Ohr, die den Standard gesetzt haben für unsere Sprache, Kultur und Erkenntnis.

Zwei Körper. Der eine lebt, der andere ist tot. Der lebende steht auf dem toten, den er gerade erst getötet hat. Der tote Körper weich, nachgiebig, gewunden und gekrümmt. Sein Ende ragt dünn in die Luft, ein nutzlos aufbegehrendes Ende. Neben den stämmigen Beinen des lebenden. WIE EINEN WURM ZERTRETEN.

Hier geht es um den "Heiligen Michael" in der Darstellung von Piero della Francesca, der Erzengel hat soeben den Drachen, das Böse, Weiche, Schleimige getötet. Dieser Drachentöter war für Anne Duden Ausgangspunkt vieler Blicke auf Drachen und ihre Mörder, vieler Texte, die nachvollziehen und zur Kenntnis bringen, was hier geschieht, geschehen ist und weiterhin geschieht - der Sieg nämlich über das, was undefiniert und undefinierbar ist, die abgeschobenen Reste, alles außerhalb des gesellschaftlichen Funktionierens sich Aufhaltende - und nicht selten ist es das Weibliche.

Die "Grabbereitung Christi" von Carpaccio war eine andere, über Jahre währende Erkundung von Denk-, Fühl- und Sprachprozessen, die Benennungen forderte für das Wissen von Mord und Totschlag, vor allem in Deutschland, das seine nationalsozialistischen Untaten jahrzehntelang zu verschweigen gesucht hatte. Das Schöne aber verdankte sich auch dem Grauen, dem unverwandten Blick in den Abgrund - und erst dann nach oben, in den Äther, von ihm angezogen und weggetragen.

Es ist schön und ich habe Angst, heißt es am Ende des "Judasschaf".

Anne Duden stammt aus einer kriegszerstörten Familie und einem kriegszerstörten Land, wuchs auf in enger und ärmlicher Familiengemeinschaft, die eingekesselt in einem DDR-Grenzgebiet (Fünfkilometersperrzone) im Harz lebte. Da heraus rettete die vom Vater verlassene Mutter sich mit ihren drei Kindern schließlich in den Westen, kam der Deportation zuvor, die 1953 als "Aktion Ungeziefer" geplant war, ein Abtransport von politisch für unsicher gehaltenen Bewohnern. Es folgte die damals übliche, aber dennoch gefährliche Flucht über Westberlin, wo wir in einem der Notaufnahmelager der Stadt - für Millionen damals eine generationstypische Lebensstation - schon einmal hätten aufeinandertreffen können, ich als ein wenige Woche alter Säugling, sie schon als Schulkind.

Tatsächlich getroffen haben wir uns dann im Westberlin der 1980er Jahre, ich wurde ihre Nachfolgerin im Rotbuch-Verlag. Es war gar keine gute Zeit für sie, und dennoch erinnern wir uns beide bis heute an unser schallendes Lachen in der Potsdamer Straße (und wir können es immer noch, trotz und wegen allem). Nach meinem eigenen Weggang aus dem Verlag nur wenige Jahre später lektorierte ich ihre ersten beiden Bücher, besuchte sie in London und verstand, als wir vor jenem "Heiligen Michael" in der National Gallery am Trafalgar Square standen, welches dort zum Bild geronnene Wissen sie umtreibt. Und als ich dann für mehr als ein Jahrzehnt selbst in London lebte, öffnete sie mir immer mehr Türen, so dass ich mich unter ihrer Anleitung den dahinter liegenden Reichtümern neu oder überhaupt einmal zu nähern traute. Die Alte und Neue Musik waren dabei, die vierzigstimmige Motette von Thomas Tallis etwa, oder später Werke von Luigi Nono. Und dann hatte sie ein Auge geworfen auf die Bäume, ob im Hyde Park oder in Kew Gardens, selbst noch auf die stoischen Platanen in einer x-beliebigen Londoner Straße auf dem Weg hier- oder dahin, zu Southbank oder Dulwich-Picture-Gallery. Immer galt ihr Blick dem Nichtbeachteten und Weggeworfenen, den an den Rändern des Funktionierens gestrandeten Menschen und Dingen.

Wir begegneten uns in manchem auf erstaunliche Weise, beide aus bildungsferner Schicht, wie man so sagt, stammend, über die innerdeutsche Grenze geschafft, und im Westen zunächst im gleichgültigen Nirgendwo verortet. So trafen wir uns auch in unserer tastenden, weitäugigen Annäherung an die Kultur, später dann in der großen Liebe zu England ebenso wie im Schreibbegehren - erstaunlich genug angesichts unserer so weit voneinander entfernen Genres, meines Journalismus und ihrer Dichtung. Viele Gänge und Gespräche also - und am Ende manchmal Cream-Teas mit Scones und Clotted-Cream (von Jersey-Kühen!).

Und doch, solcherlei Herkunft hält als Mitgift keinen Gleichmut bereit. Vielmehr wächst ein Leben im Dazwischen aus solchem Boden und allem, was in ihm begraben liegt - wie etwa die Erfahrung vorgeblich umstandsloser Anpassung an den Wirtschaftswunderwesten, die bis heute nicht recht diskursfähig geworden ist.

Anne Dudens Leben ist immer wieder ein Herausfallen, ein Nicht-Zutreffen. Zerrissenheit und Unlebbarkeit sind bei ihr geblieben. Dichtung soll man nicht für nur Literatur halten. Sie ent- und verwirft Lebenslinien des Schreibens. Um das aber geht es beständig, auch wenn Pausen eintreten, und eine aus dem Schweigen schwer nur herauskommt. Kaum zu überleben sind die Tode der Nächsten - Mutter, Bruder und Mann.

Ich bin schwarz vor Schweigen.

So müssen immer stärker Wortbilder getürmt, zerstört, zerdehnt und aneinandergereiht werden, Wortstränge gedreht und zerrissen, müssen Zündstäbe in Steinbrüchen gelegt werden, die Massivstes zum Einsturz bringen.

Anne Dudens Sprachpassion treibt sie tief dorthinein - und darüber hinaus.

An Riemen- und Rautenmuskeln gepresste Bittertaschen/ geschlechtslose Adamsäpfel in der Kehle / und im verschwimmenden Mund die aufgeriebene taube Zunge / die Beistandsverträge einzuhalten versucht / ausdauernd überrundet von Wortläufern / und global organisiertem Nachschub / über Gegenden hinweg / denen Zeitdruck aus Deutschland die Landschaft abnötigte / aus Gründen der Bedarfsmehrung. / VORSPRUNG DURCH TECHNIK / in all fairness and if I may say so. / Und sowohl die Fleißarbeit der Kleinaufklärer / als auch die Flaneurübungen der sich beweglich Haltenden / haben Hochkonjunktur an der Peripherie / und in den Skelettnischen / in denen es friert / die Körpertemperatur aber unbeirrt sinkt.

Das ist ein nicht zufällig gewähltes Beispiel aus Steinschlag von 1993. So knapp und dicht konnte sie, die nicht nur ihrer eigenen Beschädigung und der ihrer Mitmenschen nachgeht, im kühlen Blick auf alles schon vor beinahe dreißig Jahren die Zerstörung des Planeten im Norden und Süden aussprechen.

Staunend las ich "Steinschlag" und später "Hingegend", auf solche Dichte und Einschlagskraft trotz allem nicht gefasst. Auch aus ihren Vorträgen, Aufsätzen und den kurzen, verstreut erschienenen Prosaarbeiten, gesammelt in "Zungengewahrsam", "Wimpertier" und "Der wunde Punkt im Alphabet" kannte ich manche Überlegungen aus unseren langen Gesprächen, war aber immer wieder neu fasziniert von der Vielzahl der Räume und Ebenen, wie sie ihrem Schreiben ganz natürlich innezuwohnen scheint. Denn immer wieder hebt Anne Duden an, dem "absoluten Blickgehör und überwach den sehhörigen Worten" zu folgen, probiert aus, wie "eine ungeschiedene Bewegung vom Bild zur Musik durch die Sprache oder von der Sprache durch die Musik zum Bild und noch weiter und darüber hinaus gehen kann". Bis dann am Ende und ganz plötzlich etwas sehr einfach und tödlich klar wird.

I am your only surviving memory.

Philosophieren heißt sterben lernen, sagt man. Das Lesen der Texte von Anne Duden auch. Denn ihre Texte sind Erkundungsgänge in die Zustände des permanenten Zu-Grunde-Gehens. Ich kenne unter den heute Schreibenden keine, die mit solcher Radikalität an die tägliche Arbeit gehen - an die Wahrnehmung nämlich des aus allen Zusammenhängen Herausgefallenen und an die Aufgabe, es doch noch und eben deshalb in Sprache aufzuheben.

Hinzu kommt bei ihr jedoch auch - und davon habe ich hier, darüber wird überhaupt immer zu wenig gesprochen - ihre hohe, aus sich heraustretende Begeisterung über beziehungsvolle Klänge, Räume, Farben. Dabei reichte zur Verzückung durch Musik als Initiation in der Kindheit - und musste ja auch erst einmal reichen - der heimische Bläserchor oder Wunschkonzerte im Radio. So erlebt das kleine Mädchen das tänzelnde Rundherum eines Schlagers wie "Die Blumen sind für Bella Bimba" ebenso als Entgrenzung wie die erwachsene Frau den Anblick der düster leuchtenden Landschaften von Claude Lorrain.

Vertieft in die Wahrheit des Schreibens. Ausschnitt aus "Thronende Madonna mit Kind und Heiligen".


Im Gemälde "Thronende Madonna mit Kind und Heiligen" von Lorenzo Lotto ist unterhalb des Geschehens ein in simples Arbeiter- oder Mönchs-Braun gekleideter Engel platziert, fast ein Kind noch. Wütend dreht es sich zu uns um, als würde schon unser zu ihm Hinsehen es beim Schreiben stören. In ihm hat Anne Duden jemanden erkannt, vertieft in die Wahrheit des Schreibens, seine schreckliche Störanfälligkeit. Schon in den Paderborner Vorlesungen hat sie 1996 Auskunft gegeben über das Schreiben als Gewaltakt, unter anderem gegen all jene, von denen man sich beim Worte-Finden abwenden muss. So dass wieder ein Hilfesuchender - und eigentlich sucht immer jemand Hilfe - ungetröstet bleiben wird.

Dennoch entzündet sich der Geist der Dichterin immer wieder am Geist der anderen Schreibenden, Komponierenden, Malenden. Es scheint gar nicht anders zu gehen. Unzählige Kunstpostkarten hat Anne Duden nach ihren Galeriegängen gekauft, archiviert, geschrieben und verschickt an ihre Freunde. Darunter finden sich viele niederländische Maler, Vollendung im Kleinformat, etwa die Eislandschaften Averkamps, dazu unzählige Verkündigungen, Geburten, Kreuzigungen der Renaissance-Malerei, inspirierende Tableaus des Wissens über Anfang und Ende.

Zunehmend hat Anne Duden auch die Philosophie und ihre Geschichte nach Ein- und Aussichten durchforscht. Darüber hat sie selten geschrieben, aber man bemerkt es im Gespräch und in den Interviews, in denen sie mit einer Art verlegener Leichtigkeit Nietzsche und Levinas zitiert, oder vielleicht weniger zitiert als an sie erinnert, ebenso an Foucault und vor allem Jacques Derrida. Immer geht es bei diesen Lektüren um die Suche nach einer Sprache, die das Unlösbare einfängt. Und die, wie sie selbst, trotz aller Aporien auf Mitmenschlichkeit aus ist.

Herzlichen Glückwunsch, liebe Anne! Many happy returns.

Uta Ruge