Essay

Vielfacher Konsensdruck

Von Felix Philipp Ingold
03.07.2019. Eines der schlecht gehüteten Geheimnisse Literaturbetriebs ist, dass erst Preise für Preise qualifizieren: Wer einen der namhaften Literaturpreise für sich buchen kann, ist damit generell als Preisträger habilitiert und wird in der Folge immer wieder in die Kränze kommen. Eine Laudatio bietet sich als Vorlage für die nächste an. Für Sponsoren und Juroren entfällt damit das Risiko von Fehlentscheidungen. Und andere Einblicke ins aktuelle Literaturgeschehen
Wer als Autor heute etwas auf sich hält und als erfolgreich gelten will, muss möglichst "zahlreiche" Preise, Stipendien und sonstige Ehrungen namhaft machen können, um sich im Literaturbetrieb entsprechend zu positionieren. Zumal in der Verlagswerbung, aber auch auf den persönlichen Websites von Schriftstellerinnen und Schriftstellern scheint die Auflistung einschlägiger Auszeichnungen unabdingbar geworden zu sein.

In betrieblicher Hinsicht sollen Preise einerseits als neutrale und professionelle Qualitätsgarantie gelten, anderseits bedienen sie das verbreitete Bedürfnis, Werke der Literatur - ähnlich wie sportliche Leistungen oder wirtschaftliche Erträge - durch Ratings objektiv zu bewerten. Aus meinen eigenen Erfahrungen als Juror wie als Preisträger weiß ich allerdings, dass Professionalität und Objektivität bei der Vergabe von Literaturpreisen nicht die Regel, sondern die seltene Ausnahme sind.

Um die Qualität der auszuzeichnenden Texte geht es in aller Regel zuletzt. Den Vorrang hat zumeist nicht das Werk als Kunst, vielmehr der Autor als Person. Persönliche Beziehungen zwischen Juroren, Sponsoren und Autoren, ob direkt oder indirekt gepflegt, präjudizieren in allzu vielen Fällen die Preisvergabe oder aber, umgekehrt, sie verhindern sie. Dazu kommen unausgesprochene Vorurteile, mal negativ, mal positiv geprägt, und auch die nationale oder regionale Herkunft eines Kandidaten, seine Verlagszugehörigkeit, sein Geschlecht, sein Alter, gelegentlich auch seine politische Verortung fallen als Kriterien deutlich stärker ins Gewicht als sämtliche werkbezogenen Sachfragen.

Nicht zu vergessen die Eigendynamik des Preiskarussells, die oftmals dazu führt, dass vorzugsweise ausgezeichnet wird, wer bereits ausgezeichnet worden ist; dass also vorgängige Auszeichnungen immer noch mehr Auszeichnungen nach sich ziehen: Die Preisträger von gestern sind die bevorzugten Preisträger von morgen. Wer einen der namhaften Literaturpreise für sich buchen kann, ist damit generell als Preisträger habilitiert und wird in der Folge immer wieder in die Kränze kommen. Eine Laudatio bietet sich als Vorlage für die nächste an. Für Sponsoren und Juroren entfällt damit das Risiko von Fehlentscheidungen, aber auch die Chance, unbekannte oder unangepasste Talente zu fördern und ins Gespräch zu bringen.

Wenn ein Text juryintern überhaupt als solcher diskutiert und nicht nur einfach, wie üblich, lanciert wird, dann bleibt es gewöhnlich bei subjektiven Erwägungen zu dessen "Inhalt" oder "Aussage" (psychologische, soziale politische Korrektheit), derweil formale Aspekte - Fragen des Stils, der Komposition - gar nicht erst zur Debatte stehen. Ein "ausgezeichneter" Text muss keineswegs ausgezeichnet gemacht sein, vielmehr kommt es darauf an, dass er konsensfähig ist, konsensfähig innerhalb der Jury und zumutbar für ein breiteres Publikum. Dies wiederum führt notwendigerweise dazu, dass außerliterarische Kriterien wie "Aktualität", "Wirklichkeitstreue", "Nachvollziehbarkeit", "Unterhaltungswert" und so fort bei der Preisvergabe deutlich mehr ins Gewicht fallen als künstlerische beziehungsweise handwerkliche Qualitäten. Um diesem Missstand entgegenzuwirken, ihn gar zu beseitigen und somit eine sachgerechte Jurierung überhaupt erst zu ermöglichen, müssten literarische Werke grundsätzlich ohne Kenntnis ihrer Verfasser begutachtet werden - eine Forderung, die in der Praxis aus diversen Gründen nicht durchsetzbar ist, die aber jeder Preisrichter zumindest in Evidenz halten sollte.

Dass der vielfache Konsensdruck, der von Juroren, Verlegern, Lektoren, Werbeleuten, Buchhändlerinnen, Rezensenten sowie einer Mehrzahl von Lesern gleichermassen ausgeübt wird, letztlich die Mediokrität vor der Exzellenz privilegiert, ist offenkundig. Als Beispiele dafür wären beliebig zahlreiche "ausgezeichnete" Autoren zu nennen, die sich sehr geschickt in den Erwartungshorizont sowohl des Literaturbetriebs wie auch der mehrheitlichen Leserschaft einzuschreiben wissen, ohne ihre Texte als Kunst legitimieren zu müssen, ein Sachverhalt, der nicht zuletzt auf die höchst erfolgreiche Lektoratsprosa fremdsprachiger Autorinnen und Autoren zutrifft, die Deutsch zwar können, nicht aber von Grund auf kennen - ihre Erzählwerke werden verlagsintern aufgearbeitet und dabei bis zur Verwechselbarkeit stilistisch nivelliert. Auch hierfür gibt es unerquickliche Beispiele zuhauf. Was sie alle mit fiktionalem Anspruch in Romanform vorlegen, liesse sich, der Intention und der Aussage nach, problemlos auch publizistisch abhandeln oder im Rahmen eines Interviews erörtern. Literarische Ansprüche sind hier fehl am Platz, Kunstfertigkeit erübrigt sich oder wird zur beiläufigen Peinlichkeit.

Die heutige Erfolgsbelletristik ist Teil des global instrumentierten business of culture-making und muss, um zu reüssieren, deren Regulative befolgen - sie muss leicht lesbar, leicht verständlich, leicht übersetzbar und jedenfalls hinreichend "populär" sein. Popularität setzt jene Konsensfähigkeit voraus, von der schon die Rede war, provoziert aber auch die Frage, wer oder was denn eigentlich Gegenstand des Konsenses sein soll: Der Autor? Das Werk? - Gilt der jeweils ausgefällte Preis dem Autor als Hervorbringer des Werks oder gilt er dem Werk als Hervorbringung des Autors?

Die Frage ist so elementar, dass sie kaum je gestellt wird, und doch müsste sie vor jeder Preisvergabe eigens beantwortet werden. Statt hinter ihrem Werk zu stehen, stellen sich zeitgenössische Autoren noch so gern davor, ohne im übrigen ihre Position zu reflektieren. Ist Autorschaft ein Job, eine Berufung, eine Existenzform? Ist der Schriftsteller jemand, der ein Werk − allenfalls ein Lebenswerk - bereits verfasst und herausgebracht hat, oder ist er vielleicht nur dann ein Schriftsteller, wenn er grade mit dem Stellen der Schrift beschäftigt ist? Die schlichte Tatsache, dass anonyme Autoren ungern gelesen und niemals mit Preisen bedacht werden, macht deutlich, wie schwach das Textbegehren ausgebildet ist und welches Faszinosum, andererseits, vom Autor als Person (oder auch bloß als Image) ausgeht.

Das sollte aber nicht die Einsicht verdunkeln, dass der Autor eigentlich niemand ist, dass er sein Werk nicht erschafft, sondern einfach dessen Entstehung ermöglicht in der Art eines Katalysators, der das jeweils verfügbare Sprachmaterial wie auch den jeweils verfügbaren literarischen Fundus immer wieder neu auf den Punkt bringt, ohne sich selbst dabei zu verbrauchen. Bei Preisverleihungen wird das auch weiterhin keine Rolle spielen, doch hin und wieder sollten die zuständigen Juroren die einfache Tatsache bedenken, dass Schriftsteller nicht bloß als Produzenten ihrer Werke, sondern auch als deren Produkte zu gelten haben.

Felix Philipp Ingold

Felix Philipp Ingold arbeitet als freier Autor, Publizist und Übersetzer in Romainmôtier (VD); zu seinen jüngsten Veröffentlichungen gehören der Roman "Die Blindgängerin" (2018) und der Essayband "Körperblicke" (2019).