Essay

Jims Körper

Über Literaturverfilmung, Künstlichkeit und Menschenwürde. Von Katharina Hacker
26.11.2018. Ich kann mit der Idee des Authentischen nichts anfangen und misstraue ihren Verteidigern. In der Kunst bewegt mich nicht das sogenannte Unverfälschte, Echte, sondern das Artifizielle, das, was sichtlich gemacht und hergestellt ist, das sich eine Form schafft, die auch anders sein könnte, aber schön ist und gültig, ohne mich zu überwältigen. Ideen anlässlich einer Verfilmung.
Verfilmungen sind, nehmen wir zumeist an, weniger komplex als die Bücher, nach denen sie gedreht wurden. Es ist aber nicht immer so, und es ist fruchtbar darüber nachzudenken, wo und auf welche Weise es anders ist. Dabei zeigt sich, dass Komplexität nicht verwirrend und einschüchternd sein muss, sondern beglückt, und wie sich in der Komplexität der Kunst unsere Würde bewahrt.

Ich nehme Florian Hoffmeisters Film Die Habenichtse als Beispiel, weil ich die Machart des Romans wie des Films gut kenne.

Im Film wie im Roman gibt es eine Nebenfigur, die essentiell ist wie der Heilige in einer Heiligengeschichte. Er ist die auffällige, die zugespitzte Figur, mit einem Körper, der differenzierter ist als die intellektuellen Seelen um ihn herum, wacher, leuchtender, liebender, verzweifelter. Es ist, im Roman, der Dealer und Streuner Jim, im Film sein Darsteller Guy Burnett im Licht der Kameraführung und Regie, sein Fleisch, das trainiert und dabei weich ist wie das eines rundlichen Kinderkörpers, zögerlich, irritiert, aufbruchsbereit. Der Schwarz-Weiß-Film lässt die Zuschauer sich den Körper ausmalen. Er ist die Verbildlichung - denn im Film ist der Körper gefilmter Körper eines Darstellers, der eine Rolle verkörpern will - dessen, was in Augustinus Bekenntnissen distentio animi heißt, die Zerspannung der Seele zwischen Erinnerung, Gegenwart und Zukunft, die Zerrissenheit zwischen schmerzlicher Erfahrung, Beharren, Sehnsucht, das wilde Bereuen und die gigantische Hoffnung, das schale Jetzt, der aufleuchtende Moment Friede.


Jim ist der Seelenwanderer und Seelenführer im Roman und im Film erst recht. Er ist derjenige, der das Licht kennt und trübt. Er ist die Position, wie die Hauptfigur Isabelle, die mit dem Rechtsanwalt Jakob verheiratete Grafik-Designerin, deren Privation ist - deswegen ziehen sie sich an. Nur dem Anschein nach ist aber er das Extrem, sie das Vage, Verschwommene. Das Extrem sucht sie. Er sucht Erlösung, Sha'ath Chessed, den Moment der Gnade, wie man im Hebräischen sagt. Im Film, stärker als im Buch, gibt es einen Index auf die Erlösung, die zwei einander nicht gewähren, aber andeuten können, sie ist für beide dieselbe.

Die Freiheit liegt nicht darin, dass sich Jim für Isabelle und Isabelle gegen Jim entscheidet, sie liegt darin, die Kontingenz der Entscheidung zu sehen, trotzdem zu bewahren, was man ausgeschlagen hat, ohne es auszuspielen gegen das, was man wählte, ohne zu verleugnen, was als der schimmernde Hof der gefällten Entscheidung bleibt. Menschen sind mehr Möglichkeit als Faktisches. Sie atmen mit dem, was denkbar ist, sie empfinden, was geschehen könnte, sie reichen in die Sphäre ihrer Träume. Unsere Würde liegt in unserer Imaginationskraft, auch unsere Verletzlichkeit.


Das Mögliche ist aber nicht das Unbestimmte, es ist Potenz. Und während vielleicht Isabelle glaubt, zu verschwimmen in den Möglichkeiten ihres Lebens und sich deswegen nach Eindeutigkeit sehnt, hat sie noch keinen Begriff  davon, wer sie sein könnte und will.

Ganz anders Jim. Jim träumt. Jim träumt von dem Garten, in dem er, im Schatten eines Kirschbaums, mit seiner Liebsten Mae sitzt und Tee trink. Jim ersehnt sich den Frieden, Jim erträumt sich die Liebe, und er wehrt sich gegen das, was ihn hindert und deformiert und einengt. Vielleicht wirkt deshalb Isabelle, wie Julia Jentsch sie spielt, ziellos, ungestillt (ohne klare Sehnsucht), unpräzise, ohne den Impuls, den man Jim ansehen kann.

Der Schwarz-Weiß-Film kann dadurch, wie er seine Mittel einsetzt, komplexer sein als das Buch. Er zeigt, wie Zwiespältigkeit, Verworfenheiten, das Zerfranste der Protagonisten körperlich werden. Er zeigt ihre Haut. Natürlich zeigt jeder Film Gesichter und fast jeder zeigt Haut. In den Aufnahmen des Kameramanns Robert Binall aber sieht man den Körpern an, wie sie die Vergangenheit in sich aufgenommen haben, in der Gegenwart empfinden und in die Zukunft hineinreichen.


Jims Körper ist beispielhaft. Obwohl die Schultern und Arme, der Hals, der Oberkörper die eines muskulösen Mannes sind, zaudert das Fleisch, seine Bewegungen verlieren sich in Erinnerung oder Hoffnung. Der feste Körper ist nicht stabil und geradeaus. Es ist auch nicht eine empfindsame Seele, die hindurchscheint. Das Zusammenspiel (und das Gegeneinander) von Reflexion, Licht, Spiegelung, Beweglichkeit, Geste, Gesichtsausdruck, Aufleuchten der sehr hellen Haut, Körper im Wasser, Blick ist so komplex wie es eine Seele mit ihren Regungen nur sein könnte.

Was ist die Seele? Ausdruck und Empfindung, Gedächtnis und Hoffnung und Angst. Nehmen wir noch einmal Augustinus Beschreibung (wie Ricoeur sie fasst) des Verhältnisses der Seele zur Zeit. Distentio animi, die Zerspannung der Seele, aufgespannt oder zerrissen zwischen der Gegenwart des Vergangenen und der Erwartung des Zukünftigen, während der Augenblick immer schon verschwunden ist und weder sich selbst noch Vergangenheit oder Zukunft fest fassen kann. Die Sehnsucht ist deswegen die intentio animi. Der Frieden. Die geglückte und glückhafte Versammlung der eigenen Zeiten, bei Augustinus in der Anschauung Gottes.

Intentio animi, die Aufmerksamkeit, die weder hastet, noch etwas verliert. Die Seele auch, die es sich leisten kann zu empfinden, weil sie nicht im Schmerz oder in Angst ihre eigene Zerstörung fürchten muss. Die Seele, die Ausschau halten darf, weil, was sie sehen wird, nicht so entsetzlich ist, dass es sie zerstörte.

Das ist die Seele und auch der Körper, der sich voller Sehnsucht nach etwas ausstreckt, voller Angst zurückschreckt. Hofft.

Der Film zeigt, dass Jims Körper der vielfältigste ist, erschüttert und erschütterbar. Er zeigt das Gesicht des misshandelten Kindes Sara in ihrer merkwürdigen gefangenen Unendlichkeit. Wie gesagt ist "Jims Körper" der Körper des Mannes Guy Burnet, der gefilmt ist, wie er es unternimmt, eine Romanfigur, die in ein Drehbuch übersetzt ist, darzustellen. Und das sieht man auch, der Film macht keinen Hehl daraus. Er behält seine Perspektive und suggeriert nicht, man sähe ja selber die Leute. Er ist schwarz-weiß. Es gibt ein paar Szenen, wo die Darsteller im Spiegel gefilmt sind, die Kamera nimmt das zweidimensionale Spiegelbild und gibt es weiter.


Wie unmittelbar der Eindruck, den ich aus dem Film mitnehme, auch sein mag, wie bewegend und anhaltend, er ist es nie, weil ich denke: da ist das Leben selbst. Deswegen möchte ich eine Formulierung Adornos variieren, die Mimesis ans Bestehende, das ist, in einem realistischen Roman, die ans Natürliche. Man fühlt sich nahe, das ist der Witz an der Sache und das Tolle daran. Wo das eigene Leben gerade ereignis- oder liebesarm, saugt man begierig auf, was geschrieben steht, damit man das Leben nicht vergisst. Es gibt Zeiten, in denen sich das Leben versteckt. Aber es gibt auch ganz andere Zeiten.

Was ich dem Film Die Habenichtse hier zuschreibe, ist das Umgekehrte, eine Mimesis ans Künstliche, ans Artefakte. Das Wort passt besser, wenn ich es als durch Kunst entstanden verstehe oder als Faktum von Kunst und Kunstfertigkeit. Als Zuschauerin bin ich nicht mitgerissen, weil ich vergesse, dass ich einen Film gucke. Ich bleibe mir bewusst, daß es ein Film ist, ich sehe, indem ich mitleide, hoffe, begehre, dass ich etwas mit Bedacht Hergestelltes sehe. Das ist weit mehr als Machart oder künstlerischer Ausdruck, den ich da sehe. Es sind die subjektive Nachdenklichkeit und der Formwille von Regisseur, Drehbuchautorin, Kamermann und Schauspielern. Wie absurd, dass Kunstwillen herabsetzend gebraucht werden kann! Was sonst erwarte ich von Künstlern?

In ihrer Würde scheinen die Figuren sich in ihrer eigenen Kontingenz zu begreifen, darin, dass jede ihrer Entscheidungen - als bloß eine von vielen denkbaren - nie endgültig ist, sich nie endgültig gegen andere verteidigen ließ. Sie aktualisieren sich, alles andere bleibt möglich und vielleicht vergangen, es bleibt aber sichtbar und vergeht nicht zu nichts. Sie sind nie endgültig, sie können nicht überzeugend sein im Sinnes eines: Es wäre ja anders nicht möglich gewesen! - diese fade Proklamation von viel Kunst.

So begreift man, dass es gerade dies ist, was Menschenwürde ausmacht, nämlich wie man sich dazu verhält, nicht notwendig zu sein, sondern kontingent, zufällig, bemüht strampelnd um Bedeutung. Die Freiheit besteht darin, eine Entscheidung getroffen zu haben und alles andere noch zu sehen. Die Schaudern machende, überbordende Komplexität unseres Lebens muss nicht geklärt und reduziert werden, damit wir wieder atmen und glücklich sein können; sie ist der Ort unserer Freiheit und Großzügigkeit.

Menschenwürde hängt nicht davon ab, frei und unbedingt Entscheidungen zu treffen, die das eigene Leben bestimmen, sondern mit den zufälligen, beiläufigen, fehlbaren zu leben, ohne verleugnen zu müssen, dass es hätte anders sein können, dass es anders werden kann, dass es keine Gewissheit des Richtigen und Falschen gibt, sondern Möglichkeiten und ausgeschlagene Möglichkeiten, Dinge, die einem verwehrt bleiben, solche, die man nicht in Erwägung gezogen hat. Und dass es essentiell zum Menschsein dazu gehört, zerdehnt, aufgespannt, zerrissen zu sein zwischen der Gegenwart des Vergangenen, der flüchtigen Gegenwart und der Gegenwart der Zukunft.

Die intentio animi, die aufmerksame, empfindende Seele, die alle drei Zeiten in sich birgt, veranschaulicht Augustinus an der Musik, am Gesang, der, während er das Lied anstimmt, schon den Fortlauf und das Ende des Stückes kennt und das Vergangene weiß, während er singt (und gesungen wurde).


Ein Mensch, der mit dem Gegebenen des eigenen Lebens lebt und es in sich zusammenfasst, in der Aufmerksamkeit der Welt gegenüber und dem, was ihm verwehrt bleibt, was anders hätte sein können, kann nicht Richter über andere sein. Er wird barmherzig bleiben, auch sich selber gegenüber. Eine der stärksten Szenen im Film spielt im Wasser, im Bathing Pond in Hampstead Heath. Anders als im Roman sind es Jim und Isabelle, die dort sind und ins Wasser gehen. Er hält sie, die im Wasser liegt, auf seinen Armen. Sie sprechen nicht, es gibt auch keine Musik. Man sieht, hört nur das Wasser, sieht seine Bewegung, die Leichtigkeit der Gesten, die trotzdem gravitätisch sind. Es ist die Möglichkeit von Güte und Vertrauen: eine Möglichkeit der Körper, die langsam sind und nachgiebig.

Es wird angenommen, was einen menschlich unmittelbar berührt, ist das Authentische, das Schlichte, Unverfälschte. Ich kann mit der Idee des Authentischen nichts anfangen und misstraue ihren Verteidigern. In der Kunst bewegt mich nicht das sogenannte Unverfälschte, Echte, sondern das Artifizielle, das, was sichtlich gemacht und hergestellt ist, das sich eine Form schafft, die auch anders sein könnte, aber schön ist und gültig, ohne mich zu überwältigen. Ich ziehe vor, was mich am Platz lässt, vielleicht enthusiastisch, aber auch mit einer Distanz, mit dem Abstand zwischen Empfindungen, Eindrücken, zweifelnder Verwunderung Fragen zulässt, auch alternative Beschreibungen.

Natürlich kann man danach streben, die einzig richtige Beschreibung zu finden. Beschreibungen sind aber immer beweglich, vielfältig, sie lassen sich ins Unendliche ausdehnen, auf einen Punkt zusammenschnurren. Einen richtigen Satz finden - ja. Aber den richtigen, den einzig richtigen Satz? Was für ein trauriger Gegenstand würde das sein.

Es gibt Sätze, die versuchen, eine Sache zu umfassen, zu umschließen, vielleicht abschließend zu beurteilen. Es gibt Sätze, die versuchen, den Blick auf eine Sache zu öffnen und Gedanken darüber hervorzurufen. Die Weise, wie Wörter dann gebraucht werden, unterscheidet sich, denn sie müssen nicht so sehr treffen wie widerhallen, und sie sind, während sie verwendet werden, gleichzeitig das Medium, durch die ein Ding betrachtet wird, indem Nebenbedeutungen, gleichklingende Wörter, verwandte Wörter und vorangegangene Verwendungen dazu summen und vielleicht etwas beizutragen haben.

Ein Wort, das seinen Gegenstände treffen will, muss abgeschlossen sein, zuweilen ist es tödlich. Ein Wort, das seinen Gegenstand umranden oder nachzeichnen will, kann sich öffnen. So auch Bücher und Filme. In dieser Perspektive werden die Dinge und Verhältnisse und Menschen um vieles komplexer.

Das Komplexe gilt als zweifelhaft und verwirrend. Deswegen werde ich gefragt, warum ich nicht einfacher schreibe -. Wären die Bücher dann nicht klarer, zu Herzen gehender? Das glaube ich nicht. Man will uns oft weismachen, das Einfache, die unverstellte Lebensgeschichte, sei das, was Menschen berührt. Zweifellos gibt es Menschen, die sich nach dem Einfachen sehnen. Aber viele bewegt, was komplex ist und sich unter einer Beschreibung ausfaltet, vervielfältigt, unübersehbar wird. Es bewegt und tröstet. Dem, was kompliziert, widersprüchlich ist und struppig, kann ich mich anvertrauen. Es will mich nicht belehren, wo mein eigenes Leben ungeformt und verworren ist, sondern anzeigen, was noch möglich wäre und denkbar. Es lehrt mich auch, dass die Wünsche nicht Vorläufer ihrer prompten Erfüllung sind, sondern Boten von Träumen, Ausläufer von Wehmut, Agenten der Sehnsucht und meines Mitempfindens.

(Anders gesagt: mich macht Komplexität glücklich. Manchmal kann man gut etwas Ausschneiden und sich daran freuen. Man kann sich an etwas Schlichtem sehr erfreuen, zweifellos. Ob lange oder nur kurz, ist eine Frage des Temperaments und des Geschmacks, nehme ich an. Wo aber etwas schlicht sein und bleiben muss, ist es bald eng und einfältig. Literatur ist dafür nicht da. Und zum Glück auch nicht immer Literaturverfilmung.)

Katharina Hacker
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