Essay

Teilen, nicht herrschen

Von Hazel Rosenstrauch
08.08.2016. Arno ist ein Büchermensch, mein Sohn programmiert. Da ist zum Beispiel von "Migrations-Werkzeugen" die Rede. Kontext, Methoden und Services sind wichtige Vokabeln, manchmal ähnlich oder ganz anders verwendet, als ich das kenne. In diesem Bruch ist eine Kontinuität. Von Hazel Rosenstrauch
Wenn ich an Arno denke, denke ich an die Frühzeit der taz und dann an Zeiten, in denen er als eine Art "elder statesman" an den Reihen der Mitarbeiter vorbei spazierte, von Jungredakteuren um Rat gefragt wurde und gelassen bis gütig Hinweise gab. Er mochte kluge Frauen und hat, soweit ich mich erinnere, auf Anfragen geantwortet, die übersandten Texte zumindest kurz kommentiert, Vorschläge gemacht und - wie wir damals sagten - sich mit seinen Autorinnen auseinander- (und zusammen)gesetzt.

Manchmal schlug ich was vor, manchmal er, es gab keine Zensur und der Ton war freundlich. Man besprach Artikel oder wichtige Ereignisse, traf einander in Kneipen, in der Goethestrasse oder auf Buchmessen, war quasi in der gleichen Blase gefangen. Und es gab Honorar. Tempi passati.

Als wir aus der taz herausgewachsen waren, veränderten sich auch nach und nach die Umgangsformen, Sprachen und Blickrichtungen. Meine Bücher haben Arno dann offenbar nicht mehr gefallen, oder er hat sie - weil er so hohe (moralische, vielleicht auch literarische) Maßstäbe hat, aus Freundschaft nicht rezensiert.
Klagen über den grassierenden Sittenverfall im scribbelnden Gewerbe erstrecken sich auf alle Medien und Redaktionen, viele meiner Alters- und Berufsgenossinnen ergänzen meine Berichte von mäßig freundlichen, unmäßig arroganten oder schlicht schlichten Textabnehmenden (sic!). Vielleicht hatten wir alle damals mehr Zeit, es ist jedenfalls schwierig und selten geworden, dass man nach einem übersandten Artikel, auf Anfragen und Vorschläge überhaupt eine Antwort bekommt oder gar über den Inhalt diskutiert. Man darf froh sein, wenn irgendeine Reaktion kommt, womöglich gar ein "Danke", und die fällt - dem Medium Mail sei dank - (meist, nicht immer) kurz und unhöflich aus. Von Honoraren wollen wir gar nicht reden.

Die alte Garde ist pensioniert, und vermutlich beherrsche ich den Code der neuen Redakteurinnen nicht. Alle sind überlastet, das Format ist wichtiger als der Inhalt, immer strengere Regeln unsichtbarer Instanzen schränken die gatekeeper angeblich oder wirklich ein. Meine Wahrnehmung ist sicher beschränkt, aber auch von Kolleginnen höre ich, dass festangestellte Wächter über die Artikel gerne in den Texten rumfummeln, weil sie ja wissen, was die Leser wollen. Lieblose Verwalter dominieren den Kulturbetrieb, ob Text, Musik oder Kunst. Dass junge Redakteure, auch -innen, mit den Überlegungen von uns Oldies nicht viel anfangen können, gehört zum natürlichen Generationswechsel, darum geht es nicht, es sind auch keineswegs primär die Jungen, deren Habitus kulturpessimistischen Tratsch provoziert.

Die neuen Medien, mangelndes Geld und fehlende Anzeigen, tatsächliche oder unterstellte Wünsche der Leserinnen, neue Herausforderungen etc., all das sind gute Argumente dafür, dass der Lauf der Zeit eben Veränderungen mit sich bringt und das war ja immer schon so.

Und dann tauchen aus den merkwürdigsten Ecken Projekte und Initiativen auf, elektronische Zeitschriften, die auf Qualität achten, Gönner, die schwierige Musik finanzieren, Salonièren, die Künstler einladen, deren Können im etablierten Kulturbetrieb keinen Platz hat, und sogar neue Kleinverlage, die mit Crowdfunding dem Abgesang auf das Gewerbe trotzen. Die Schere zwischen denen, die wahrgenommen werden und mit ihrer Kunst noch Geld verdienen, und denen, die nebenberuflich, selbstausbeuterisch, auf Schuldenbasis oder sonstwie prekär noch ein bisserl schreiben, musizieren oder malen können, ist, welch Wunder, größer geworden.

Bevor ich über die verschwundene, keinesfalls verlorene Zeit klage, gedenke ich eines wichtigen Ereignisses, das ich mit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts assoziiere. Erinnerungen sind bekanntlich Fälschungen, und mein Gedächtnis war noch nie gut. Aber ein Artikel, der vielleicht noch irgendwo in den Papierbergen auf meinem Hängeboden ruht, hat seinen festen Platz in meinen Nacherzählungen. Ich ging mit großen Schritten auf mein vierzigstes Lebensjahr zu und weiß noch den Titel des Beitrags, weil ich aus gegebenem Anlass verschiedenen Freundinnen öfter tröstend davon erzählt habe. Die Überschrift lautete: "Ein Single kann selten allein. Von der Hagestölzin zur Schrulle." (Inzwischen frage ich mich, was ich mir damals wohl unter einer Schrulle vorgestellt habe, jetzt, wo ich viel besser als damals verstehe, was es bedeutet, schrullig zu werden.) Ich weiß auch noch, dass der Artikel mehreren Freundinnen aus dem Herzen sprach, eine erzählte mir Jahre später, sie hätte ihn an die Wand gepinnt. Es gibt aber noch einen viel wichtigeren Grund, weshalb dieses Werkchen für Aperçus nach dem zweiten Glas Wein geeignet ist. An dem Tag, als dieser Artikel erschien, wurde nämlich mein Sohn gezeugt. Ob und welche psychologischen Verstrickungen dabei mitgespielt haben könnten, interessiert mich nicht weiter. Weit wichtiger ist sein Beitrag zur Frage Nachwuchs und andere Sitten.

Er schreibt, wenn überhaupt, dann Programme. Und ist ein Anhänger der "open source", jener für manche ehrwürdigen Autorinnen gemeingefährlichen Überzeugung, dass Software frei im Netz verkehren sollte. Manchmal nimmt er mich mit zu den Treffen einer durch das Programm (also nicht eine Partei oder Ideologie) weltweit miteinander verbundenen Gemeinschaft, die ihre Software weiterentwickelt und dabei oft ein Vokabular verwendet, das ich gar nicht oder falsch verstehe. Da ist zum Beispiel von "Migrations-Werkzeugen" die Rede, womit die Rückwärtskompatibilität ermöglicht und Module integriert werden können (oder so ähnlich). Kontext, Methoden und Services sind wichtige Vokabeln, manchmal ähnlich oder ganz anders verwendet, als ich das kenne.

Die über die Welt verstreuten Bastler, die miteinander in einer Programmiersprache sprechen, haben Instrumente entwickelt, dank derer überholte ... tja, was denn, sagen wir überholte Dingsbums in neue digitale Welten einwandern können. Die Bedingungen für all die immerfort aktiven Mitwirkenden verbessern sich so fortwährend; und je mehr sich nun auch dieses Feld differenziert, umso stärker sind auch Programmierer, Designer, Projektmanager damit konfrontiert, dass Begriffe je nach Kontext Unterschiedliches meinen. Da gibt es dann Anknüpfungspunkte für transgenerationelle Gespräche auf Bahnfahrten oder Spaziergängen.

Diese digitalen Freaks sprechen von "Legenden" und natürlich von "links", die was anderes meinen als wir damals meinten. Zum Benimm-Code gehört, dass alle alles miteinander teilen. Jedes derartige Gespräch, dem ich zuhöre, vergrößert meine Chancen für eine Einwanderung in die mir fremde Galaxie. Letzte Weihnachten saßen wir zu mehrt vor dem Wildschweinbraten (weder kosher noch vegetarisch), und die jungen Leute unterhielten sich übers "coden". Der eine studiert an einer angesehenen-angesagten Universität, der andere (mein Nachwuchs) ist ein Selbstlerner. Die Konversation ging ungefähr so: L fragt J: hast Du Dein Programm veröffentlicht. J: Nein, ich habe Angst, dass da noch Fehler drin sind. Darauf L: Aber wenn Du es veröffentlichst, können Dir andere helfen, den Fehler zu finden. Hier stoßen alte und neue Denkweisen auch unter den gleichaltrigen Computerfreaks aufeinander.

Wenn ich beobachte, wie aufmerksam die jungen Leute bei ihren selbstorganisierten Treffen zuhören, wenn einer (seltener eine) seine neuen Entdeckungen, Codes, Abkürzungen bekannt macht, vergleiche ich als Oldie das mit Studierenden an "normalen" Institutionen, die gelangweilt auf ihren Handys rumdaddeln. Als einer seine Erkenntnisse vortrug und ein anderer meinte, das sei falsch, sagte der Vortragende "Danke" - und ich stelle mir vor, wie das unter "normalen" Akademikern wäre, da würden vielleicht nicht alle, aber doch viele Vortragende sich eher rechtfertigen oder gar erklären, dass sie es anders gemeint hätten.
Neulich schickte mir mein Sohn den "Code of Conduct", also die Benimmregeln, seiner community.

Da ist von gegenseitigem Respekt die Rede, von Kooperation mit der ganzen Welt, davon dass die Diversität der Ideen erhalten und gefördert werden soll.
DrupalCon is an international event that attracts diverse people from a wide variety of ethnic, cultural, and religious backgrounds. We acknowledge that cross-cultural communication can often be complicated and encourage everyone to consider both the impact of their actions on those with different backgrounds and experiences and the honest intentions of those who may have unknowingly caused offense. Und alle should strive to treat all people with dignity and respect, regardless of their culture, religion, physical appearance, disability, race, ethnicity, gender, or sexual orientation.
Alle sind willkommen, jeder kann und soll wenn nötig um Hilfe bitten und Iif and when misunderstandings occur, we encourage people to work things out between themselves whenever possible. People are encouraged to take responsibility for their words and actions and listen to constructively-presented criticism with an open mind, courtesy, and respect.

If people are unable to work out issues between themselves, they are encouraged to seek the advice of a mutually trusted third party or a designated community volunteer to help mediate.

We do not tolerate harassment of conference participants in any form. If you feel threatened or violated as a result of intimidating, harassing, abusive, discriminatory, derogatory or demeaning conduct, please immediately notify a conference staff member. Likewise, please immediately notify a staff member if you notice that someone else is being subjected to such behavior.

Jetzt muss ich den Nachwuchs noch fragen, wie man das durch den Übersetzungsautomaten jagt und welche feuilletonistische Perle dabei herauskommt.
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Der Tipp, den ich bekam, hat funktioniert, ich habe es mit einem Absatz ausprobiert und bekam in Sekundenschnelle das Resultat:
Jeder Kann und soll, ideal für nötig um Hilfe und gebissen Falls und wenn Missverständnisse auftreten, wir ermutigen die Menschen, die Dinge zwischen ihnen zu arbeiten, wann immer möglich. Die Menschen werden ermutigt, ihre Worte und Taten zu übernehmen die Verantwortung für und hören konstruktiv präsentiert Kritik mit einem offenen Geist, Höflichkeit und Respekt.

Die e-Menschen verständigen sich quer über die Kontinente in einer Art Englisch, das aus Befehlen, Codes und innerhalb der community vertrauten Zeichen besteht. Das bringt mich zurück zu Arno, der mehrere Sprachen beherrscht, vieles im Original gelesen, Literatur und politische Entwicklungen in allen Kontinenten zur Kenntnis genommen hat. Im vorigen Jahrhundert nannten wir das weltläufig, kosmopolitisch und international (gelegentlich auch internationalistisch); etwas Ähnliches, wenn auch anderes steckt noch in den Worten multikulturell und global. Oder?
Es ist schwierig geworden für Büchermenschen, die von überholten Sitten und Gebräuchen geprägt sind und gerne differenzierte Gedanken, Zweifel und Reflexionen unterbringen wollen, nicht dem Kulturpessimismus zu verfallen. Gewiss aber ist, dass manche überholte Sitte aus Arnos (und meinen) jüngeren Jahren - in veränderter Konsistenz - neue Anhänger gewonnen hat.

Das Glas ist halbvoll, manchmal.