Essay

Widmanns Verwandlung

Von Christian Bommarius
08.08.2016. Er vergisst niemals, dass das Lächeln die Aufmerksamkeit, die es sucht, nur findet, wenn es als vermeintliche Rarität auftritt, vergleichbar dem Diamanten, der als Solitär heller zu funkeln scheint als in Gemeinschaft mit seinesgleichen. Von Christian Bommarius
Wenn Arno Widmann lächelt, dann lächelt er nicht, sondern wird zum Lächeln. Er verwandelt sich. Nicht wie sich ein Schauspieler verwandelt. Der zieht die Augenklappe auf und hängt sich einen Bart um, dann sieht er aus wie ein Pirat, wirkt wie ein Pirat, geht herum wie ein Pirat - doch ist er kein Pirat. Aber Arno Widmann wird zum Lächeln. Es gibt niemanden, der Arno Widmann begegnet, ohne sein Lächeln zu bemerken. Und niemand, der einmal sein Lächeln gesehen hat, wird es jemals vergessen. Gewöhnlich ziehen Menschen die Mundwinkel hoch, um ein Lächeln zu zeigen, bei Arno Widmann lächelt der gesamte Arno Widmann von der glänzenden Schädeldecke bis zu den Fingerspitzen. Der Mund führt nur Regie.
Wie jeder gute Regisseur verfügt er über einen unfehlbaren Sinn für das richtige Timing, und er vergisst niemals, dass das Lächeln die Aufmerksamkeit, die es sucht, nur findet, wenn es als vermeintliche Rarität auftritt, vergleichbar dem Diamanten, der als Solitär heller zu funkeln scheint als in Gemeinschaft mit seinesgleichen.

Arno Widmann lächelt oft, aber nie ohne das Bewusstsein zu lächeln. Wie seine Sprache, ist auch sein Lächeln gewählt. Und wie der Fundus an Worten, über den Arno Widmann verfügt, unermesslich ist, lassen sich auch die Varianten, die Schattierungen und Nuancen Arno Widmanns Lächeln kaum bestimmen. Begegnet er dem Blick eines lächelnden Kindes, blickt Arno Widmann mit einem Lächeln zurück, so mild und zart, als habe er es aus einem Marienbild der italienischen Renaissance gestohlen. Bemerkt Arno Widmann in der U-Bahn eine Frau, die ihm gefällt - die Wahrscheinlichkeit ist groß -, wird sein Lächeln zu einer Feier der Schönheit, mild und zart, aber bestimmt nicht aus einem Marienbild entwendet, wird lächelnde Anbetung, die nur die hartgesottenste Figur des Feminismus - ein Feminist - mit plumper Lüsternheit verwechseln wird. Erzählt Arno Widmann von einem Buch, dem er eine überraschende Einsicht, eine verblüffende Erkenntnis oder eine Antwort verdankt, die ihm eine neue Frage ermöglicht, dann wird sein Lächeln zu einer Manifestation der Dankbarkeit und zu einem Hochamt der Demut.

Worte können töten, Arno Widmanns Lächeln kann es auch. Die Kunstfertigkeit, mit der Arno Widmann sich seines Lächelns als Waffe bedient, erinnert nur auf den ersten Blick an den Gebrauch der Garrotte durch versierte Henker. Denn anders als die Schlinge, die von hinten um den Hals des Opfers gelegt und mit einem Stock langsam zugedreht wird, bis der Tod eintritt, fährt Arno Widmanns Lächeln blitzschnell von vorne an den Hals des Delinquenten, der davon nichts bemerkt, weil Arno Widmanns Lächeln in demselben Augenblick sein tödliches Werk verrichtet. Es geschieht nicht häufig, dass Arno Widmann sich als lächelnder Henker betätigt, denn Arno Widmann ist im Prinzip ein friedlicher Mensch, aber wenn es geschieht, ist es unfehlbar um sein Opfer geschehen.

Bis heute wird in der Redaktion einer Berliner Zeitung von der Hinrichtung eines hohen Funktionärs der evangelischen Kirche erzählt, dem der Ruf vorausging, ein begnadeter Prediger und unübertrefflicher Redner zu sein. Der Kirchenmann, Professor der Theologe, Schwerpunkt Ethik, war zum Redaktionsgespräch geladen, aus dem aktuellen Anlass eines Krieges in Irak, gegen den der Theologe bereits mehrfach entschieden Einspruch eingelegt und diesen mit den Worten und dem Geist der Bergpredigt begründet hatte. Arno Widmann hörte zu mit ernster Miene. Er hörte, wie der Kirchenmann mit glatten Sätzen gegen den ungerechten Krieg Protest einlegte, wie er die Bergpredigt mit einem falschen Zitat als Zeugin seiner Anklage aufrief, wie er Dutzende Artikel des Völkerrechts aufmarschieren ließ, als wären sie Messdiener des heiligen Geistes, wie er auf Parteiprogramme und Parteitagsbeschlüsse verwies, auf Entschließungen kirchlicher Gremien, auf Forderungen kirchlicher Friedensgemeinschaften. Arno Widmann hörte und schwieg. In der Sekunde aber, als der Kirchenmann befriedigt und erschöpft zum Ende kam, wurde Arno Widmann zum Lächeln, das Lächeln zur Garrotte, und Arno Widmann rief: "Ich bin der gleichen Ansicht wie Sie, Herr Professor. Und wie Sie, Herr Professor, brauche ich dafür keinen Gott."