Essay

Rekonstruktion der Mitte

Von Max Thomas Mehr
15.03.2017. Mit Emmanuel Macron versucht erstmals ein ernstzunehmender Demokrat die defizitär gewordene repräsentative Demokratie aus den Hinterzimmern der politischen Klasse herauszuführen, sie zu transformieren und ihr wieder zu mehr Legitimation zu verhelfen. Weder das politische Retrodesign eines Martin Schulz, noch die Verwaltung der Stadt Berlin nach den Vorstellungen von Radfahrern und Mieterinnen können dazu eine Alternative bieten.
Heiliger Sankt Martin... Schulz. Erlöst uns der neue SPD-Star vom Wählerschwund der Sozialdemokraten und gibt uns die gute alte repräsentative Demokratie zurück, die schon so defizitär schien?  Oder ist der Hype um ihn eher Ausdruck der Sehnsucht nach einer verloren gegangenen Zeit, als die Welt noch klar in oben und unten und links und rechts sortiert war und dies in den Parteien ihre Entsprechung fand, während heute die Angst vor der digitalen neuen Arbeitswelt und der Globalisierung auch die sozialen Milieus neu sortiert.

Längst sind die Arbeiter nicht mehr das ewige Mündel der Sozialdemokratie und die gehobenen Angestellten und Manager nicht mehr die natürlichen Verbündeten der CDU - auch nicht die Landfrauen. Dass sich im Dunstkreis der FDP nur Steuerberater und Hoteliers herumdrücken, bei den Grünen Lehrer und Sozialarbeiter und bei der Linken die alten Spießer der einstigen SED aus den Plattenbauvierteln, darf bezweifelt werden. Wo sich das immer größere Heer der Jobhopper am Laptop, die "Generation Prekär" und die "global citizens" der start-up Szene politisch einsortieren, wissen auch die Sozialwissenschaftler nicht so genau. Und in der Politikwissenschaft lässt sich, wie im Feuilleton, trefflich darüber streiten, ob Angela Merkel eigentlich in der "richtigen" Partei sei. Oder ist sie doch ein U-Boot der SPD oder gar der Grünen?

Parteien und soziale Milieus in der Gesellschaft sind sich fremd geworden. In den letzten dreißig Jahren hat allein die SPD die Hälfte ihrer Mitglieder - annähernd 450.000 - verloren. Wo also findet heute eigentlich politische Willensbildung statt? Die Talkshows im abendlichen TV-Programm sind bestenfalls Stammtische der über Sechzigjährigen. Auch die Zeitungsleser sind ja bekanntlich eine aussterbende Spezies, genauso wie die Ortsvereine der Parteien.

Was sind überhaupt die zentralen politischen Items der "digital natives"? Sind tatsächlich die Facebook-Blasen mit all ihrem diffusen Verschwörungsgeblubber die neuen Orte politischer Willensbildung oder irgendwelche Snapchat-, Whatsapp-Gruppen oder Youtube-Channels?

Während sich in den Ortsvereinen der Sozialdemokraten fast nur noch die Rentner der Industriegesellschaft und deren Funktionäre und bei den Grünen die des Straßenprotestes  samt Funktionären sammeln, werben überall in Europa neue Parteien des Populismus erfolgreich um die immer größere Schar der volatil gewordenen Nicht-  und Wechselwähler.

Sie heißen Syriza, Podemos, Fünf Sterne, Front National, Partij vor de Vrijheit und bei uns AfD. Sie sehen sich als Linke oder als Rechtspopulisten, sie eint vor allem eines: Sie wollen gleich das ganze System der repräsentativen Demokratie schleifen.  

Mit Emmanuel Macrons Bewegung "En Marche" für die Präsidentschaftswahl im Mai in Frankreich ist zum ersten Mal eine - wenn man so will - populistische Partei der Mitte entstanden.  Sie stellt sich den Bürgern nicht in Talkshows und Ortsvereinen, sie lädt sie an einem Wochenende  im März in tausend Cafés und kleine Theater im Großraum Paris zum Palaver über ihre politischen Ziele ein. Sie will den Bürger, den Citoyen ansprechen, ohne ihm von vornherein den Stempel links(-liberal) oder rechts(-konvervativ) aufzudrücken. Macron ist 39 Jahre alt. Er wagt sich ganz ohne Ortsvereine und Parteistrukturen in den Präsidentschaftswahlkampf, gibt sich europafreundlich und plädiert für eine geregelte maßvolle Willkommenskultur in der Flüchtlingskrise Europas.

Er scheint erkannt zu haben, dass ohne den Citoyen und seinen am Gemeinwohl orientierten politischen Willen die repräsentative Demokratie Maß und Mitte verliert und scheitern kann. Macrons Bewegung wird so vielleicht  zur Antwort auf die Sklerose unserer sinnentleerten Parteienaufstellung. Eine andere Antwort kann man gerade in den Niederlanden beobachten, wo zehn oder zwölf Parteien ins nächste Parlament einziehen und Geert Wilders' Rechtspopulisten vielleicht zur stärksten politischen Kraft mutieren. Welchen politischen Wert hat es dann eigentlich noch, dass die Grünen ihren Stimmenanteil dort möglicherweise vervierfachen können? In Deutschland soll die Aufstellung Schulz gegen Merkel die alte Parteiensstruktur noch einmal retten.

Und wenn das nicht hilft, sollen mehr Volksentscheide die Entfremdung zwischen politischer Elite und Bürger kitten. Fragt sich nur, ob der lautstarke Lobbyismus der Pressure-Groups, die in der Regel die Kampagnen für Volksentscheide initiieren und begleiten, die Entfremdung zwischen Bürger und Politischer Klasse nicht noch eher verstärkt. Der neue rot-rot-grüne Senat in Berlin ist ein gutes Beispiel dafür. Er geht sogar noch einen Schritt weiter: Aus dem langen Marsch durch die Institutionen, den einst die APO propagierte, ist der kurze Weg von der Nichtregierungsorganisation (NGO) an die Hebel der Macht geworden. Der an seiner Stasivergangenheit gescheiterte Staatssekretär, Gentrifizierungsgegner und Haubesetzungsaktivist André Holm, ist das bekannteste Beispiel. Auch die Senatorin für Verkehr und Umwelt ist direkt vom World Wide Fund (WWF) auf die Regierungsbank gewechselt. Nun muss sie vor allem Fahrradwege bauen, statt marode Straßen zu sanieren, die Rad-Aktivisten befrieden, statt gemeinwohlorientierte Verkehrspolitik zu gestalten.

Radfahrer und Mieter - vor allem die besonders lautstarken im sozialen und städtischen Wohnungsbau - sollten sich allerdings damit auseinandersetzen, dass sie nur eine kleine Minderheit in der Stadt sind und meist in besonders günstigen Wohnungen leben. Die Generation, die diese Kultur politischer Auseinanersetzung prägt, zeichnet sich durch einen moralischen Rigorismus aus, der aus der Protestkultur auch dann nicht herausfindet, wenn er an der Macht ist. Den Citoyen repräsentieren diese Minderheiten nicht.

Auch wenn die "Volksparteien" - die in Wirklichkeit längst keine mehr sind - vemeintlich immer um die "Mitte" der Gesellschaft kämpfen, weil dort angeblich die Wahlen gewonnen werden, in Berlin kämpfen sie vor allem um die Ränder und haben es geschafft, so eine parlamentarische Mehrheit zu erlangen und zu regieren, obwohl sie nur von einer Minderheit, von 35 Prozent der Wahlberechtigten dazu legitimiert worden sind. Der Senat regiert also gegen Zweidrittel der Wahlberechtigten. Das "Berliner Modell"  der Ansammlung von Minderheiten zeigt jetzt schon: Checks and balances zwischen Minderheiten führen zu keiner irgendwie ausgleichenden oder höheren politischen Vernunft und auch nicht in die "offene Gesellschaft". Die kann es nur geben, wenn die politische Mitte eingebunden ist.

Der aufgeklärte Stadtbewohner und Citoyen, der für eine gemeinwohlorientierte Politik und nicht nur für seine egoistischen Interessen steht, bleibt außen vor. Er wandert ab in die immer größer werdende Schar der "schwebenden Wähler", wie sie in den Niederlanden genannt werden, die bei jeder Wahl ihre Stimme einer anderen Partei geben oder gar nicht zur Wahl gehen. Auch in Deutschland nimmt diese Wählergruppe rapide zu. Bei unseren Nachbarn sollen schon Zweidrittel aller Wahlberechtigten davon erfasst sein. Da wundert es nicht, dass ein Geert Wilders mit seinen Rechtspopulisten vielleicht zur stärksten Partei wird. Überall in Europa lösen sich die klassischen Parteibindungen auf oder entstehen erst gar nicht richtig, wie in Ostmitteleuropa - einzige Ausnahme sind dort die gewendeten Kommunisten.

Martin Schulz versucht nun mit der rhetorischen Figur des vermeintlich "vernachlässigten Kleinen Mannes",  letztlich auch "schwebende Wähler" wieder ins Parteimilieu, in die alten Strukturen zurückzuholen und die Linken in seiner Partei und auch die Linkspartei und die "Trittin-isten" bei den Grünen jubeln und träumen schon von Rot-rot-grün im Bund. Dabei wäre ein solches Bündnis überhaupt nur möglich, wenn die AfD stark im genug Parlament vertreten ist. Kann das ernsthaft Ziel einer politischen Kampagne des links-grün-alternativen Spektrums sein?  

Emmanuel Macron ist ein Gegenmodell zu Schulz und Rot-rot-grün in Berlin. Er versucht den Citoyen dort anzusprechen und politisch einzubinden, wo er sich bewegt, im städtischen öffentlichen Raum und nicht in den Vereinszimmern der alten Parteiendemokratie mit all ihren Funktionären. Macrons Bewegung ist der erste von einem Demokraten unternommene Versuch, die defizitär gewordene repräsentative Demokratie aus den Hinterzimmern der politischen Klasse herauszuführen, sie zu transformieren und ihr wieder zu mehr Legitimation zu verhelfen - auch wenn noch niemand weiß, wohin das führt.

Denn wenn der Citoyen nicht mehr im Zentrum für checks und balances sorgt und die Medien wie die politische Klasse insgesamt die Brüche im System unserer repräsentativen Demokratie nur versuchen herunterzudimmen  oder auszusitzen, dann sollten wir uns nicht wundern, wenn die Rechtspopulisten weiter Zulauf bekommen - überall in Europa und auch bei uns. Dass die klassischen Medien dabei einen ähnlichen Bedeutungsverlust erleiden wie die Parteien, verwundert noch weniger. Nirgendwo kann man das zur Zeit so gut beobachten, wie in Berlin.  

Max Thomas Mehr