Essay

Reale Naherwartung

Von Daniele Dell'Agli
19.08.2022. Denis Newiak erzählt in "Blackout" vom Nutzen und Nachteil der Fiktion fürs Überleben: Er überprüft Filme und Serien auf Szenarien, die jederzeit real eintreten können, etwa die eines totalen Stromausfalls und seiner Auswirkungen auf das Funktionieren unserer Gesellschaft. Damit leitet er womöglich einen Paradigmenwechsel der Medientheorie ein. Aber andererseits können auch dytopische Serien und Filme einen Paradgmenwechsel gebrauchen: hin zu zukunftskritischen Realfiktionen.
Liebhaber von Agentenfilmen dürften 2013 von den Enthüllungen Edward Snowdens nicht sonderlich überrascht gewesen sein, hatte doch Tony Scott in "Enemy of the State" bereits 1998 das ganze Ausmaß der NSA-Überwachung und der dazu eingesetzten Technologien zum Gegenstand eines virtuosen Action-Reißers (mit Will Smith und Gene Hackman) gemacht. Dass die Drehbuchautoren solcher Genrefilme nicht nur in Hollywood über authentisches Insider-Wissen verfügen, gerät über den Unterhaltungswert der Endprodukte leicht in Vergessenheit und wird von der Kritik allenfalls am Rande oder indirekt mit einem Lob für die Stimmigkeit der Plots vermerkt.

Der Medienwissenschaftler Denis Newiak hat nun dieses Rezeptionsverhältnis umgekehrt, um dem impliziten Wissen von Filmen und Serien nachzuspüren unter dem Gesichtspunkt, was wir von ihnen lernen können. Er hat zu diesem Zweck ein Science-Fiction-Genre gewählt, das seit gut drei Jahrzehnten nicht zufällig eine steigende Konjunktur verzeichnet: die Dystopie und ihre düsteren Visionen vom Ende unserer Zivilisation. Und er hat im Subgenre des Blackouts, also der dramaturgischen Bearbeitung der, wie sich im Zuge seiner Untersuchung zwingend herausstellt, größten anzunehmenden Katastrophe, ein sowohl lohnendes als auch in Zeiten zunehmender Energieknappheit denkbar aktuelles Objekt gefunden.

"Stromleitungen sind die Blutgefäße der modernen Zivilisation, der durch sie fließende Strom der Lebenssaft aller modernen Einrichtungen - vom Wasserhahn über die automatisierte Börse bis zum Internet", schreibt Newiak. "Mit einem flächendeckenden Stromausfall droht schnell ein Kollaps des gesamten modernen Lebens. Film und Fernsehen zeugen von dieser ständig präsenten, aber öffentlich und politisch unterschätzten Gefahr... In Filmen und Serien wird gezeigt, dass die moderne Gesellschaft als Ganzes wie auch die einzelnen Personen meist gänzlich unvorbereitet von dem flächendeckenden Stromausfall heimgesucht werden."

Vorweg informiert der Autor in einem gesonderten Kapitel über den Stand der Forschung zu den ganz realen "Stromkrisenszenarien und ihren Ursachen" sowie der  Mahnungen, endlich Vorsorge zu treffen, die bei der Politik bislang ähnlich ungehört verhallt sind wie seinerzeit die Expertengutachten zur Pandemie-Vorsorge. Zweifellos ein weiterer Grund, für den spielerischen Umgang dieser Problematik in den einschlägigen Fiktionen zu werben, die über Film und Fernsehen überdies ein größeres Publikum erreichen als die sperrigen Abhandlungen der Fachliteratur (über Computerspiele, die für den garantierten Spaßfaktor des Survival-Horrors die Auseinandersetzung mit dem Thema größtenteils verschenken, müsste man gesondert sprechen). Dazu führt Newiak eine beeindruckende Riege von Dutzenden Spielfilmen und mehr als ein halbes hundert Serien als Kronzeugen auf, darunter die bemerkenswerten deutschen Produktionen "Blackout" und "Tribes of Europa", die er ausführlich und didaktisch pointiert vorstellt. Wollte man eine Quintessenz aus seinen Analysen ziehen, so wäre dies die, dass Humanität, wie wir sie kennen, ein unvorstellbar dünner Firnis über anthropologisch invariante Potenziale der Bestialität ist.

Nun ist diese Erkenntnis nicht gänzlich neu, zuletzt hat uns die schwarze Anthropologie Wolfgang Sofskys in wünschenswerter Deutlichkeit auf die  allzumenschliche Unvermeidlichkeit real existierender Dystopien wie Krieg, Terror und Amok eingestimmt. Beim Blackout jedoch geht es um einen Totalausfall sämtlicher Sicherungen unserer Existenzbedingungen, der uns jederzeit wie aus dem Nichts überrumpeln kann. Denn unsere zivilisierten Umgangsformen einschließlich der sie garantierenden rechtsstaatlichen Ordnung hängen buchstäblich am Draht der Stromversorgung. Man kann sie zwar nicht darauf reduzieren, einzig Produkt jener komfortablen Lebensbedingungen zu sein, die erst durch die Elektrizität möglich geworden sind, aber ohne diese sind sie nicht oder nur noch kurze Zeit aufrecht zu erhalten. Dem elektrotechnischen folgt der mentale Blackout, dem Zusammenbruch der materiellen Ordnung folgt jener der symbolischen Ordnungen mit unwesentlicher Verzögerung und nach spätestens zehn Tagen Stromausfall, darin sind sich Katastrophenschutzexperten und Drehbuchautoren einig, droht mit dem bellum omnium contra omnes um die kostbaren Restressourcen nicht nur das Ende des Kapitalismus und seiner Komfortzonen, sondern eine Rückkehr in vormoderne Lebensformen mit größtenteils nicht mehr revozierbaren Zivilisationsverlusten.

Auch deshalb legt Newiak größten Wert auf die praktischen Hinweise, die man den  vielen audiovisuellen Variationen des Themas entnehmen kann (und die er abschließend in einer "Checkliste" auflistet): "Wenn Blackout-Filme und Serien eines verbindet, dann ist es das geteilte Bewusstsein dafür, dass Vorsorge im Kleinen wie im Großen vergleichsweise einfach... zu haben ist: Jede oder jeder Einzelne kann mit einem angemessenen Vorrat an Lebensmitteln, Wasser und Medikamenten, einem batteriegetriebenen Radio, einer Powerbank und einem Campingkocher leicht Vorbereitungen treffen, einen flächendeckenden Blackout besser durchzustehen...." Dass man dem Ausbruch anarchischer Egoismen am besten mit Solidarität pariert, glimmt als Hoffnungsfunke auch hin und wieder auf, wenn etwa in "Blackout" (Episode 3) Dorfbewohner sich beim Viehbauern einfinden, um mitzuhelfen, die Kühe zu melken, die sonst hätten getötet werden müssen, denn natürlich hängen auch die Melkmaschinen an der Stromzufuhr. Doch das bleibt eine vereinzelte Geste mit Ausnahmecharakter, wie sie wohl nur auf dem Lande denkbar ist.

Realistischer mutet da schon die Empfehlung an, genügend Bargeld in Reserve zu halten, die als Forderung an die Politik weiter zu reichen wäre, die von Finanzdienstleistern forcierte Abschaffung des Bargelds endlich ad acta zu legen - bei Strafe massenhafter Plünderungen, wenn bei Stromausfall niemand mehr mit Karte bezahlen oder vom Automaten abheben kann. Und nicht oft genug darf man daran erinnern, dass letztlich nur Solarpanele und/oder Windräder auf dem Dach wirksam gegen einen Rückfall ins Mittelalter zu schützen vermögen (vorausgesetzt man verfügt über ein integriertes Speichersystem mit Batterie und Wechselrichter!). Die verallgemeinerbare Devise, bei einem Unheil, das man weder aufhalten noch vermeiden kann, Vorkehrungen zur Minderung seiner Folgen zu treffen, nimmt so gesehen mit der Vorsorge für gegen den Blackout - von dem nur fraglich ist wann, nicht ob er eintritt - den einzigen Präventionsmodus vorweg, der uns im Zeichen des Klimawandels verbleibt. Eines Klimawandels übrigens, der als solcher keine "Katastrophe" ist, wie neuerdings trotzig behauptet wird, sondern ein evolutiver Prozess, der sich als endlose Verkettung katastrophaler Einzelereignisse unaufhaltsam durchs 21. Jahrhundert wälzen wird.

Das alles mag pragmatisch naiv anmuten, kündet aber gleichwohl von einem neuen Umgang mit der Parallelwelt der Fiktionen, dem durchaus ein neues Bedürfnis entsprechen könnte. Die These: wenn die Schreckenszenarien - zum Beispiel die eines Blackouts - an Wahrscheinlichkeit gewinnen, die digitale Simulation an Leinwänden und Bildschirmen zum Ernstfall im eigenen Wohnzimmer zu werden droht, schwindet bei den Endabnehmern die Ambivalenz der narzisstischen Angstlust, die habituell den Horrorgenuss begleitet. An Stelle des Thrills tritt die interessierte Sorge ums nackte Überleben, die reale Naherwartung eines möglichen Ausfalls lebensnotwendiger  Infrastrukturen löscht die mythischen Codes der rituellen Apokalypse-Faszination. Der gewöhnliche Alltag verspricht nun selbst spannend zu werden, wenn auch auf eine Weise, auf die wir gern verzichten würden.

Soweit die vorsichtige Projektion eines denkbaren Paradigmenwechsels, dessen medientheoretische Voraussetzungen allerdings streitbar sind. Niewak selbst orientiert sich an einem Modell, demzufolge Filme und Serien offen zu legen vermögen, "worauf es in Politik und Wirtschaft, Kultur und Kunst, Wissenschaft und Lebensführung ankommt" (Angela Keppler), was impliziert, dass die relevanten Themen erkannt und mit dem nötigen Sachverstand bearbeitet werden. Zumindest für gegenwartsbezogene Dramaturgien gilt das nur bedingt; so kann man Auseinandersetzungen etwa mit der Macht des Finanzkapitals pro Jahrzehnt an einer Hand abzählen. Die wenigen Versuche, in diese wenig transparente und zugleich extrem komplexe Materie einzudringen (zuletzt die Serien "Bad Banks" und "Billions") kreisen überdies weitgehend selbstreferenziell um interne Macht- und Konkurrenzspiele, ohne den Horizont ihrer Auswirkungen für die Realwirtschaft und mittelbare Opfer der Spekulationsgeschäfte in den Blick zu nehmen.

Dass es demgegenüber ungleich mehr, paradox formuliert, zukunftskritische Realfiktionen gibt, hat zunächst mit den fürs Science Fiction-Genre notorischen Lizenzen zu tun: bei der Antizipation hypothetischer Ereignisse keine Rücksichten auf historisch dokumentierte Vorgänge nehmen zu müssen und der surrealistischen Ikonografie ihrer Geschichten dank Special effects freien Lauf zu lassen. Doch der entscheidende Impuls für dystopische Fantasien ist ein faktenbasierter  Gegenwartspessimismus, der aktuelle Trends in die Zukunft extrapoliert, nicht anders als es die Verfasser der "Grenzen des Wachstums" vor einem halben Jahrhundert taten, als sie prognostizierten, was seither mit dem Planeten  geschehen ist. In seinem Licht werden künftige Desaster (Naturkatastrophen, Cyberangriffe, nukleare Winter) kenntlich als zwangsläufige Folge einer ungebremst und unbelehrbar fortschreitenden Gegenwartsoptimierung. Dementsprechend sind sich Risiko- und Zukunftsforscher wie Ulrich Beck oder Eva Horn einig, dass "nur durch die Vergegenwärtigung, die Inszenierung des Weltrisikos die Zukunft der Katastrophe Gegenwart wird" (Beck). Fiktionalen Endzeitszenarien käme dann die mentalitätspsychologisch bedeutsame Aufgabe zu,  für die Bedrohung zivilisatorischer Standards und den jederzeit möglichen Einbruch des Ausnahmezustands zu sensibilisieren - was den täglichen Katastrophennachrichten, selbst solchen über Extremdürren, Jahrhundertfluten oder Pandemien nicht so recht gelingen will. Ob die vergleichsweise drastisch instrumentierten Schreckensvisionen tatsächlich als Warnungen verstanden und in entsprechende Präventionsmaßnahmen umgesetzt werden, darf jedoch bezweifelt werden.

Denn ein Großteil der Filme und Serien erfüllt, ob gewollt oder nicht, sozialpsychologisch eher eine Entlastungsfunktion, indem sie Geschichten, Handlungsträger und Szenarien vorführen, deren Phantastik Rückschlüsse auf vertraute Lebenswelten geradezu verhindert - Megabeben, Sonnenstürme, Aliens - und schon mit narrativen Logikschwächen die Ahnungslosigkeit beflügelt, dass man es mit bloßer Fiktion zu tun hat. Aber auch bei wirklichkeitsnahen Simulationen darf man ein Großteil der Gruseleffekte getrost als Unterhaltungsdividende abschreiben. Georg Seeßlen bringt es auf den Punkt: "Längst haben wir einen Kanon der Dystopien in Film und Fernsehen; die katastrophalsten Zustände sind uns vertraut, und nur durch eine besondere Zuspitzung, einen heftigen Look oder die Steigerung von Sarkasmus und/oder Technik sind wir noch aus unserem dystopischen Dämmerzustand zu holen."

Denkbar immerhin, dass dank zunehmender ökologischer (und energietechnischer) Alphabetisierung und unter dem Druck sich real verdichtender Krisen samt näherrückender tipping points ein gesunder Alarmismus die Lust an der Weltuntergangsfolklore ablöst. Newiaks Blackout-Kompendium liest sich in diesem Kontext wie ein Katalog von Vorschlägen, aus dem immersiven Dämmerkonsum schauerlicher Bilder- und Geräuschkulissen aufzuwachen und die Panik verwilderter Notgemeinschaften mit den Augen potentiell Betroffener zu sehen. Viel wäre fürs erste gewonnen, wenn man im nächsten Winter die Finger von den millionenfach neu erworbenen Heizlüftern lässt, deren Betrieb spätestens nach Abschaltung der Kernkraftwerke zu einer Überlastung und zum Zusammenbruch des Stromnetzes führen würde.

Daniele Dell'Agli

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Denis Newiak, Blackout. Nichts geht mehr. Wie wir uns mit Filmen und TV-Serien auf einen Stromausfall vorbereiten können. Schüren Verlag 2022. (Bestellen bei eichendorff21)

Außerdem:

Wolfgang Sofsky, Zeiten des Schreckens. Fischer 2002
Angela Keppler, Mediale Gegenwart. Suhrkamp 2004
Eva Horn, Zukunft als Katastrophe. Fischer 2014
Ulrich Beck, Die Metamorphose der Welt. Suhrkamp 2017
Georg Seeßlen in Mediendiskurs.online: "Dystopia - a moving picture"
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