Nelly Arcan

Hure

Roman
Cover: Hure
C.H. Beck Verlag, München 2002
ISBN 9783406493188
Gebunden, 191 Seiten, 19,90 EUR

Klappentext

Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller."Hure" ist die Geschichte einer exzessiv gelebten Doppelexistenz: Eine junge Frau flieht vor der beklemmenden Enge ihres Elternhauses in der kanadischen Provinz in die Großstadt. Dort beginnt die Literatur-Studentin, ihr Geld als Prostituierte zu verdienen und steigt zur begehrten Nobel-Hure auf. Die Freier sind gut situierte Männer, die ihre Professoren sein könnten oder ihre Väter. Ihnen gibt sie sich mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination hin. Bald nicht mehr nur wegen des Geldes, sondern um ihre Weiblichkeit zu beweisen, zwischen Macht und Unterwerfung.

Im Perlentaucher: Rezension Perlentaucher

Nein, ein Roman ist das nicht. Es ist etwas viel Fesselnderes. Es ist eine Suada. Es gibt keine Story, keine Personen, die sich kennenlernen, verlieben, trennen, die streiten oder sich Geschichten erzählen. Es gibt nur eine einzige Stimme: die der "Hure". Die ist Literaturstudentin und sie muss alles, was sie tut, alles, was mit ihr geschieht, was sie mit sich geschehen lässt, in Literatur verwandeln. Sonst versteht sie es nicht. Sonst bleibt es ihr fremd. Gerade so als wäre es ihr nicht passiert. Sie benutzt Sprache wie andere ihren Verdauungsapparat und sie ihr Genital. Sie wirft rücksichtslos hinein, was ihr widerfährt...
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.11.2002

Für Ingeborg Harms ist das Buch ein Nachkomme der erfolgreichen "erotischen Bekenntnisprosa" und greift dabei auf gängige Klischees zurück: Das Callgirl Cynthia wurde von Nonnen erzogen, von der Mutter ignoriert und vom Vater begehrt. Schon zu Schulzeiten wollte Cynthia vergewaltigt werden. Die Niederschrift von Cynthia, der Hure, bleibt für Ingeborg Harms eine "ungeordnete Rede einer Couchpatientin", die keine Heilung sondern Mitleid suche. So verpasse das Buch die Chance, "den Alltag der Prostitution literarisch urbar zu machen". Die Rezensentin lässt kein gutes Haar an dem Buch von Nelly Arcans. Harms wirft der kanadischen Schriftstellerin vor, der Roman trudele kopflos- und konzeptlos durch ihr Leben. Selbstliebe, grenzenloser Narzissmus und Ruhmsucht, so Harms, sei der einzige schlüssige Entstehungsgrund für den Roman. Zu dem Ärger über den verpatzten Inhalt kommt laut Harms auch noch ein zähflüssiger Stil, der jeden Seitenwechsel zur Qual macht.
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Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 18.10.2002

Beim momentanen Hype um Nelly Arcans Roman "Hure" handelt es sich nach Ansicht von Ijoma Mangold in Wirklichkeit um einen "Etikettenschwindel zu Ungunsten des Lesers". Denn ein weniger pornografisches Buch als Arcans Debüt kann sich der Rezensent kaum vorstellen. Tatsächlich gehe es überhaupt nicht um die "Darstellung der Sexualität", auch wenn die entsprechenden Signalwörter dicht gestreut seien. Die Autorin, interpretiert Mangold, "beschreibt viel mehr einen universellen, unhintergehbaren Gewaltzusammenhang, dessen lediglich grellste Manifestation der Sex ist." Gut, es werden auf jeder Seite "Schwänze gelutscht", räumt Mangold ein, aber auf eine Weise, die dem Leser signalisiere: "Dies ist nur eine sehr physische Chiffre für einen viel grundsätzlicheren Komplex moralischer Verworfenheit." In der unverblümten Sprache manifestiert sich für Mangold - seltsam paradox - der erhobene Zeigefinger der Autorin. Die Geschichte, die in "Hure" erzählt wird - es geht um eine Studentin, die als Edelnutte arbeitet und daran verzweifelt - findet Mangold ziemlich eindimensional, die Welt, in der sie spielt, "sehr holzschnittartig", die apokalyptischen Töne, die angeschlagen werden, "prätentiös". Zwischentöne fehlen ebenso wie eine Gegenfigur, rügt der Rezensent. "Vielleicht das Irritierendste" an Arcans Roman aber ist für Mangold seine letztlich "sehr spießbürgerliche Moral".
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Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 09.10.2002

Andreas Merkel findet einige faszinierende Aspekte an diesem Buch, das seinem Eindruck nach "eine radikale Abrechnung mit dem Sex, mit der Familie und den Geschlechtern, betrieben im Geist der Psychoanalyse ist". Trotzdem urteilt er, dass das Debüt der Kanadierin Nelly Arcan ein Dokument des Scheiterns auf ganzer Linie sei und "trotz furioser, hellsichtiger Passagen eine Zumutung jenseits aller intendierten Zumutung", "die Totalverweigerung eines Romans". Zwar fragt sich der Rezensent auch, ob er dem Buch "etwas vorhalten kann, was es gar nicht sein will". Trotzdem bleibt bei ihm einfach ein genervtes Grundgefühl zurück. Ihn stört vor allem der Ton, in dem die Erzählung gehalten ist: "Was nüchtern und hard-boiled wirken soll, klingt allzu oft einfach nur nuttig und altklug", so sein Kommentar zu Arcans "endlosem Analyse-Monolog". Das Fazit ist zwiespältig: Das Buch sei "auch in seinem Scheitern noch zu unversöhnlich und gut, um es einfach wohlwollend wegzuloben".

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