Judith Hermann

Nichts als Gespenster

Erzählungen
Cover: Nichts als Gespenster
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003
ISBN 9783100331809
Gebunden, 319 Seiten, 17,90 EUR

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 31.01.2003

"Naivität bleibt hier Programm, und der viel gerühmte Ton dieser Autorin ist im Kern trivial", lautet Ina Hartwigs Urteil über den neuen Erzählband von Judith Hermann. Hartwig stört sich vor allem an der Blutarmut des Hermannschen Personals: Die Figuren kennzeichnet eine "frappierende Erfahrungsarmut", bemerkt sie. Egal ob sie nach Paris, Venedig, Prag oder in die USA reisen - niemand erlebt etwas Interessantes. Kein Wunder, denn eigentlich will auch niemand etwas, vor allem keinen Erfolg, schreibt Hartwig. Offenbar ist das auch gar nicht nötig, denn, wie die Rezensentin bemerkt, materielle Existenznöte gibt es in Hermanns Erzählungen nicht. Statt dessen kokettiere die Autorin mit dem "weiblichen Sich-selbst-ein-Rätsel-sein". Bei Marguerite Duras, an die sich Hartwig gelegentlich erinnert fühlt, war das noch ungewöhnlich. Doch heute sei dieses Modell "zum Lifestyle" geworden.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 31.01.2003

Nein, auch Thomas Steinfeld ist von diesen Erzählungen nicht begeistert. Hermanns neuer Erzählband ist fast doppelt so dick wie der gefeierte erste Band "Sommerhaus, später". Diesmal, so Steinfeld, hat die Autorin den "Bedeutungsgenerator" angeworfen und versucht, ihre Short stories auf episches Format zu strecken. Das ist ihr nach Ansicht des Rezensenten jedoch gründlich misslungen. Hermann habe in den neuen Erzählungen jedes Detail ausgemalt, jedoch: "Der Weg von der Short story zum Roman führt nicht über die Verlängerung des Vorhandenen", klärt Steinfeld die Autorin auf. Auch das Personal der Geschichten scheint Steinfeld nicht ganz geheuer zu sein. Wo immer Hermanns Heldinnen auch hinreisen, sie leben in einem "Vakuum". Die Menschen, über die sie nachdenken oder denen sie begegnen, sind Freunde, nie Fremde. Vielleicht, sinniert Steinfeld, ist die Voraussetzung für solche Geschichten "der entfaltete und staatlich alimentierte Kulturbetrieb".
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Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 30.01.2003

Schon in ihrem ersten Erzählband hat Judith Hermann einen "authentischen Ton" gefunden, meint Rezensent Roman Bucheli, und diese ganz eigene Art setze sich in ausgereifterer Form im vorliegenden, zweiten Band fort. Hermann sei "mit ihren Figuren gewachsen". Es gelinge ihr, "mutiger" auszugreifen, und in ihr vielfältiges Simmenspektrum auch "skurrilere" Töne einfließen zu lassen. Wie in einem "lautlosen Ballett" seien die Personenkonstellationen "choreografiert" - die Erzählungen lesen sich für den Rezensenten wie "Etüden über das Näherkommen" und spannen sich zwischen einer fast kindlichen Sehnsucht nach Nähe und "der Trauer über ihr immer hartnäckigeres Ausbleiben". Doch diese Etüden spielen im Kleinen, im Nichts, das gleichzeitig "alles" ist. Hermanns Figuren seien "auf der Durchreise", "unschlüssig" und kämen nie wirklich an. Etwas "irritiert" reagiert Bucheli allerdings auf die "Gleichzeitigkeit von Empathie und innerer Distanz" der Autorin zu ihren Figuren und auf die zuweilen überflüssigen Erklärungen. Denn gerade Hermanns "Lakonie", das bloße "Skizzieren" sei ihre eigentliche Stärke, sie lasse vieles "offen" und habe den Mut, "die Unbestimmtheit zuzulassen und auszuhalten". Das macht diesen Band für Bucheli zu einem "ergreifenden Zeugnis".

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 30.01.2003

Mit viel Sympathie bespricht Iris Radisch diesen neuen Band mit Erzählungen von Judith Hermannn. Und doch - am Ende hat man das Gefühl, einen Verriss gelesen zu haben. Radisch vermerkt mit Staunen das "Dekadenzbewusstsein" der "ewigen Literaturjugendlichen", zu denen sie die 32-jährige Hermann zählt. Sie vergleicht sie mit den Präraffaeliten und den Jugenstilmalern, aber auch mit Peter Handkes unnahbaren Frauen. Alles ist so still, so traurig. Die Frauen in Hermanns Erzählungen reisen nach Island, Prag oder in die Wüsten Nevadas, um sich dort zu verlieben oder auch nicht, eine Zigarette zu rauchen und wieder abreisen. "Manieriert und todesmutig" erscheinen Radisch diese Frauen, "stumm" liegen sie in ihren Betten, "unerreichbar, unberührbar wie unter einer Glasglocke". Radisch hat sich von der Schönheit dieser Prosa, die manchmal den Kitsch streife, einfangen lassen. Nicht jedoch von der "schönen und grundlosen Lebenstraurigkeit", die Hermann verkörpert. "Niemand in diesen Erzählungen will je mit dem Kopf durch die Wand", schreibt sie, und die Ungeduld ist ihr anzumerken. Um an zu viel Schönheit zu sterben, dazu ist es für Radisch "noch viel zu früh".
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