Bodo Kirchhoff

Widerfahrnis

Eine Novelle
Cover: Widerfahrnis
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2016
ISBN 9783627002282
Gebunden, 224 Seiten, 21,00 EUR

Klappentext

Reither, bis vor kurzem Kleinverleger in einer Großstadt, nun in einem idyllischen Tal am Alpenrand, hat in der dortigen Bibliothek ein Buch ohne Titel entdeckt, auf dem Umschlag nur der Name der Autorin, und als ihn das noch beschäftigt, klingelt es abends bei ihm. Und bereits in derselben Nacht beginnt sein Widerfahrnis und führt ihn binnen drei Tagen bis nach Sizilien. Die, die ihn an die Hand nimmt, ist Leonie Palm, zuletzt Besitzerin eines Hutgeschäfts; sie hat ihren Laden geschlossen, weil es der Zeit an Hutgesichtern fehlt, und er seinen Verlag dichtgemacht, weil es zunehmend mehr Schreibende als Lesende gibt. Aber noch stärker verbindet die beiden, dass sie nicht mehr auf die große Liebe vorbereitet zu sein scheinen. Als dann nach drei Tagen im Auto am Mittelmeer das Glück über sie hereinbricht, schließt sich ihnen ein Mädchen an, das kein Wort redet, nur da ist …  "Aber wo wären wir ohne etwas Selbstüberschätzung", sagt der Protagonist Reither, um sich Mut zu machen für den ersten Kuss mit Leonie Palm, "jeder wäre nur in seinem Gehäuse, ein Flüchtling vor dem Leben."

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 06.10.2016

Was hätte dieser Roman für eine wunderbare Novelle werden können, wenn all die überflüssigen, bisweilen unausgereiften Sätze gestrichen worden wären, seufzt Rezensent Peter Kümmel. Denn die Erzählung um einen alternden Verleger, der sein eigenes Leben beim Lesen versäumte und nun auf die an Irina Palm angelehnte Leonie trifft, mit der er auf einer Italien-Reise dem verpassten Lebensglück hinterherfährt, hat durchaus starke, intime Passagen, versichert der Kritiker. Leider schreibt Kirchhoff überambitioniert, klagt der Kritiker, der gelegentlich das Gefühl hat, in der Schreibwerkstatt des Autors zu sitzen. Kirchhoff lässt den Leser ähnlich wie Richard Yates oder John Updike am Suchprozess nach den richtigen Worten teilhaben - allerdings ohne sie zu finden, schließt der Rezensent.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 29.09.2016

Betrübt schüttelt Rezensent Rainer Moritz den Kopf: Was den Protagonisten in "Widerfahrnis" so alles widerfährt, wirkt auf ihn an den Haaren herbei gezogen. Zwei unfreiwillige Frührentner entschließen sich spontan, mit dem Cabrio gen Süden zu reisen, erfahren wir. Was sie antreibt - eine "vage Sehnsucht", ein Bild, eine Idee - so weit so gut, doch was dann folgt, ist nicht nur das Glück einer unverhofften Liebesgeschichte, sondern es werden die verschiedensten Schicksale und Thematiken verwurstet und verknotet, kritisiert Moritz. Verlusterfahrungen und Kindheitserinnerung drängeln sich neben Flüchtlingsthematik und nicht zuletzt einer fast schon ressentimenthaften Kritik an der "Banalisierung der Kultur", lesen wir. Und nicht nur die Verstrickung all dieser Widerfahrnisse wirkt unglaubwürdig, auch der sprachliche, sehr selbstreflexive Stil Kirchhoffs erscheint weniger virtuos als ganz einfach konstruiert und anstrengend, notiert der Rezensent enttäuscht, dabei hatte er dem Autor so viel zugetraut.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.09.2016

Andreas Platthaus fährt schweres Geschütz auf, um die Nominierung von Bodo Kirchhoffs Novelle für den Deutschen Buchpreis zu erklären. Präziser, zeitloser und zugleich tagesaktueller, raunt Platthaus, wird diesen Herbst nicht erzählt. Bums. Die Geschichte um einen verliebten Rentier auf Italientour hat für ihn subtile Klasse (weil der Autor das Erzählen selbst reflektiert!) und klassische Größe.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 01.09.2016

Judith von Sternburg ahnt die Präsenz des Todes in Bodo Kirchhoffs neuem Roman, auch wenn er nicht erwähnt wird. Liebe und Trauer, die Themen Kirchhoffs, sind in diesem Buch absehbar, meint Sternburg. Die Geschichte um einen in Rente gegangenen Verleger, der auf einer Italienreise zu einer neuen Liebe findet, die der Autor laut Sternburg mit Sinn für Tragik und Ironie schildert, überzeugt die Rezensentin letztlich durch den Einbruch der Wirklichkeit ins Idyll in Gestalt eines Flüchtlingsmädchens.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 31.08.2016

Ulrich Rüdenauer mag die Emphase, mit der Bodo Kirchhoff über die Liebe und die Freundschaft schreibt. Mitunter gerate Kirchhoff das Pathos zwar etwas zu selbstverliebt, aber das verzeiht Rüdenauer ihm gern. In "Widerfahrnis" wird die Liebe im Schnelldurchlauf verhandelt, freut sich Rüdenauer, zudem strotze diese Novelle vor unerhörten Begebenheiten: Ein Mann trifft eine Frau, sie fahren in den Süden, sie lesen ihre eigene Liebesgeschichte, und schließlich steht ein kleines verwahrlostes und stummes Kind in ihrem Leben. In der Beschwörung großer Momente erinnert das Buch den Rezensenten an die Vorgängerromane "Die Liebe in groben Zügen" und "Verlangen und Melancholie", doch findet Rüdenauer es zugleich konzentrierter und verspielter.
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Rezensionsnotiz zu Die Welt, 27.08.2016

Eine ganze Weile lässt Bodo Kirchhoffs Roman "Widerfahrnis" Richard Kämmerlings in dem Glauben, es mit einer schön geschriebenen Geschichte über eine späte, unverhoffte Liebe zwischen zwei Menschen zu tun zu haben, die gerade verquer genug sind, um den vertrauten Road-Novel-Plot aufzupeppen und interessant zu machen. Dann aber, Herr Reither und "die Palm" sind mittlerweile im Cabrio auf Sizilien angekommen, lässt Kirchhoff die Gegenwart auf der Bildfläche treten, verrät der Rezensent: ein Flüchtlingsmädchen unterbricht das romantische Abendessen der beiden und flugs wird beschlossen, die Kleine einzukleiden, mitzunehmen und zu adoptieren, erklärt Kämmerlings. Allerdings wirkt der scheinbare Akt der Barmherzigkeit gewaltsam und besitzergreifend, das Mädchen selbst hat keine Mitsprache, wird zur rettenden Projektionsfläche zweier Menschen, die in ihrem Leben zu viel verloren haben, fasst der Rezensent beeindruckt zusammen.