Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.05.2002. Marcel Reich-Ranicki hat mal wieder einen Kanon angestimmt. Die FAZ lässt "jüngere Autoren" mitsingen. In der SZ schreiben die Schriftsteller hingegen über ihr Verhältnis zu Amerika. Die FR macht sich Sorgen über Rechtsextremismus in Osteuropa. Die NZZ resümiert die Turiner Buchmesse. Die taz langweilt sich in Cannes.

SZ, 22.05.2002

Angesichts des Bush-Besuchs und der begleitenden Proteste hat die SZ ein Dossier zusammengestellt, in dem Schriftsteller ihre Beziehung zu Amerika definieren. Nicht alle klingen dabei so versöhnlich wie Orhan Pamuk (mehr hier) in seiner Kindheitserinnerung an einen bürstenhaarigen Murmelkönig. So erinnert Robert Menasse (mehr hier) daran, "dass der 11. September 1973, als 'die Amerikaner', nämlich die Vereinigten Staaten, einen demokratisch gewählten Präsidenten in Amerika, nämlich in Chile, niederputschten, nicht als 'Angriff auf unsere Zivilisation' empfunden wurde, während der 11. September ohne Jahreszahl, also auf ewig, als Synonym für einen Angriff auf unsere Zivilisation festgeschrieben ist". Und Thomas Lehr (mehr hier) überlegt, was es bedeuten mag, "dass Reagan mit der Star Wars-Folge 'Die Rückkehr der Jedi Ritter' nach Berlin kam, den Fall der Mauer und den Niedergang des Bösen prophezeite - und nun Bush mit dem 'Angriff der Klon- Krieger' kommt". Weitere Texte kommen von Stewart O'Nan (mehr hier), Jochen Missfeldt (mehr hier), Andrew Solomon (mehr hier), Jean Rouaud (mehr hier) und Sibylle Lewitscharoff (mehr hier).

Der große Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould ist tot. In einem Nachruf beschreibt Josef Reichholf (Leiter der Abteilung für Ornithologie am ZSM) diesen ungemein produktiven Wissenschaftler (mehr hier, hier und hier), der so vehement den Fortschritt in der Evolution bestritt und den Menschen zum Zufallsprodukt degradierte, als "ein Beispiel für das Ineinandergreifen von Zeitströmungen und Menschen, die auch als Naturwissenschaftler davon geprägt und beeinflusst sind, in den Theorien, die sie entwickeln, mit denen sie einander bekämpfen und an denen auch manche persönlich zerbrechen. In diesem Sinne war Gould ein ungeliebter Bespiegeler seiner Gegner und doch auch Spiegel seiner selbst, als ihn der Krebs erfasste." Jüngst wurde in der NY Times Book Review seine Summe, "The Structure of Evolutionary Theory" besprochen. Hier noch mal unser Resümee und Links.

Was noch? Susan Vahabzadeh erzählt vom Glamour auf dem roten Teppich in Cannes und hält Scorseses 20-minütigen "Gangs of New York"-Ausschnitt für palmenreif (mehr zum Buch hier und hier), Tobias Kniebe ist ebenfalls in Cannes und freut sich über späte Ehren für den alten Hollywoodfuchs Robert Evans. Burkhard Müller-Ullrich berichtet von der Amtseinführung Jutta Limbachs als Präsidentin des Goethe-Instituts (anbei die Rede des Außenministers mit dem eher erschreckenden Tenor "Kulturarbeit ist Sicherheitspolitik"). Henning Klüver war auf der Buchmesse in Turin und erklärt: Die Italiener sind lesefaul! Werner Burkhardt war dabei, als Hamburgs Kultursenatorin Dana Horakova 100 Tage Amtszeit mit Gemeinplätzen krönte. Jörg Häntzschel erinnert an den Bauhauslehrer Marcel Breuer, der heute 100 Jahre alt geworden wäre. Kristina Maidt-Zinke fand den Wohllaut auf den Regensburger Tagen für Alte Musik. Und Benjamin Henrichs führt sein Theater-Tagebuch fort.

Thomas Steinfeld schließlich ärgert sich über den "unangenehm drohenden Ton", mit dem MRR seinen Kanon der deutschsprachigen Literatur (ganze zwanzig Romane!) unters Volk bringen will: "Dass die Edition 'Der Kanon. Die deutsche Literatur' und die Barbarei eine Alternative sein sollen - das will uns partout nicht einleuchten." Erscheinen wird die Reihe bei Suhrkamp, die die Reihe auf ihrer Internetadresse allerdings noch beschweigen.

Wie zur Bekräftigung wird heut ausschließlich Lektüre besprochen: Ein Buch des Soziologen Karl Otto Hondrich zum Thema Gentechnologie, ein Sammelband mit "Telefongeschichten" und ein gekonnter Blick von Eckart Goebel auf das Frühwerk Sartres (auch in unserer Bücherschau heute um 14 Uhr).

TAZ, 22.05.2002

Was ist das nur für ein Wettbewerb! staunt Cristina Nord unter der gnadenlosen Sonne Südfrankreichs: "Wäre, was im Verlauf von Filmfestivals aufzutreten pflegt und Kritiker wie Filmfiguren gleichermaßen umtreibt, wäre also die Eintrübung des Wirklichkeitssinns fortgeschritten, man könnte meinen, gar nicht in Cannes zu sein, sondern einem B-Festival in einer beliebigen Küstenstadt beizuwohnen. La Croisette, das gute Wetter und die Massen von Schaulustigen wären Simulationen, und angereist wären zwar Regisseure von Rang und Namen, aber sie hätten konspiriert: Jeder stellt einen Film vor, der nur Spuren von Begabung und Vorstellungskraft beinhaltet, und schaut, ob er trotzdem beklatscht wird." Und das Tollste: Er wird.

Außerdem wundert sich Harald Fricke über Platzgerangel unter den Kandidaten für den Preis der Nationalgalerie für junge Kunst in Berlin, die derzeit im Hamburger Bahnhof ausstellen, in der Jazzkolumne schreibt Christian Broecking über den Julian-Benedikt-Film "Jazz Seen", und Julia Grosse stellt uns das Straßenkinder-Projekt des französischen Künstlers Jean-Michel Bruyere vor, der jetzt auf dem Theaterfestival "Perspectives Nouvelles" in Saarbrücken "Kinder der Nacht" zeigt.

Zuletzt noch TOM.

FR, 22.05.2002

Mit großer Sorge beobachtet Sonja Margolina die Etablierung einer rechten Subkultur ("ein aus dem Westen übernommener neonazi-rassistischer Mischmasch") in Russlands Vorstädten. Eine Entwicklung, schreibt sie in ihrem Bericht, die nicht nur Ausdruck einer sozialen Krise, sondern je nach Region sogar der offiziellen Politik ist. Auch herrscht ein reger internationaler Austausch: Skinhead-Delegationen aus den USA, Deutschland, Österreich und Tschechien. "Vernetzt über das Internet und internationalen Verkehr, ist die Glatzeninternationale die stumpfe Faust der in die Defensive geratenen weißen 'Minderheit' geworden; nicht so subversiv und martialisch wie Al Qaeda, aber destruktiv genug, um manch eine verstaubte Demokratie auf die Probe zu stellen."

Vom Arabischen Mediengipfel in Dubai, auf dem Vertreter westlicher und arabischer Medien über das Image des Arabers diskutierten, berichtet Krystian Woznicki in einem Artikel: Während der Westen dem "Feind" eine "postmodern-korporative Struktur" unterstelle (s. die "Business-Interessen" der palästinensischen Selbstmordattentäter) und damit die politische Dimension auszublenden versuche, schreibt Woznicki, schlage die andere Seite mit einem ähnlichen Argument zurück: Auch die Interessen des Westens seien vor allem wirtschaftliche. Was sonst sucht ein Burger King in einer illegalen israelischen Siedlung in der Westbank!

Weiteres: "Times mager" porträtiert den Berliner Stadtteil Mariendorf, wo Kunst und Gaunerei zusammentreffen. Christian Schlüter berichtet vom Kongress des antirassistischen Bündnisses Kanak Atak an der Berliner Volksbühne. Ulrich Speck gratuliert dem Politologen Ernst-Otto Czempiel zum 75. Geburtstag, und Klaus Dermutz resümiert das 39. Berliner Theatertreffen und findet den modernisierenden Impuls nicht eingelöst.

Besprechungen widmen sich neuen Alben von Elvis Costello ("When I Was Cruel") und Neil Young ("Are You Passionate?"), einer kritischen Gesamtschau zur Berliner Architektur seit dem Mauerfall in der Berlinischen Galerie/Grundkreditbank Berlin, Philip Taylors Ballett "A(t)tempting Beauty" am Münchner Staatstheater am Gärtnerplatz sowie Raja Amaris sehenswertem Film "Satin Rouge".

NZZ, 22.05.2002

Viktoria von Schirach schickt einen Bericht von der Turiner Buchmesse: "Von der in Deutschland so schmerzhaft empfundenen Krise des Verlagswesens ist in Turin keine Spur zu entdecken: Die Verlage haben im vergangenen Jahr ihre Umsätze gesamthaft um acht Prozent gesteigert, einige kleine bis mittelgroße Verlage sogar verdoppelt (darunter Fazi, Fanucci und Neri Pozza), aber auch eine große Verlagsgruppe wie Rizzoli/RCS konnte - nicht nur mit der knappen Million verkaufter Exemplare von Oriana Fallacis Pamphlet 'La rabbia e l'orgoglio' - ein deutliches Plus verzeichnen."

Weitere Artikel: Martin Walder resümiert die erste Hälfte des Festivals von Cannes. Uwe Justus Wenzel schreibt zum Tod von Stephen Jay Gould. Fritz Schaub schreibt zum Tod des Geigers Wolfgang Schneiderhan. Matthias Remmele erinnert an Marcel Breuer, der in diesen Tagen hundert Jahre alt geworden wäre. Besprochen wird Robert Wilsons Inszenierung der "Götterdämmerung" im Opernhaus Zürich. Und ein kleines Dossier widmet sich neuen Kinder- und Jugenbüchern. Unter anderem geht es um das Theme der Gentechnik, um "Normalität" in neuen Jugendromanen und um "bewegliche Kinderbücher". (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)

FAZ, 22.05.2002

Marcel Reich-Ranicki dekretiert. Und die FAZ lässt die "jüngeren deutschen Autoren" (als solcher gilt man noch mit über 40 Jahren) parieren. Der Kritiker hat einen Kanon der zwanzig wichtigsten Bücher zusammengestellt, die morgen in Kassette ausgeliefert werden - sechs Verlage haben sich dafür zusammengetan. Die FAZ lässt einige Autoren Stellung nehmen. "Das Bedürfnis nach Orientierungshilfen wächst, nicht nur in den Schulen", kommentiert Hubert Spiegel. Wir würden ja auch gern auf MRRs Liste verlinken, aber sie wurde von der FAZ nicht online gestellt. Einiges ergibt sich immerhin aus dem folgenden:

Georg Klein (49) hat Hoffmanns "Elixiere" noch einmal gelesen: "Erneut haben mich die 'Elixiere des Teufels' hingerissen, aber nicht zuletzt deshalb, weil ich erstmals bemerkte, wie in ihnen der Dämon der Geltungssucht umgeht." Thomas Hettche (38) lehnt die Aktion zwar ab - "Sein Kanon will die Vision einer Literatur sein und ist doch nur eine Totenliste" - aber er liebt die "Wahlverwandtschaften" trotzdem: "Die Art und Weise nun, wie dieser Roman den Leser hineinzieht in die Irrwege der Deutungen, ist ganz modern." Dann schimpft er wieder: "Noch einmal manifestiert sich in diesem Versuch der Kanonisation der ganze miefig-offiziöse Literaturbetrieb der sechziger Jahre mit seinen gramvollen Heroen." Peter Stamm (39) liest Frischs "Montauk". Christoph Peters (36) liest Hermann Hesses "Unterm Rad". Julia Franck (32) liest den "Prozess". Steffen Kopetzky (31) liest den "Zauberberg". Felicitas Hoppe (42) liest den "Werther". Rainer Merkel (38) liest den "Törless". David Wagner (32) liest "Tauben im Gras". Annette Pehnt (35) liest "Berlin Alexanderplatz".

Weiteres: Matthias Rüb berichtet über Peter Esterhazys Enttarnung seines Vaters Matyas, der für die ungarische Stasi spionierte, in dem Buch "Korrigierte Ausgabe - Beilage zur Harmonia Caelestis" und trägt einige Reaktionen aus der ungarischen Öffentlichkeit zusammen. Wilfried Wiegand feiert in einem Bericht aus Cannes David Cronenbergs neuen Film "Spider" als Meisterwerk und schreibt im übrigen über Filme von Manoel de Oliveira, Werner Schroeter und Elia Suleiman. Stefan Weidner stellt richtig, dass Nagib Machfus keinen Brief an George W. Bush geschrieben hat (wie vor einigen Tagen behauptet), sondern dass es sich bei den Zitaten um Interviewpassagen handelte, die möglicherweise nicht immer richtig wiedergegeben wurden. Dietmar Dath schreibt zum Tod des Evolutionstheoretikers Stephen Jay Gould (Die Kollegen von Arts & Letters Daily haben einige Links zu Gould zusammengestellt, auf die wir gern verweisen). Tilman Spreckelsen stellt den Autor Hans-Georg Behr vor, dessen Lebenserinnerungen in der FAZ ab heute vorabgedruckt werden. Joachim Müller-Jung zeichnet ein kleines Profil von Christa Maar, deren Sohn Felix Burda an Darmkrebs starb und die sich jetzt sehr intensiv für die Früherkennung engagiert.

Für die Medienseite hat sich Heike Hupertz die allerletzte Folge von "Ally McBeal" angesehen, die gerade in den USA lief. Ally McBeal kündigt und zieht nach New York: "Wie plausibel: Diese Stadt, mit ihrer augenfälligen Beschädigung, scheint der Ort zu sein, an dem Allys inneres Zerbrechen ein Zuhause findet. Und auch der unbedingte Wille, aus Ruinen neu zu erstehen, könnte weder in Detroit noch in Chicago passender verortet werden." Souad Mekhennet sehnt das Ende aber jetzt schon herbei: "Sie nervt. Sie nervt nur noch", schreibt er über die Anwältin in der vorletzten Staffel, die gerade hierzulande läuft:

Besprochen werden die große Ausstellung über Matisse und Picasso in der Tate Modern ("Man denkt an Planeten, die sich auf ihrer Bahn hin und wieder einander annähern, zumeist jedoch außer Sichtweite bleiben", schreibt Werner Spies) und - in einer Doppelrezension - Philippe Arlauds "Fidelio"-Inszenierung in Baden-Baden und Robert Wilsons "Götterdämmerung" in Zürich.