Vorgeblättert

Werner Vordtriede: Das verlassene Haus, Teil 1

Textproben


New York, 25. Oktober 1938
Durch das Verhalten und Reagieren eines Emigranten, mit dem ich in einer Cafeteria am oberen Broadway ins Gespräch kam, zu dem Entschluß gekommen, einen Zeitungsaufsatz zu schreiben: »Das drohende Mißverständnis«, der wie eine Fanfare sein müßte. Die Gefahr, daß man Hitler völlig mit deutscher Kultur verwechselt. Mein Gesprächspartner fragte mich spöttisch, wie lang ich denn noch Deutsch studieren wolle, es komme ja alles von den Nazis. Die ganze deutsche Literatur schien ihm nichts als die Vorbereitung zum Heutigen. Mit solchen Ansichten wird Hitlers Zerstörungswerk von seinen Gegnern und Opfern vollendet. Auf den Universitäten, hör ich, geht das Deutschstudium rapid zurück.


Cincinnati, 27. Januar 1939
Barcelona ist gefallen, und ich behandle erste und zweite Lautverschiebung im Examen: welch ein Wahnsinn.


Evanston, 14. Januar 1941
Finde dieser Tage wenig Zeit für Dinge außerhalb der Vorbereitungen für die Vorlesungen: Montaignes Essays, die mich trotz ihrer gelegentlichen Langweiligkeit und ihres Relativismus doch sehr anziehen, vor allem wegen ihrer Lobpreisung des Müßiggangs. Calderons Stücke, »Don Quijote«.
Am Sonntag nachmittag im Voltaire Club den Vortrag von Professor Paul Schilpp über das Thema »Is goodness good enough?« gehört. Es war eine Antikriegsrede. Sehr beeindruckt von Schilpps unkonventioneller Art und seinem persönlichen Mut. Mit einem vielleicht etwas grobschlächtigen Idealismus, Schwung und Witz tritt er für vernünftige Dinge ein, wettert gegen den business-Patriotismus, gegen Phrasen und die gefährlichen, verlogenen Nebentendenzen, die sich darunter verstecken. Er ist schon seit Jahrzehnten in Amerika, ursprünglich Deutscher. Ich sprach ihn nachher an, wir sprachen deutsch. Er lud mich sofort für denselben Abend zu sich ins Haus. Dort war dann eine seiner Studentengruppen zu einer Diskussion zusammengekommen. Man debattierte über Aufrüstung und Kriegsdienstverweigerung. Schilpp fuhr mit seiner dröhnenden Stimme immer wieder drein, scheltend und lobend, und riet jedem die Kriegsdienstverweigerung an. Ich redete über mein Steckenpferd: die mir so verhaßte businessmäßige Reglementierung des akademischen Betriebs in Amerika. Als alle um Mitternacht gingen, wisperte Schilpp mir auf deutsch zu: »Bleiben Sie noch da!« Dann saßen wir noch lange zusammen.


Evanston, 7. April
Ich habe mich endlich entschlossen, aus den Wirbeln des Fragwürdigen wieder emporzutauchen und dem großen zehrenden Genuß an den Dichtern der Zeitkrankheit zu entsagen. Es begann damit, daß ich mir einige Bände Goethe holte (in der großformatigen Propyläen-Ausgabe), um den Osterspaziergang zu lesen.
Gestern hat der Krieg zwischen Deutschland und Jugoslawien begonnen, und ich habe gewiß keine guten Gründe, nach Harmonie zu streben. Es sei denn der, daß keine Zeit, und sei es auch die untergangswilligste, eine solch vollständige und naturwidrige Selbstaufgabe von uns fordern kann, von Stunde zu Stunde und von Jahr zu Jahr. Seit 1933, also seit mehr als acht Jahren, leb ich nun unter der beständigen Forderung zur Rechenschaft, zur Unterdrückung meiner Träume und seligen Planlosigkeiten. Dauernd fühl ich mich in die Verteidigungsenge getrieben. Meine marxistischen Freunde, diese bedrohlichen Alleswisser, würden sagen: »Typische Haltung des Bourgeois! Wenn er der Wirklichkeit nicht mehr ins Gesicht blicken kann, benebelt er sich absichtlich.« Als ob diese »Beneblung« so durchaus das Unwirkliche wäre.


Evanston, 14. Juni 1941
Heute kam das Juni-Heft von Klaus Manns »Decision«. Es gefällt mir garnicht. Die Zeitschrift scheint von ängstlichen Parvenüs gemacht. Alle Europäer, die in ihr schreiben, sind so überzeugt vom Untergang Europas, daß sie schon jetzt Amerika als das herrliche Kulturland preisen. Ihr Bemühen, sich als »gute Jungs« und ganz kolossal loyal zu benehmen, ist peinlich. Mit der größten Leichtigkeit scheinen sie alles, was sie noch an Europa binden könnte, über Bord zu werfen. Die meisten scheinen dem vulgären Fehlschluß zu unterliegen, daß traditionsbewußt identisch sei mit lebensunfähig, veraltet und unrealistisch. Und es möchte eben Amerika verdrießen. Alle sind sehr für den Krieg.


Evanston, 14. März 1942
Brief von Fränze erhalten. Sie ist noch immer hinterm Stacheldraht!
Ich sollte viel fleißiger an meiner Dissertation arbeiten. Meine schlimme Trägheit hält mich sogar davon ab, vieles Wichtige hier im Tagebuch aufzuzeichnen. So wie mich Amerika schon längst völlig gelähmt hat, daß ich jede Auseinandersetzung mit seiner barbarischen Fremdheit hier aufgegeben habe, so läßt mich dieser Krieg, als etwas zu Gewaltsames, nicht mehr dazu kommen, meiner Stellung zu dieser Zeit mit analytischer Betrachtung beizukommen. Ich scheine ein nur noch halbbewußtes Leben zu führen. Deutliches Zeichen dafür: schon seit längrer Zeit stellen sich keine dieser tiefen und anhaltenden Melancholien mehr ein. Briefe schreib ich kaum noch. Wenn ich konsequent wäre, müßte ich nun aufhören, das Tagebuch weiterzuführen, obwohl ich es ja als den einzigen Ort, der mir selber gehört, notwendiger brauche als je. Es ist dieses Gefühl, daß mein Lebenslauf zusehends identisch mit der Zeitgeschichte wird, so als ob meine Biographie nur noch aus den Zeitungsberichten abzulesen wäre. Und diese ins Tagebuch einzutragen übersteigt meine Kräfte und wäre zudem sinnlos. Es scheint mir nun, als ob ich durch meine Übersiedlung nach Amerika der Zeitgeschichte habe entrinnen wollen, die mich hier nun doch wieder eingeholt hat.
Seltsames Thema: dieses Bei lebendigem Leibe zu Geschichte Versteinern. Wie souverän ungeschichtlich Goethe doch noch sein konnte. Er brauchte der Geschichte nicht anzugehören, hat trotz ihr seinen Lebenslauf gehabt. Seine Begegnung mit Napoleon ist völlig ungeschichtlich, da er sie von Anfang an in Lebenslauf verwandelte. Kleists Napoleonerlebnis dagegen ist rein geschichtlich geblieben. Dafür hatte er ja aber auch seine höchste Lebenskraft eingesetzt, als er seine militärische Laufbahn aus dem Geschichtlichen ins Biographische erhob.


New York, 29. Juni 1942
Fast jeden Tag Arbeit für die Dissertation in der Public Library. Abends oft ins Ballett, um Mia Slavenska, Danilova und Massine tanzen zu sehn.
Gestern abend ging ich mit Mutter zu Valeska Gerts Beggar Bar. Das ist ein unappetitlicher feuchter Keller, ganz schwarz ausgemalt. Es war alles so erbärmlich, daß man ganz traurig davon wurde. Wir beide waren die einzigen Gäste. Auf dem Tisch lag ein schmieriges und abgegriffenes Exemplar des Buchs von Fred Hildenbrandt über Valeska Gert. Mutter und ich flüsterten ratlos miteinander, wären am liebsten gegangen, während Valeska Gert und ihr Schlagzeuger uns nicht aus den Augen ließen und auf Gäste warteten. Schließlich entschloß die Gert sich, ihr ganzes Abendprogramm nur vor uns beiden aufzuführen: erstens die komisch grotesk gemeinte Geschichte, mit welchen Hindernissen sie zu kämpfen hatte, bis sie diesen Keller als Bar bekam. Und dann, es war vor Peinlichkeit kaum auszuhalten, direkt vor uns sang sie das komische vielstrophige Lied von Kurt Weill »Jenny made her mind up«. Kein andrer Gast erschien.


New Brunswick, 29. Januar 1943
Billetdoux hatte mich gefragt, ob ich einen Französischkurs an der Preparatory School übernehmen wolle, die der Universität angegliedert ist. Heute morgen Besprechung mit dem Headmaster der Schule. Wir einigten uns darauf, daß ich von jetzt bis Ende Mai dreimal wöchentlich eine Stunde Französisch gebe für im ganzen 100 Dollar. Neue Situation für mich: eine Stelle wird mir nicht nur angeboten, sondern man dankt mir auch noch dafür, daß ichs tue. Zwar sind 25 Dollar im Monat wenig, aber für mich ist es ja nicht mehr Aufwand, als das Ausfüllen einer Freistunde zwischen den Vorlesungen.
Als mich der Headmaster fragte, ob ich Engländer sei (die übliche Frage, wegen meiner britischen Aussprache), und erfuhr, ich sei Deutscher, schrie er jovial: »Never mind. That?s all the same to us around here: negroes, jews or Germans.« Es war, glaub ich, freundlich gemeint, daß er seine drei Verachtungen mir zuliebe so mit einem Streich vom Tisch wischte.


New Brunswick, 22. November 1943
Samstag morgen sah ich am Times Square einen merkwürdigen Mann, dem viele Menschen nachstarrten. Mit weitausholendem ungeduldigen Schritt, allen Verkehrsregeln in offner Verachtung entgegen, ging ein alter Mann, der unsrer Zeit nicht anzugehören schien, mit großem blauen Barett, das weit auf der rechten Seite abstand. Darunter ein schönes, sehniges Gesicht mit funkelnden blauen Augen und weißem Spitzbart. Über beide Schultern zurückgeschlagen trug er eine Art Havelock, kühn und in schöner Form. Er trug einen festen Tweed-Anzug, derbe Schuhe und hielt in der Hand einen schwarzen Knotenstock ohne Krücke. Trotz aller Derbheit schien er äußerst elegant, wie ein schottischer Laird oder ein seltsamer Waldmensch oder ein Prinz oder ein Sektierer. Plötzlich erkannte ich ihn. Es war Poultney Bigelow. Er nahm gleich meinen Arm, zog mich ungestüm mitten durch die sausenden Autos, blieb auf der Fahrbahn einmal stehn, deutete mit seinem Stock auf den Namen, der auf der Marquise des Kino-Theaters stand. Es war Gipsy Rose Lee, die berühmte elegante Striptease-Tänzerin. Er fragte mich, ob ich die schon einmal gesehen hätte. Und als ich verneinte, rief er: »That?s a woman of genius!« Er sprach unaufhörlich: die alten närrischen Themen. Er ist jetzt 88 Jahre alt, war nur für einen Tag aus seinen Bergen heruntergekommen, voller Verachtung für alles, was er sah. Ich brachte ihn zum Century Club, und er entließ mich mit einer rauh-freundlichen Einladung, ihn in Malden zu besuchen.
Ich ging in eines der offnen Vergnügungs- und Schießlokale, um mir (da es noch zu früh für meine Verabredung war) für fünfzehn Cents Photographien machen zu lassen. Ich sehe zum Erschrecken drauf aus: müde, hager, hervorquellende verschleierte Augen.
Dann traf ich mich, zum erstenmal seit fast zwei Jahren, mit Varian Fry. Wir gingen zum opulenten, schläfrigen Harvard Club, um dort zu essen. Am Anfang ein etwas steifes Gespräch. Varian hat sich sehr verändert. Er hat den Abenteurer abgestreift und ist auf bürgerliche Repräsentanz aus. Die Zeit, unsre gemeinsame Zeit, da er nach Südfrankreich fuhr, um die deutschen Emigranten zu retten, liegt weit hinter ihm. Ich kehrte aus Trotz den Bohemien und den »escapist« heraus. Wir sprachen dann über Psychoanalyse, und Varian verriet mir, daß er in analytischer Behandlung ist. Ich machte den heftigen Widersacher, behauptete, es gehe dabei immer nur um die von der bürgerlichen Welt verlangte Anpassung. Das machte Varian dann beredt.
Ich schlenderte hinterher auf der Fifth Avenue zur Buchhandlung Brentano, wo ich mir alle neuen französischen Bücher ansah und mir einiges kaufte: alte Nummern von »Minotaure« , »Verve«, »VVV« und Alain-Fourniers »Miracles« mit der Einleitung von Jacques Riviere. Dort traf ich Kurt Wolff, mit dem ich mich herzlich unterhielt.
Darauf zum Tee bei Mrs. Hapgood. Sie hat Rene Schickele gut gekannt und erzählte mir viel von ihm, zeigte mir Schickele-Manuskripte und lieh mir sein letztes Buch »Le Retour«.
Sonntag den ganzen Tag mit Mutter, die wie immer bester Laune war.
Habe den Eindruck, von dieser faszinierenden Stadt getrunken zu haben, wo sich heute so viel zusammenfindet.


New Brunswick, 9. Juni 1944
Dies ist mein letzter Tag in New Brunswick. Gestern in New York. Es war ein etwas gedrängter Tag. Mittagessen bei Hans Sahl, der mir wieder gut gefiel. Er ist ein offenherziger Mensch mit Wärme. Seine Gefahren sind die Sentimentalität und das Propagandistisch-Rhetorische als Schriftsteller. Das Gespräch kam auf das OWI. Da teilt mir Sahl zu meinem Schrecken mit, daß weder er noch andre nachdenkliche Menschen durch das OWI nach London geschickt werden wollen, da sie für ihre Integrität befürchten müssen bei der vaguen auswärtigen Politik Amerikas, die vielleicht grade das befürwortet, wofür man als Exildeutscher anständigerweise nicht arbeiten kann, wenn man nach dem Krieg von ehrlichen antinazischen Deutschen mit kulturellen Aufbaubestrebungen nicht verachtet werden will. Ich hatte das bisher nie so gesehn. Ich glaubte, meine Arbeit würde nur den Krieg abkürzen helfen und würde dem Teil Deutschlands zugute kommen, der Hitler und die andern Verbrecher und Usurpatoren bekämpfen will. Bin sehr erschrocken. Sahl zeigte mir ein mir gelungen erscheinendes Gedicht von sich mit dem Titel »Deutschland«, in dem die Zeile vorkommt: »Ich habe mich nicht bereichert an deinen Tränen.« Das möcht ich auch nicht gerne tun. Sahl hat mir einen wirklichen Dienst erwiesen. Gleich hinterher versuchte ich, Varian telephonisch zu erreichen, um ihn über das OWI zu befragen, traf ihn aber nicht. Ich ging zu den neugehängten alten Meistern im Metropolitan Museum, um mich zu beruhigen, und ihre stille vornehme Welt verließ mich den ganzen Tag nicht. Nachher kam zufällig, in einer großen Menschenmenge, Varian auf mich zu, den ich so dringend sprechen wollte. Verabredung mit ihm für später. Wir sahen uns dann eine Stunde lang. Varian bestätigte das, was Sahl gesagt hatte. Er glaubt zwar, daß es ganz davon abhänge, was man für das OWI tut. Aber er selber, der auch aufgefordert wurde, will aus denselben Gründen auch nicht nach London gehn. Ich werde nun also alle Beziehungen zum OWI abbrechen. Es war meine einzige Aussicht auf eine Stellung. Was soll nun werden?
Dann sah ich Steiner, der mir einen schönen Brief von Karl Wolfskehl zeigte und sagte, Wolfskehl sei in Neu-Seeland gestorben.41 Deshalb fühlte er sich nun berechtigt, mir eines der letzten Gedichte von Wolfskehl zu zeigen, in dem er sich unter der Gestalt des Hiob darstellt, und das Wolfskehl selber in dem Brief »programmatisch« nennt.
Ich müßte die ganze OWI-Sache ausführlicher beschreiben, aber es mangelt mir die Kraft. Ich habe heute den ganzen Tag gepackt, Abschied genommen. Billetdoux sagte zum Schluß: »Always remember that here are your friends, and that this is your home port in a sense.«
Abends spielte mir Austin noch lang auf der Orgel in der Universitätskapelle vor: Bachs Trio-Sonate Nr. 5, Brahms? und Bachs Orgelvorspiele, Händels Kuckuck und Nachtigall und die Wassermusik. So hat er mir über diesen letzten Abend hier hinweggeholfen, vor dem ich mich etwas fürchtete.

Teil 2