Vorgeblättert

V.S. Naipaul: Jenseits des Glaubens, Teil 2

I
Indonesien
Der Flug der N-250

1
Der Mann des Augenblicks Imaduddin war Dozent für Elektrotechnik am Institute of Technology in Bandung, außerdem islamischer Prediger. In den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts war er also etwas Ungewöhnliches: ein Mann der Wissenschaft, einer der wenigen im unabhängigen Indonesien, und zugleich ein engagierter Mann des Glaubens. Scharenweise lockte er die Studenten in die Salman-Moschee auf dem Gelände der Technischen Hochschule. 
Dem Staat war er ein Dorn im Auge. Und als ich am letzten Tag des Jahres 1979 von der Küstenstadt Jakarta über die verkehrsreiche, von Abgasen verqualmte Landstraße zur kühleren Hochebene hinauffuhr, um ihn im dort gelegenen Bandung zu besuchen, musste ich entdecken, dass er eigentlich ein Verfolgter war. Erst kurze Zeit zuvor war seine vierzehnmonatige Haft als politischer Gefangener zu Ende gegangen. Noch hatte er sein kleines Dozentenhaus an der Hochschule, aber er durfte nicht mehr lehren. Zwar gab er sich nicht geschlagen und setzte sein islamisches Mental-Training mit kleinen - eigentlich als Ferienkurse organisierten - Gruppen von Jugendlichen aus der Mittelschicht fort, aber der damals Achtundvierzigjährige bereitete seine Ausreise vor. 
Er verbrachte viele Jahre im Ausland. Dann nahm sein Schicksal eine andere Wendung. Und als ich mehr als fünfzehn Jahre nach dieser ersten Begegnung wieder in Indonesien war, stellte ich fest, dass Imaduddin reich und berühmt geworden war. Am Sonntagvormittag sprach er in einem eigenen islamischen Fernsehprogramm. Er hatte einen Mercedes samt Fahrer, außerdem ein passables Haus in einem passablen Stadtteil Jakartas, und er sprach davon, dass er bald in etwas Besseres umziehen werde. Dieselbe Mischung aus Wissenschaft und Islam, die Ende der siebziger Jahre den Verdacht des Staates auf ihn gelenkt hatte, machte ihn jetzt zum begehrten Mann, zum Vorbild des neuen Indonesiers, und hatte ihn weit an die Spitze gebracht, ganz nahe ans Machtzentrum heran. Er war jetzt ein enger Vertrauter Habibies, des Ministers für Forschung und Technologie; und dieser wiederum war - mehr als jedes andere Regierungsmitglied - ein enger Vertrauter des Präsidenten Suharto, der das Land seit dreißig Jahren regierte und als Vater der Nation auftrat. 
Habibie war im Flugzeugbau tätig, und seine Bewunderer hielten ihn für ein Genie. Er galt als Mann mit einer großen Vision. Sie bestand darin, dass Indonesien unter seiner Anleitung eigene Flugzeuge bauen - oder mindestens konstruieren - sollte. Dahinter, so hatte ich in der Presse gelesen, steckte der andere Gedanke, ein solches Unternehmen werde nicht nur Flugzeuge liefern, sondern vielen tausend Menschen eine hoch qualifizierte und breit gefächerte technische Ausbildung verschaffen und Indonesien damit zu einer industriellen Revolution verhelfen. Im Laufe von gut neunzehn Jahren hatte Habibies Luftfahrtunternehmen - laut Wall Street Journal - fast anderthalb Milliarden Dollar erhalten. Ein erstes Flugzeug, die CN235, wurde in Zusammenarbeit mit einer spanischen Firma gebaut; wirtschaftlich war es ein Misserfolg geblieben. Jetzt aber stand etwas viel Aufregenderes bevor: der Flug der N-250, einer Turbopropmaschine mit fünfzig Sitzen für den Pendlerverkehr, die Habibies Unternehmen ganz allein konstruiert hatte. Der erste Flug der Maschine sollte pünktlich am 17. August, dem fünfzigsten Jahrestag der indonesischen Unabhängigkeit, stattfinden; für ihn waren die Straßen Jakartas und anderer Städte schon Wochen vorher mit den immer gleichen Lichterketten sowie Fahnen und Spruchbändern dekoriert worden. Vor dem Hintergrund dieser - wie ein Geschenk des Staates an das Volk präsentierten - Feierlichkeiten erschien ein Artikel in der Jakarta Post, der die Leser, nach Art eines Dozenten im Anfängerkurs, Schritt für Schritt mit den Probeläufen der N-250 bekannt machte: Da war zunächst der Rolltest bei niedriger Geschwindigkeit, um die Manövrierfähigkeit am Boden zu prüfen; dann bei mittlerer Geschwindigkeit, um Flügel, Heckflosse und Bremssysteme zu testen; und dann bei hoher Geschwindigkeit, um sicherzugehen, dass die N-250 fünf oder sechs Minuten lang knapp über dem Boden fliegen konnte. Vier Tage vor dem ersten Flug brach - während des Tests bei mittlerer Geschwindigkeit - eine Generatorenwelle (was immer das war). Doch fand sich schnell Ersatz; und am vorgesehenen Tag flog die N-250 eine Stunde lang in einer Höhe von etwa 3000 Metern. Auf der Titelseite der Jakarta Post sah man einen applaudierenden Präsidenten Suharto sowie Habibie, der die lächelnde Frau Suharto umarmte. Gleichzeitig wurde bekannt gemacht, dass ein Mittelstreckenflugzeug in Planung war: die N-2130, die im März 2004 fertig gestellt sein sollte, Kostenpunkt zwei Milliarden Dollar. Da dieses Programm weit in die Zukunft hineinreichte, sollte Habibies zweiunddreißigjähriger Sohn Ilham, der bei Boeing gelernt hatte, mit seiner Durchführung betraut werden. 
Drei Wochen später, nach dem Höhepunkt der Feierlichkeiten zum fünfzigsten Jahrestag der Unabhängigkeit, fand ein riesiges, von Franzosen veranstaltetes Feuerwerk statt, und in der allgemeinen nationalen Ruhmesstimmung schlug Habibie vor, den 10. August, also den Tag, an dem die N-250 zum ersten Mal geflogen war, zum "Nationaltag des Technologischen Wiedererwachens" zu erklären. Diesen Vorschlag machte er auf dem zwölften Kongress für die Einheit des Islam. Denn Habibie hatte noch eine andere Seite: Er war gläubiger Muslim und leidenschaftlicher Vertreter seines Glaubens. Er führte den Vorsitz in einer neuen Vereinigung mit dem offensiven Namen "Verband der muslimischen Intellektuellen". Und als er in sei- ner Rede vor dem Kongress sagte, es gelte, die Beherrschung von Wissenschaft und Technik mit einem festeren Glauben an Allah zu untermauern, konnte es keinen Zweifel geben, dass er zugleich als religiöse wie auch als weltliche Autorität gesprochen hatte. 
In welcher Weise die Konstruktion von Flugzeugen und ihr Bau mit Hilfe importierter Bauteile zu einem allgemeinen technologischen oder wissenschaftlichen Durchbruch führen sollten, war nicht ganz klar; und kaum klarer war, wieso der Islam durch den Erfolg der N-250 und die Hunderte von Millionen Dollar, die für das spezielle Talent oder Interesse eines einzigen Mannes geflossen waren, besonders geadelt wurde. Aber genau in diesem Punkt hatte sich der Glaube des Wissenschaftlers und Muslims Imaduddin mit dem Glauben Habibies getroffen, hier hatten sich die Lebenswege beider Männer gekreuzt, und nun war Imaduddin von seinem neuen Gönner in den Himmel der Präsidentengunst erhoben worden. Nicht allzu lange nach seiner Rückkehr aus dem Exil gehörte Imaduddin bereits zu den Hauptinitiatoren des muslimischen Intellektuellenverbandes. Und mittlerweile hatte er eine ganz besondere Arbeit für Habibie übernommen. Dieser - oder sein Ministerium - schickte viele junge Leute zum Studium ins Ausland. Imaduddin erhielt, als Wissenschaftler und Prediger, den Auftrag, die Studenten regelmäßig an ihren ausländischen Universitäten zu besuchen und ebenso an den islamischen Glauben wie an ihre Treuepflichten zu gemahnen. Im Jahr 1979, als er noch ein Verfolgter war, hatte sein islamisches Mental-Training in Bandung keineswegs die Billigung des Staates gefunden, denn dieser fürchtete die Entstehung einer populistischen Bewegung, die sich seinem Zugriff entzog. In einer erstaunlichen Kehrtwendung setzte er nunmehr Imaduddins Mental- Training (oder etwas Ähnliches) ein, um die Unterstützung der so wichtigen, von Habibie geförderten Intellektuellen- oder Technokratenschicht zu gewinnen.

Teil 3