Vorgeblättert

Stefan Müller-Doohm: Adorno, Teil 4

04.08.2003.
Schon vor der Landung der amerikanischen Streitkräfte in der Normandie im Juni 1944 war sich Adorno sicher, daß Deutschland einer schrecklichen Niederlage entgegenging. Den kommenden Zusammenbruch des 'Großdeutschen Reichs' sagte er ebenso wie Horkheimer nach dem Inferno von Stalingrad voraus, als General Paulus gegen Hitlers Befehl kapitulierte. Etwa einhundertfünfzigtausend deutsche Soldatenwaren gefallen, neunzigtausend gingen in russische Gefangenschaft. Daß dies der Wendepunkt des Krieges war, bestätigten die Ereignisse des Jahres 1943, als angesichts der amerikanisch-britischen Übermacht das deutsche Afrika-Korps kapitulierte und zwei Monate später die Alliierten auf Sizilien landeten; Mussolini wurde gestürzt und im September ein Waffenstillstand mit der neuen italienischen Regierung geschlossen.
Trotz der nationalsozialistischen Propaganda vom "Endsieg " und von den "Wunderwaffen" wurde die Stimmung der deutschen Bevölkerung zunehmend schlechter, mitbedingt durch die Terror-Verordnungen, wie z. B. die gegen die Zersetzung der Wehrkraft, gegen das Abhören ausländischer Sender. Russische Truppen eroberten im April 1945 Berlin. Hitler beging Ende des Monats Selbstmord, und am 8. Mai kapitulierte der Generalstab der deutschen Wehrmacht bedingungslos. Um den Krieg auch im Pazifik zu beenden, setzte die amerikanische Führung die schrecklichste Waffe ein, die zur Verfügung stand. Im August 1945 wurden zwei Atombomben über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen. Fast gleichzeitig mit dieser Unmenschlichkeit am Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die Weltöffentlichkeit mit der das menschliche Vorstellungsvermögen sprengenden Faktizität des systematischen Völkermords konfrontiert. Die Grundfesten der Zivilisation waren erschüttert, als die Menschheit der barbarischen Konsequenz der Rassenpolitik des NS-Staates gegenüberstand. In den Vernichtungs- und Arbeitslagern von Auschwitz, Treblinka, Belzec, Sobibor, Majdanek war die fabrikmäßige Tötung von Millionen Juden in eigens errichteten Gaskammern und Krematorien mit technischer Perfektion durchgeführt worden.(659)
Für Adorno war das, was sich fortan für ihn mit dem Namen Auschwitz verbinden sollte, der Ausgangspunkt, von dem aus sich das Denken über Geschichte als Katastrophengeschichte neu zu bestimmen habe. Auschwitz war "die Höllenmaschine, die Geschichte ist."(660) Und angesichts der Vernichtungslager könne unmöglich so weitergedacht werden wie bisher, und alles bisher Gedachte sei in Frage zu stellen: "Man kann nicht Auschwitz auf eine Analogie mit der Zernichtung der griechischen Stadtstaaten bringen als bloß graduelle Zunahme des Grauens, der gegenüber man den eigenen Seelenfrieden bewahrt. Wohl aber fällt von der nie zuvor erfahrenen Marter und Erniedrigung der in Viehwagen Verschleppten das tödlich-grelle Licht noch auf die fernste Vergangenheit ".(661) Im zweiten Teil der Minima Moralia, die Adorno in jenen Monaten niederschrieb, als er das Unfaßbare des ganzen Ausmaßes der kollektiven Schuld der Deutschen zu begreifen versuchte, notierte er, daß die begangenen Untaten als "entfremdete Schreckmaßnahmen verübt zu sein scheinen". Wegen der Ungeheuerlichkeit des Geschehenen entziehe dieses sich dem Verständnis. "Dennoch sieht das Bewußtsein, das dem Unsagbaren standhalten möchte, immer wieder auf den Versuch zu begreifen sich zurückgeworfen, wenn es nicht subjektiv dem Wahnsinn verfallen will, der objektiv herrscht."(662) Die totale Dehumanisierung der Menschen in den Vernichtungslagern sei der extreme Ausdruck einer Gesellschaft, die alles Lebendige zum Ding mache. Alles Besondere und Abweichende sei als "Schandmale" des Andersseins vernichtet worden. Die integrale, zunehmend vergesellschaftete Gesellschaft erzeuge aus sich heraus einen Vernichtungswillen. "Die Technik der Konzentrationslager läuft darauf hinaus, die Gefangenen wie ihre Wächter zu machen, die Ermordeten zu Mördern. Der Rassenunterschied wird zum absoluten erhoben, damit man ihn absolut abschaffen kann, wäre es selbst, indem nichts Verschiedenes mehr überlebt."(663) 
Wie hat Adorno die Nachricht von Hitlers Selbstmord im Zusammenhang mit der Vernichtung Deutschlands aufgenommen, von der er durch den Rundfunk, die Tagespresse und die Wochenschau erfahren hatte? Gleich am 1. Mai formulierte er einen Brief an seine Eltern, um seine Hoffnung auszudrücken, daß die Nachrichten über das Ende des Diktators wahr seien, denn "zum Grauen dieser Welt gehört ja auch", so formulierte er im Brief kaum anders als in seinen Reflexionen aus dem beschädigten Leben,(664) "daß einmal Wahrheit wie Lüge klingt und Lüge wie Wahrheit." Der Tod Hitlers war ihm Anlaß zur Freude, denn dieser sei das "Entsetzlichste" gewesen, was es in der Geschichte je gegeben habe. Dem deutschen Volk sei "das Genick gebrochen, so daß es als Subjekt aus derWeltgeschichte ausscheidet". In diesem Brief artikulierte er auch seine Befürchtung, daß mit dem Untergang der Nazis noch nicht das von ihnen "vertretene Prinzip" aus derWelt sei. Angesichts der historischen Tendenz beschränke sich seine Zukunftshoffnung auf "Atempausen und Schlupflöcher".(665) In einem Brief an Horkheimer, den er wenige Tage später abfaßte, um ihm seine Sicht der Weltgeschichte mitzuteilen, blickte er darauf zurück, daß das nun endlich untergegangene Hitlerregime "die unmittelbare Ursache aller äußeren Entwicklung in unserem Leben während der letzten zwölf Jahre" gewesen sei. Die Erwartung, "daß es anders kommen möchte, ist eine der entscheidenden Kräfte [gewesen], die uns am Leben hielten, während andererseits die Tatsache, daß unser beider Leben ein gemeinsames geworden ist, vom Faschismus gar nicht getrennt werden kann". Darüber hinaus erklärte Adorno selbstbewußt, seine These, "der Hitler könne sich nicht halten, hat sich, wenn auch mit einer Verspätung, die sie ironisch macht, bewahrheitet, in anderenWorten, die Produktivkräfte der wirtschaftlich fortgeschrittneren Länder haben sich doch als stärker erwiesen [. . .]: der Krieg ist [. . .] von der Industrie gegen das Militär gewonnen worden."(666) Die gleiche These griff Adorno in einem Aphorismus aus den Minima Moralia auf: "Deutschlands industrielle Zurückgebliebenheit hat die Politiker, die den Vorsprung einholen wollten und dazu gerade als Habenichtse qualifiziert waren, auf ihre unmittelbare, enge Erfahrung verwiesen, die der politischen Fassade. Sie sahen nicht mehr vor sich als die Versammlung, die ihnen zujubelte, und den verängstigten Verhandlungspartner: das verstellte ihnen die Einsicht in die objektive Gewalt der größeren Kapitalmasse. Es ist die immanente Rache an Hitler, daß er, der Henker der liberalen Gesellschaft, doch seinem eigenen Bewußtseinsstand nach zu 'liberal' war, um zu erkennen, wie unter der Hülle des Liberalismus draußen die unwiderstehliche Herrschaft des industriellen Potentials sich bildete. Er, der wie kein anderer Bürger das Unwahre im Liberalismus durchschaute, durchschaute doch nicht ganz die Macht hinter ihm, eben die gesellschaftliche Tendenz, die in Hitler wirklich bloß ihren Trommler hatte."(667)
In seinem Brief an Horkheimer kam Adorno zu dem Schluß, auch wenn die historische "Gewalt des Faschismus" nur "ihren Wohnsitz gewechselt"(668) habe, sei es politisch doch viel besser gegangen, als sie stets dachten, denn das "äußerste Entsetzen", Hitler, sei vorerst aus der Welt. 
Dieser alles in allem hoffnungsvollere Blick auf den aktuellen Weltlauf war gewiß der Grund, weshalb Adorno mit dem Gedanken zu spielen begann, nach Europa zurückzukehren. Aber bis es dazu kam, sollten noch über vier Jahre vergehen. Selbst eine kürzere Reise nach New York mußte er sich versagen. Denn als seine Mutter am 30. September 1945 ihren achtzigsten Geburtstag feierte, war es ihm aus gesundheitlichen Gründen und nicht zuletzt wegen seiner Verpflichtungen im Berkeley-Forschungsprojekt unmöglich, abermals an die Ostküste zu fahren. Der liebevolle Geburtstagsbrief, den er seiner Mutter schrieb, zeugt von der Intensität der Beziehung. 
Die nächste Reise zur Mutter nach New York im September 1946 hatte freilich einen traurigen Anlaß. Oscar Wiesengrund war am 8. Juli nach längerer Krankheit im siebenundsiebzigsten Lebensjahr gestorben. Nachdem Adorno in Santa Monica telegraphisch informiert worden war, schrieb er sogleich an seine Mutter. Seine Erschütterung über den Tod des Vaters sei um so größer, als er im Exil sterben mußte, man ihm das äußerliche des Emigrantendaseins aufgezwungen habe und die Zeitumstände eine Kontinuität des Lebens nicht erlaubt hätten. (669) Zur Beerdigung konnte er nicht an die Ostküste reisen; er war zu dieser Zeit ernsthaft erkrankt und war in Behandlung wegen seines Blutzuckers, seiner Magengeschwüre und Herzsymptome. Deshalb bat er Leo Löwenthal, bei der Beerdigung des Vaters die Totenrede zu halten. Erst über zwei Monate später sah sich Adorno in der Lage, der über achtzigjährigen Mutter in der schwierigen Lage beizustehen. Vorerst mußte es aber beim Brief bleiben, an dessen Ende es hieß, daß ihm mit dem Tod des Vaters "das eigene Leben wie Raub" erscheine. Ein Gedanke, den er später in seinem philosophischen Hauptwerk ausführen sollte, nahm hier vielleicht seine erste Gestalt an: "das Unrecht desWeiterlebens, wie wenn man den Toten um Licht und Atem betröge. Die Ahnung dieser Schuld ist unendlich stark in mir."(670)

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(659) Vgl. Hilberg, Die Vernichtung der euroäischen Juden, 1982, S. 811 ff.; Burleigh, Die Zeit des Nationalsozialismus, 2000, S. 892 ff.
(660) Adorno, Minima Moralia, GS 4, S. 268.
(661) Ebd.
(662) Ebd., S. 117.
(663) Ebd., S. 116. Vgl. zur Verarbeitung von Auschwitz in Adornos gesellschaftskritischer Zeitdiagnose Rensmann, Kritische Theorie über den Antisemitismus, 1998.
(664) Vgl. Adorno, Minima Moralia, GS 4, S. 122. Dort heißt es: "Es ist dahin gekommen, daß Lüge wie Wahrheit klingt, Wahrheit wie Lüge. (....) Jedes Greuel in der aufgeklärten Welt wird notwendig zum Greuelmärchen. Denn die Unwahrheit der Wahrheit hat einen Kern, auf den das Unbewußte begierig anspricht."
(665) Brief von Adorno an die Eltern vom 1.5.1945. Adorno, Briefe an die Eltern 1939-1951, 2003, S. 309 ff.
(666) Horkheimer, Briefwechsel, GS 17, S. 634.
(667) Adorno, Minima Moralia, GS 4, S. 119 f.
(668) Die Auffassung, daß sich in der Gesellschaft und Politik Amerikas faschistische Tendenzen durchsetzen würden, war in intellektuellen Kreisen des Landes, insbesondere bei Gruppierungen der Refugees, keineswegs ungewöhnlich und wurde auf die Brutalität des Krieges mit den Japanern, auf den Zerfall der Kriegsallianz mit der Sowjetunion sowie auf die Verschärfung des Kalten Krieges zurückgeführt. Diese Tendenzen zeigten sich, seitdem die Verständigungspolitik mit der UdSSR nach dem Tod von Präsident Roosevelt im April 1945 aufgegeben wurde und eine antikommunistische Haltung mit der Präsidentschaft Harry S. Truman in der amerikanischen Politik dominant wurde. Innenpolitisch wurde die Faschisierung im McCarthyismus und den Aktivitäten des Committee on Un-American Activities deutlich. Thomas Mann erinnerten diese Bestrebungen an die "Herrschaft faschistischer Gewalt". In seinem Tagebuch notierte er: "Die Gegenstellung zu Rußland scheint zwangsläufig zum Faschismus zu führen." Mann, Tagebücher 1946-1948, 1986, S. 162 und S. 165; vgl. Hermand/Lange, 'Wollt Ihr Thomas Mann wiederhaben?', 1999, S. 11 ff.
(669) Als Horkheimers Vater im Januar 1945 mit 85 Jahren gestorben war, schrieb Adorno an den Freund: "Alles was mit unseren Eltern zusammen hängt, hat etwas unbeschreiblich Trauriges und damit freilich auch Versöhnliches angenommen. (....) Ich glaube, keiner kann besser nachfühlen als ich, was es heißt, wenn einem der letzte Rest von Geborgenheit weggenommen wird, der im Glauben an die Eltern beruht." Horkheimer Briefwechsel, GS 17, S. 624.
(670) Brief von Adorno an die Mutter vom 9.7.1946. Adorno, Briefe an die Eltern 1939-1951, 2003, S. 367 ff.


Mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp-Verlages
(c) Suhrkamp-Verlages, Frankfurt am Main 2003

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