Vorgeblättert

Lew Besymenski: Stalin und Hitler, Teil 1

DREIZEHNTES KAPITEL

                               Die vierte und fünfte Teilung Polens

Dem sowjetischen Diplomaten Wladimir Potjomkin schreibt man einen schwerwiegenden Satz zu, den er nach dem Münchener Abkommen von 1938 geäußert haben soll. Bei der Verabschiedung des französischen Botschafters Coulondre habe er gesagt:
"Jetzt ist auch die vierte Teilung Polens nicht mehr ausgeschlossen..."Angesichts der leidvollen Geschichte Polens, das Rußland, Preußen und Österreich drei Mal in der Geschichte unter sich aufgeteilt hatten, sah der sowjetische Diplomat voraus, daß Polen nach der Tschechoslowakei das nächste Opfer einer deutschen Aggression sein werde. Er sollte recht behalten. Es verging kein Jahr, und Hitler überfiel am 1. September 1939 Polen.
Den ganzen Sommer 1939 über, aber auch bereits zuvor, hatte Stalin die deutschen Absichten gegenüber Polen mit höchster Anspannung verfolgt. Die militärische und die politische Aufklärung versorgten ihn reichlich mit Informationen. So berichtete Richard Sorge unmittelbar nach der Verschwörung von München am 3. Oktober 1938 aus Tokio:
"Vom Militärattache [dem deutschen Militärattache in Tokio, Oberst Matzky - L.B.] habe ich erfahren, daß nach Lösung der Sudetenfrage als nächstes die Polenfrage an die Reihe kommt."(1)
Das wußten auch die sowjetischen Aufklärer in Warschau. Unfreiwillige Quelle war hier der deutsche Diplomat Rudolf von Scheliha, Sproß einer berühmten Adelsfamilie, dem der Emporkömmling Hitler verhaßt war. Seine Gedanken und Informationen teilte er bereitwillig einem deutschen Kaufmann mit, bei dem er Verbindungen zu westlichen Kreisen vermutete. Tatsächlich aber gelangten seine Indiskretionen nach Moskau. Eine dieser Mitteilungen lautete:
"Bei der weiteren Realisierung der deutschen Pläne bleibt ein Krieg gegen die Sowjetunion die letzte und entscheidende Aufgabe der deutschen Politik. Wenn man früher hoffte, Polen in diesem Krieg als Bündnispartner zu gewinnen, so ist man nun in Berlin überzeugt, daß es in seinem jetzigen politischen und territorialen Zustand keine geeignete Unterstützung gegen die Sowjetunion sein kann. Daher wird Polen offenbar zunächst territorial aufgeteilt werden."(2)
Einige Zeit später beschaffte die sowjetische Militäraufklärung der sowjetischen Führung genauere Informationen über Hitlers Pläne:"Nach Hitlers Worten, die er vor einigen Tagen gegenüber Ribbentrop geäußert hat, befindet sich Deutschland gegenwärtig in der Etappe seiner absoluten militärischen Verankerung im Osten, die mit brutalsten Mitteln ohne jeden ideologischen Vorbehalt erreicht werden soll. Auf die gnadenlose Säuberung des Ostens folgt die westliche Phase, die mit der Niederlage Frankreichs und Englands - erreicht auf politischem oder militärischem Wege - enden wird. Erst danach ist die große, entscheidende Auseinandersetzung mit der Sowjetunion möglich, in der die Sowjets zerschlagen werden.
Gegenwärtig läuft noch die Etappe der militärischen Verankerung im Osten. Jetzt ist Polen an der Reihe. Deutschlands Aktionen vom März 1939 - die Bildung des Protektorats Böhmen und Mähren, die Gründung des slowakischen Staates und der Anschluß des Memellandes waren nicht zuletzt gegen Polen gerichtet und auch so geplant. Hitler wurde etwa im Februar dieses Jahres klar, daß Polen mit Verhandlungen nicht gewonnen werden kann. Daher hat er beschlossen, es mit Gewalt in die Knie zu zwingen.
Wenn die Dinge weiter so laufen, wie die Deutschen sich das vorstellen, wenn sich Polen in den nächsten Wochen nicht unterwirft, was kaum zu erwarten ist, dann wird im Juli oder August ein militärischer Angriff folgen. Der polnische Generalstab rechnet für den Herbst, nach der Ernte, mit Kriegshandlungen. Deutschland hofft, Polen mit einem Überraschungsangriff den entscheidenden Schlag zu versetzen und einen schnellen Sieg zu erringen. Der strategische Widerstand der polnischen Armee wird in 8 - 14 Tagen gebrochen...
Die deutschen Vorbereitungen auf einen Krieg gegen Polen sollen im Juli/August abgeschlossen sein..."(3)
Weiter hieß es in dem Bericht:
"Bei diesem Projekt ist in Berlin nur eine Frage offen: Die mögliche Reaktion der Sowjetunion."
Das Bild war also einigermaßen klar. Hitlers Plan, im August oder September gegen Polen loszuschlagen, stand fest. Das bestätigte Rudolf von Scheliha, der am 7. Mai 1939 berichtete:
"In den letzten Tagen sind in Warschau eingetroffen: 1) der persönliche Mitarbeiter Ribbentrops, Kleist, mit der Aufgabe, die Stimmung in Polen zu erkunden; 2) der deutsche Heeres- und Luftwaffenattache in Warschau, Oberst Gerstenberg, der zur Berichterstattung in Berlin weilte; 3) der deutsche Botschafter in Warschau, von Moltke, den Hitler fast einen Monat lang in Berlin festhielt und der jetzt ohne Direktive zur weiteren Politik gegenüber Polen auf seinen Posten zurückgekehrt ist. Was Kleist und Gerstenberg über Deutschlands derzeitige Pläne berichten, stimmt überein. Auf eine entsprechende Frage erklärte Moltke, auch er habe in Berlin in Teilen von diesen Plänen erfahren...
Nach Meinung deutscher Militärkreise werden die Vorbereitungen für einen Schlag gegen Polen nicht vor Ende Juli abgeschlossen sein. Die Offensive soll mit überraschenden Bombenangriffen auf Warschau eingeleitet werden, das man in Schutt und Asche legen will. Auf die erste Welle von Bomberstaffeln folgt nach sechs Stunden eine zweite, um das Zerstörungswerk zu vollenden. Für die darauf folgende Zerschlagung der polnischen Armee sind vierzehn Tage vorgesehen. Hitler ist sicher, daß weder England noch Frankreich in den deutsch-polnischen Konflikt eingreifen werden."(4)
Am 7. August 1939 wurden der sowjetischen Militäraufklärung folgende Äußerungen des deutschen Heeres- und Luftwaffenattaches in Polen, Gerstenberg, bekannt:
"Die Entscheidung ist gefallen: Noch in diesem Jahr werden wir Krieg mit Polen haben. Aus absolut zuverlässiger Quelle weiß ich [Gerstenberg - L.B.], daß Hitler sich in diesem Sinne entschlossen hat. Seit Wohlthats Besuch in London ist Hitler davon überzeugt, daß England im Konfliktfall neutral bleiben wird. Die Verhandlungen der Westmächte mit Moskau laufen für uns nicht gut. Das ist für Hitler ein weiteres Argument, die Aktion gegen Polen zu beschleunigen. Hitler geht davon aus, daß sich England, Frankreich und die Sowjetunion im Moment noch nicht geeinigt haben. Vereinbarungen zwischen den Generalstäben der Verhandlungspartner von Moskau brauchen längere Zeit. Deutschland muß zuvor den ersten Schlag führen. Der Aufmarsch der deutschen Truppen gegen Polen und die Konzentration der notwendigen Mittel werden zwischen dem 15. und 20. August abgeschlossen sein. Ab 25. August ist mit dem Beginn von Kriegshandlungen gegen Polen zu rechnen."(5)
Das entsprach exakt der Lage.
Bereits am 3. April 1939 war vom OKW die Weisung ergangen, den Plan "Weiß" auszuarbeiten. Als Termin wurde der 1. September genannt. Am 11. April gab es Präzisierungen; der Termin blieb unverändert.
Generalstabspapiere haben die Besonderheit, daß der Kommentar in der Regel nicht mitgeliefert wird. Sie sprechen sozusagen für sich selbst. Beim Plan "Weiß" fällt als erstes auf, daß jeder Hinweis fehlt, was die Truppen nach dem Einrücken in die polnischen Ostgebiete, d. h., in den Westen Weißrußlands und der Ukraine, tun sollten. Die Pläne entstanden im April/Mai 1939, als die Militärs an den künftigen Pakt mit der Sowjetunion noch nicht einmal im Traum denken konnten. In den Papieren ist nur davon die Rede, die polnischen Truppen in Westpolen möglichst rasch zu zerschlagen. Keines der Dokumente deutet auch nur an, daß man vom Fall "Weiß" zu einer Operation gegen die UdSSR übergehen könnte. Stattdessen heißt es in der Weisung des OKW Nr. 3 vom 9. September: "Läßt sich übersehen, daß Teile des Ostheeres und der Luftangriffskräfte für ... die Befriedigung der besetzten Gebiete nicht mehr benötigt sind, so ist ihre Verwendung im Westen einzuleiten." Das wurde in der Weisung Nr. 4 des OKW vom 25. September noch einmal bestätigt.(6) In der Planung des Generalstabes war also vorgesehen, nach Polen nicht gegen die UdSSR, sondern gegen Frankreich loszuschlagen.
Polen war bald in die Knie gezwungen. Hitler zeigte sich mit dem Gang der Dinge an der Front überaus zufrieden. Allerdings hatte er vor, die Sowjetunion direkt in die Kriegshandlungen gegen Polen einzubeziehen. Schulenburg erhielt ein Telegramm nach dem anderen. Man wollte die UdSSR zum offiziellen Kriegseintritt bewegen. Dann hätte England ihr den Krieg erklärt, und sie wäre in der kommenden Auseinandersetzung mit Deutschland isoliert gewesen. Stalin agierte jedoch mit größter Vorsicht. 
Daß eine Teilung Polens bevorstand, wurde nicht sofort offenbar. Erstmalig hatte dies Ribbentrop in seiner Überlegung angedeutet, die Sowjetunion und Deutschland hätten in Osteuropa keine gegensätzlichen Interessen, und für Deutschland sei die Fortexistenz Polens nicht hinnehmbar. Eine Teilung Polens deutete sich abermals an, als Deutschland darauf verzichtete, auf polnischem Boden einen ukrainischen Staat zu errichten. Beim Aushandeln des NIchtangriffsvertrages einigte man sich dann auf eine gegenseitige Abgrenzung der Interessensphären längs der Flüsse Narew, Weichsel und San. 
Am 23. August war folgender Stand erreicht: Über das endgültige Schicksal Polens sollte später entschieden werden. Zunächst zog man mitten durch das Land eine Linie, die die deutschen und sowjetischen Interessen voneinander trennte. Litauen fiel der deutschen Einflußsphäre zu.

Teil 2