Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Michelle de Kretser: Der Fall Hamilton. Teil 2

17.07.2006.
Wenn unser Klan in Lokugama versammelt war, unterhielten Pater und seine Cousins die Erwachsenen mit der Darstellung ausgedachter Episoden aus dem Leben des Verflixten P, der schnell Teil der Familienfolklore geworden war. Der Verflixte P im Buckingham Palace: enorme Heiterkeit bei den Zuschauern, als unser Held dem Kronprinzen Betel aufschwatzt, Tee aus der Untertasse schlürft, das Hinterteil einer Hofdame beäugt, einen Lakaien fragt, wann der Arrak serviert wird, und das alles unter dem strengen Blick von Königin Victoria (meiner stark mit Polstern ausgestopften Tante Sybil, die schon im Alter von zwölf eine beunruhigende Ähnlichkeit mit der respekteinflößenden Monarchin besaß).
     Willy nahm den Verflixten P einmal beiseite und machte ihm ein sportliches Angebot: Die Sache ein für allemal wie Gentlemen abzuschließen, mit den Waffen seiner Wahl, um den vermaledeiten Anwälten ein Schnippchen zu schlagen. Doch der Verflixte P war ein strenggläubiger Buddhist. "Hat mir einen Vortrag über das Töten und so weiter gehalten. Vor Gericht läßt mich der alte Quälgeist ausbluten, aber das ist angeblich etwas anderes."
     Mit der neuen Regierungspolitik hinsichtlich des restriktiven Verkaufs von Urwald war die Angelegenheit mittlerweile keine Farce mehr. Willys Anwälte sahen dem Urteilsspruch, der endgültig wenige Wochen später ergehen sollte, pessimistisch entgegen. Dann starb mein Großvater und Willy schrieb den Leserbrief. Das Gericht befand zu seinen Gunsten. Seine Urwaldflächen wurden gerodet und mit Kokospalmen bepflanzt, die nach einiger Zeit hübsche Gewinne abwarfen. Der Verflixte P verschwand aus dem Blickfeld, auch wenn Willy ihm weiterhin jedes Jahr eine Weihnachtskarte schickte. Dennoch starb der arme Willy als enttäuschter Mann, weil aus der Verleihung des Order of the British Empire, nach der er sich so gesehnt hatte, nie etwas wurde. Die Engländer haben nämlich ein langes Gedächtnis. Ihr großes Talent ist die Versöhnung von Gerechtigkeit und Kompromiß. Ein eindrucksvolles Volk. Es fehlt mir heute noch.


RITZKY

Wäre etwas anderes aus Pater geworden, wenn ihm nicht durch Sir Stanleys Bootsunglück die liebende Strenge eines Vaters in solch zartem Alter entrissen worden wäre? Spekulationen dieser Art sind unwiderstehlich, aber unsinnig. Ich persönlich glaube, daß Söhne geboren werden, um ihre Väter zu enttäuschen. In dieser Hinsicht erfüllt jeder Mann sein Schicksal.
     Mein Vater war ein unbekümmerter, übermäßig genußsüchtiger Mann. Er hatte etwas Schwammartiges an sich, wie ein Fisch, der zu lang auf dem Trockenen gezappelt hat. Möglicherweise war dies das Ergebnis der historischen Umstände. Mit der Weiterentwicklung der Kolonialverwaltung hatte die Macht der mudaliyars immer weiter abgenommen und war von der Beschäftigung mit dem gesellschaftlichen Status abgelöst worden. Ranghohe Personen wie Pater hatten außer der Beratung der Briten über das, was die Ceylonesen taten und dachten, nicht mehr viel zu tun. So kam es, daß ihr wichtigster Einfluß nun in der halbjährlichen Vergabe der imperialen Auszeichnungen unter ihren Landsleuten bestand. Pater war stets im Mittelpunkt einer Gefolgschaft unterwegs, die nur zu gern über seine geistreichen Bemerkungen lachte und ihn zu seiner Urteilskraft beglückwünschte. Insgeheim wurden die Namen für die begehrten Orden und Titel auf der Rückseite von Tanzkarten ausgelost. Wurde jemand übergangen, so entwickelten sich die Ressentiments zu endlosen Romanen von Kränkung und Rache, die so detailversessen waren wie die Petitpoint- Stickereien, an denen Generationen von Damen sich im Salon die Augen verdarben.
     Pater liebte Festivitäten, Pferde und Champagner. Seine Freigebigkeit war legendär. Hatte er sich bei einer Gesellschaft besonders gut amüsiert, erhielt die Gastgeberin vielleicht drei Flaschen unbezahlbaren Tokajer oder einen Kamm, der zuletzt einer chinesischen Kaiserin gehört hatte. Sentimentale Lieder ließen ihn in Tränen ausbrechen. Einmal, als er von einem schwerkranken Kind auf der Plantage von Lokugama hörte, ließ er einen Wagen zu seinem eigenen Spezialisten in Colombo schicken. Für die gesamte Strecke von zweihundert Meilen war fast ein ganzer Tag nötig und das Kind starb Stunden, bevor Sir Humphrey eintraf; aber darum ging es auch nicht.
     Wann immer Pater in Lokugama Residenz bezog, drängelten sich die Bittsteller am Tor. In seiner Hörweite verkniffen es sich wahre Freunde, dieses Gemälde oder jenen Zierat zu bewundern, weil er sie dann unweigerlich mit Nimm es! Nimm es! Ich habe es für dich gekauft! bedrängte, und wenn sie weiterhin eisern ablehnten, dann ließ er es am nächsten Tag trotzdem bei ihnen vorbeibringen.
     Wie alle löblichen Tugenden war diese Freizügigkeit für die Menschen seiner direkten Umgebung schwer zu ertragen. Ich lernte es, geliebte Spielzeuge zu verstecken, nachdem Pater einmal meine Zinnsoldaten auf der Veranda erblickt, sich Fürst Wellington geschnappt und in die schmutzstarrende Hand des Enkels unserer Köchin gedrückt hatte. Ich stürzte mich auf den kleinen Widerling und trat ihm gegen die flechtenverkrusteten Schienbeine, wofür ich mir eine Tracht Prügel einhandelte. An jenem Abend weinte ich mich in den Schlaf. Nicht wegen meines Hinterteils - die Schläge meines Vaters waren so leicht, daß ein Rohrstock in seiner Hand ein Instrument der Liebe war - , sondern wegen der Ungerechtigkeit, die mir widerfahren war.
     Es waren Paters legendäre Spendierhosen, durch die er meiner Mutter zum ersten Mal auffiel. Mater, ihre Cousine Iris und Iris Eltern nahmen während des ersten Besuches der Mädchen in London gerade den Tee im Savoy ein, als Großonkel Bertie sein Monokel zurechtrückte: "Ist das nicht der junge Obeysekere da drüben am Fenster? Aber wer um Himmels willen ist dieser fürchterliche Mensch, den er da bei sich hat?"
     Der fürchterliche Mensch entpuppte sich als arbeitsloser Kutscher, der meinen Vater auf der Straße angehalten und mit der Aussage, daß er hungrig sei, um Geld angegangen hatte. Pater lud ihn zum Tee ein. Die wie vom Donner gerührten Servierkellner brachten Aprikosenmarmelade, Zitronencreme, Käseküchlein, Spargelbrötchen, mürbes Buttergebäck, Kaffee-Eclairs, Toasts mit Zunge, Ingwerplätzchen, Kokosbaisers, Garnelenpaste, einen mit Himbeeren belegten Biskuitkuchen, Mandelmilchcreme, Pflaumenkuchen, Kümmelkuchen und einen zitternden Wackelpudding mit Mandarinorangen. Pater war dafür bekannt, daß er fürstliche Trinkgelder gab. Der Kutscher zeigte sich der Sachlage aufs wunderbarste gewachsen und stopfte sich Bauch und Taschen voll. Mater schwor, daß sie gesehen hatte, wie er die zwischen zwei Rosinenbrötchen eingeklemmte Zuckerzange mitgehen ließ.
     Zahlreiche ältere Damen begannen die Nase zu rümpfen und lautstark nach dem Geschäftsführer zu verlangen. Pater merkte davon nichts, rauchte seine Pfeife und plauderte munter weiter. Als Maud sich mit ihrem Gefolge näherte, sagte er gerade: "Sie müssen mir Ihr Ehrenwort als Gentleman geben, sich nie wieder die Lippen mit Chinatee zu besudeln. Ceylon! Der Geschmack ist ganz unvergleichlich, wissen Sie. Wenn Sie diese Berghänge an einem Aprilmorgen sehen könnten!" In diesem Augenblick beschloß Mater, ihn zu heiraten.
     Man hüte sich vor dem, in das man sich verliebt. Ich habe schon oft feststellen können, daß wir uns von den Charaktereigenschaften angezogen fühlen, die wir selbst nicht besitzen; es ist insofern nicht verwunderlich, daß sie schnell ihren Charme einbüßen. Meine Mutter, eine gewitzte, pragmatische Frau, war fasziniert von diesem zwanglosen Fremden mit den offenen Händen. Schon nach wenigen Tagen nannte sie ihn Ritzy, ein Spitzname, der sowohl ihr Desinteresse an Einzelheiten bewies (sie hatte ihn immerhin im Savoy kennengelernt, wie Sie sich erinnern) als auch ihr Verlangen nach dem Glanz der großen Gesellschaft. Doch als dem Fest der Liebe dann die Rechnung der Vertrautheit folgte, war ihr klar, daß sie einen Mann geheiratet hatte, der nichts lieber tat, als alles zu verschenken.

Teil 3