Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Michelle de Kretser: Der Fall Hamilton. Teil 3

17.07.2006.
Die Gesellschaft bietet keinen Raum für Anwandlungen dieser Art man denke nur, wo das hinführen würde; insofern war es vom Standpunkt meines Vaters aus betrachtet ein Glück, daß es ein gesellschaftlich anerkanntes Ventil für seine Schwäche gab. Die Pferde kamen aus Irland und Arabien, aus Kapstadt und Kalkutta, schöne Tiere mit feinem Fell, angespannt wie Violinsaiten. Während der Saison in den Bergen und in Colombo das ganze Jahr über war Pater, eine Gardenie im Knopfloch und seinen Ring aus punziertem Silber mit dem glücksbringenden Mondstein am kleinen Finger, damit beschäftigt, sich meines Erbes zu entledigen. Hin und wieder konnte er es nicht vermeiden, auch einmal zu gewinnen. Bei solchen Gelegenheiten wirkte er sichtlich bedrückt.
Meine Eltern stritten sich ganz fürchterlich, beziehungsweise Pater wich ihr mit seinem Lächeln, das sie fuchsteufelswild machte, aus und schlug Haken, während meine Mutter ihn mit Beschimpfungen überhäufte und allem bewarf, das ihr gerade in die Hände fiel: Kissen, Obst, Obstschalen, Tennyson-Erstausgaben, Kerzenständern aus dem achtzehnten Jahrhundert, einem Satz Elfenbeinfigurinen, einem silbernen Präsentierteller, einem Dominospiel, einem Mädchenhaarfarn. Sie schnappte sich einen Kanarienvogel aus dem Käfig und ließ ihn zusammen mit einem Strom von Flüchen auf meinen Vater los. Der Vogel flog in einen Spiegel und war tot. Mater schnappte sich das tote gelbe Etwas und ließ es in ihre Teetasse fallen, die sie meinem Vater dann samt Inhalt an den Kopf schleuderte.
Meine Mutter war eine große Werferin. Kristallglas war ihre Spezialität. Mein Vater war darum bemüht, ihr stets einen ausreichenden Nachschub an kostbarem Glas zur Verfügung zu stellen. Ob ihr nie klar war, daß er sie zur Komplizin in seinem großen Plan, uns an den Bettelstab zu bringen, machte? Vasen, Karaffen, ein weinroter venezianischer Schwan und fünf kleine Schwäne: sie zerbarsten, und Maters gelbe Augen glitzerten. Die Eidechsenzunge glitt über ihre Lippen. Als ich einmal starr vor Angst hinter einem Sessel hervorlugte, während sie tobte und eine Baccarat- Karaffe und ein Dutzend unbezahlbarer Wassergläser auf den Boden warf, sah ich, wie sie plötzlich innehielt. Sie schritt hinüber zu Pater, warf ihn auf die Ottomane und setzte sich rittlings auf ihn. Ich war überzeugt, daß sie ihn ermorden und ihm mit einer eisigen Glasscherbe die Kehle durchschneiden würde. Ich preßte die Knie zusammen und wiegte mich vor Begeisterung. Endlich würde sie mir gehören, mir allein! Man stelle sich meine Enttäuschung vor, als sie stöhnte und er lachte, und ehe ich mich versah, saßen sie wie die besten Freunde nebeneinander.
Doch die stärkste Erinnerung an meine Eltern ist, daß sie nicht da waren.


LOKUGAMA

Ich erinnere mich an das Kommen des Monsuns, das berauschende Gefühl außer Kraft gesetzter Regeln, wenn die Erde dunkel wurde und der Wind gigantisch anschwoll und aus einem anderen Quadranten blies. Ich erinnere mich an den grasbewachsenen Innenhof, in dem ich endlose Nachmittage lang auf dem Rücken lag und zusah, wie zerzauste Wolken über den Himmel zogen.
Hinter der Dienstbotenunterkunft, hinter der Mauer, welche die rückwärtige Begrenzung unseres Gebäudekomplexes darstellte, drohte der Dschungel. Grüne Vögel flogen daraus hervor. Einmal stapelte ich Ziegelsteine aufeinander und zog mich hinauf zur Mauerkrone. Dort starrte ich in das Antlitz einer Kobra, die in einem Sonnenflecken zusammengerollt dalag. Ich wiederholte das Experiment nicht.
Mein erster Freund war ein glattes, graues Pony, Moonshine. Jeden Morgen und jeden Abend ritt ich auf ihm hinaus zur Hauptstraße und zurück, was den Tag mit tröstlicher Gesellschaft umrahmte. Es gab auch Hunde, fünf oder sechs, streng nach Lifebuoy-Seife riechende deutsche Doggen, die wie Jagdtrophäen herumlagen. Pater mochte die Rasse, vielleicht, weil sie ihn an Pferde erinnerte. Er gab ihnen immer mit Gentleman s Relish bestrichene Toasts aus der Hand zu fressen. Sie lebten nie sehr lange: Denen, die nicht von den Schlangen geholt wurden, machten die Zecken den Garaus.
Als von einem Feuer vierzig Jahre zuvor ein Teil des Hauses zerstört worden war, hatte mein Großvater höchstpersönlich die Pläne für den Wiederaufbau entworfen. Das resultierende Gemisch der Stile war ein eindeutiges Zeugnis des Triumphs von Eifer über Eignung. Die für unsere traditionellen Wohnhäuser auf LOKUGAMA 23 dem Lande typischen Innenhöfe waren jetzt gefangen zwischen Veranden, die mit winzigen senf- und rostfarbigen Sechsecken wie in den Beamtenbungalows gefliest waren. Acht Zentimeter dicke Satinholztüren, die schon holländischen Geschützen standgehalten hatten, öffneten sich auf den Abtritt. Ein Korridor bog um die Ecke und kollidierte mit einem zugemauerten Durchgang. Ein uraltes Fresko auf den Torpfosten, von einem Künstler liebevoll restauriert, der drei Jahre lang an den Szenen aus dem Leben Buddhas gearbeitet hatte, stieß sich mit den Marmornymphen und -schäfern, die Sir Stanley aus Genua hatte heranschaffen lassen und die einem nun überall auf dem Gelände auflauerten. Glücklicherweise hatte an diesem Punkt Miss Dawson mit ihrem Ruder interveniert, und die Vision meines Großvaters von zinnenbewehrten Mauern wurde nie in Stein umgesetzt.
Ich langweilte mich in jeder Ecke des riesigen, hinten und vorn nicht zusammenpassenden Hauses, das er hinterlassen hatte. Am Tisch im Speisesaal fanden zweiunddreißig Personen Platz; schläfrig vor Langeweile lag ich einmal ein ganzes Mittagessen mit neun Gängen lang unter seiner Ebenholzdecke und raffte mich nur hin und wieder auf, um die Fesseln der Tochter eines Ministers zu inspizieren. Langeweile brachte mich auf die Idee, die Darstellung unseres Stammbaumes in eine antike Anrichte zu quetschen und von jedem Keks und jedem Kuchen in der Speisekammer einmal kräftig abzubeißen. Der Monotonie überdrüssig quälte ich Frösche und Vögel im Oleandergebüsch, nur um auch an deren Leiden das Interesse zu verlieren, sobald es begonnen hatte.
Auf der verzweifelten Suche nach Zerstreuung machte ich dann eine Tour durch alle Schränke des Hauses und betrachtete das fabelhafte Strandgut des Empires: scharlachrote Lackdosen, Opiumpfeifen mit elfenbeinernem Mundstück, Kartentabletts aus Zinn, ein Straußenei auf einem filigranen Ständer, sogar eine jadegrüne Tikafigur aus Neuseeland. Unter diese kostbare Kollektion war eine demokratische Versammlung lederner Kamele aus Aden und Muschelaschenbecher aus Brighton gemischt. Zwi- 24 schen dem relativen Wert der Gegenstände wurde kein Unterschied gemacht. In einem georgianischen Deckelkrug steckte vielleicht ein kitschiger Papierfächer, auf dem die Kirschblüte in Birmingham leuchtete, oder eine persische Wandkachel aus dem siebzehnten Jahrhundert, die mit rubinroten Granatäpfeln bemalt war. Alle dienten gleichermaßen dazu, unser altes, im Dschungel dösendes Haus mit der großen, weiten Welt des Handels und der Maschinen zu verbinden. Ich war das Zentrum, das alles anzog und zusammenhielt - so stellte ich mir das zumindest vor, wobei mir ganz schwindlig vor Stolz wurde. Viele Jahre später, als ich durch die parfumduftende Pracht von Mr. Selfridges Warenhaus wanderte, überkam mich wieder dasselbe wunderbare Gefühl. Welch Überfluß, welche Vielfalt! Ein Füllhorn verschiedenster Gegenstände, spitzenbesetzte Taschentücher und Rattan-Papageienkäfige, en bloc auf sämtlichen Außenposten des Globus zusammengekauft. Allein mein Blick gab dieser surrealen Topographie ihren Sinn und errettete sie vor dem Chaos.
Wenn ich die Augen schließe, kann ich immer noch den Salbengeruch des Medizinschränkchens riechen, das in Lokugama in Maters Schlafzimmer stand. Es war weiß lackiert und wurde mit einem kleinen Messingschlüssel verschlossen. Mein geistiges Ordnungssystem bringt dieses leicht bedrohlich wirkende Schränkchen in Verbindung mit einem Schrank, der eine Ecke von Paters Schreibzimmer einnahm. Gegenstände, die sich seit Generationen in unserer Familie befanden, lagen in wüstem Durcheinander auf seinen Regalen. Im Laufe der Zeit glanzlos gewordene Zierkrummschwerter, Palmblattschriftrollen mit königlichen Signaturen, Buddhastatuen, intarsiengeschmückte Betelkästchen, vergoldete Arekanußknacker, durchbohrte Chankmuscheln, ein ganzer Haufen Kämme aus Schildpatt und Silber: alles sonderte einen unerfreulichen Geruch nach Staub und Vernachlässigung ab.
Wir hatten mindestens ein Dutzend Hausangestellte und ein ganzes Regiment von Gärtnern und Stallknechten. Ich erinnere mich noch an die Aufregung, als sich ein Dienstmädchen in den Küchenbrunnen stürzte; eine Woche lang mußte alles Wasser für den Haushalt aus den Brunnen der Plantagen geholt und auf einem Karren zum Haupthaus gebracht werden, eine willkommene Abwechslung in der monotonen Routine unseres Lebens.
Hin und wieder war der Küchenhof urplötzlich voller Gekreisch und fliegender Federn. Oder aus dem nächsten Ort kam ein Orchester auf einem Ochsenkarren an. Zumindest die Instrumente kamen auf dem Karren, die Musiker trotteten daneben her. Wenn sie dann die Instrumente stimmten, klagten sie immer über Blasen an den Zehen. Später trafen dann meine Eltern aus Colombo ein und kamen mit Mitbringseln und drei bis dreißig Bekannten angerauscht. Ich rannte zu Mater und umklammerte ihre Knie. Weil ich nicht wußte, wie ich meiner Sehnsucht sonst hätte Ausdruck verleihen sollte, vergrub ich manchmal die Zähne in den Falten ihres Rockes und zerrte am Stoff. Sie tätschelte mir den Kopf. Ihre teebraunen Hände glitzerten mit Diamanten und dufteten nach russischem Tabak. An ihrem Handgelenk blinzelte ein Katzenaugen-Armreif.
Pater kaufte den Champagner immer zu zwölf Dutzend Flaschen. Die Abendgesellschaften dauerten bis zum Morgengrauen. Wenn alle gegangen waren, reihte ich die leeren Flaschen auf der Veranda auf und schoß sie mit meinem Luftgewehr kaputt. Das habe ich vor Augen, wenn ich an meine Kindheit denke: Ein Junge mit Kniestrümpfen und kurzen Hosen, der träge, sonnenbeschienene, leere Nachmittag, Vögel, die beim ersten Knall aus dem Laub aufflattern.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Klett-Cotta

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