Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Abe Opincar: Am Abend, als ich meine Frau verließ, briet ich ein Huhn. Teil 2

11.09.2006.
Zweites Kapitel

Meine Nachbarin Arlene, eine ernste ältere Frau, die einen Trans Am fährt, stellt mir Tüten voller Persimonen vor die Haustür. Die Bäume in ihrem Garten sind so mit Früchten beladen, daß die Äste sich zum Boden biegen. Am Spätnachmittag fallen Scharen von Blauhähern ein und lassen sich auf den Ästen nieder. Orange gelbes Fruchtfl eisch leuchtet auf ihren Schnäbeln. Ich stehe am Zaun und betrachte das Festmahl. "He, runter von den Bäumen!" schreie ich und schwenke die Arme. Die Blauhäher ignorieren mich.

     Arlenes Großzügigkeit gehört zu den Dingen, an denen ich erkenne, daß Zeit vergangen ist. Wenn man allein lebt, gehen die Tage in ein ander über. Ich kann mein Leben in groben Zügen schildern, aber kaum genaue Daten angeben. Wenn ich nach Hause komme und eine Tüte Persimonen vor meiner Tür fi nde, weiß ich, daß es Mitte Oktober sein muß. Ich lege die Persimonen auf der Fensterbank über der Spüle aus. In ein paar Tagen werden sie anfangen, weich zu werden.
     Seit ich unversehens wieder Junggeselle geworden bin, bearbeite ich gewissenhaft meinen Garten. Ich häufle. Ich jäte. Ich dünge. Ich durchsuche Kataloge nach Minzen, Sonnenblumen, besonderen Tomatensorten. Ich ignoriere Beschreibungen von Feigenbäumen und Zitronen, Pflaumenbäumen, Aprikosen, Persimonen. Von allem, was ich anpfl anzen könnte, wären mir Obstbäume das liebste. Aber Obstbäume brauchen Jahre, bis sie zum ersten Mal tragen. Ich bin entwurzelt. Ich weiß nicht, wo ich in ein paar Jahren sein werde.
     Arlene jätet nicht viel, düngt kaum und gießt auch nicht oft. Sie erzählt mir, daß sie ihre älteste Persimone vor zwanzig Jahren gepfl anzt hat. "Aber die anderen beiden waren Freiwillige. Sie sind aus Samen entstanden, die Blauhäher fallen gelassen haben. Sie sind mir nichts, dir nichts aus der Erde gewachsen. Und jetzt tragen sie so viele Früchte, daß ich nicht weiß, wohin damit."
     Manchmal spricht sie mit mir über unseren Gartenzaun hinweg, während ich jäte und an meinem Rasen herumschnipple. Sie redet von ihren Kindern. Anscheinend hat sie mehrere. Enkel sind auch vorhanden. Ich blicke da nicht durch. Sie kommen sowieso nur selten zu Besuch. Ihr macht das offenbar nichts aus.
     "Man kann sie großziehen", sagt sie, "aber man kann nicht ihr Leben für sie leben. Man erledigt das Grobe, dann läßt man sie ziehen."
     Sie vermutet, daß ihre Persimonen die einheimische amerikanische Art Diospyros virginiana sind. Ich bin anderer Meinung. Amerikanische Persimonen sind rund. Die von Arlene laufen spitz zu. Es könnte sich um Hachiya-Persimonen handeln, eine der japanischen Arten. Im unreifen Zustand sind sie, wie die amerikanischen Persimonen, runzlig und herb. Morgens, wenn ich Kaffee mache, drücke ich ganz vorsichtig die Persimonen auf der Fensterbank. Sie reifen von innen heraus. Man muß abwarten, bis sie im Inneren weich sind, puddingartig. Sie sind sehr süß, und für mein Empfi nden schmecken sie ein bißchen nach Kürbis. Dieses Warten, die erforderliche Wachsamkeit, macht sie für mich zu einem altmodischen Labsal. Persimonen sind geduldige Früchte.
     Meine Mutter kommt zu Besuch. Eines Abends steht sie in der Küche an der Spüle, in der Hand eine angebissene Persimone.
     "Als ich ein kleines Mädchen war", sagt sie, "haben wir in der Nähe eines Persimonenhains gewohnt. Ich bin immer auf die Bäume geklettert und hab so viele gegessen, wie ich wollte. Meine Mutter sagte immer: 'Tu das nicht, du wirst Bauchweh bekommen.' Ich hab immer Bauchweh bekommen. Ich hab nie auf sie gehört."
     Sie sieht mich an. "Du hast immer gehorcht. Du warst ein braver Junge. Bevor dein Vater starb, hat er gesagt, wenn er gewußt hätte, daß sie werden wie du, hätten wir mehr Kinder gehabt."
     In letzter Zeit neigt sie zu solchen besinnlichen Reminiszenzen. Mein toter Vater. Ihre tote Mutter. Meine Kindheit. Sie ist fast siebzig und schläft die ganze Nacht durch. Ich höre sie schnarchen und murmeln. Am frühen Abend führt sie immer lange Telefongespräche mit meinem neunjährigen Neffen. Sie spricht mit ihm über die Schule. Sie hilft ihm bei seinen Matheaufgaben.
     "Der Junge hängt sehr an mir", sagt sie. "Ich weiß nicht, was ich ohne ihn machen würde."
     Ganz nebenbei fragt sie mich, ob ich irgendwann noch einmal heiraten werde. Ich sage, das bezweifle ich. Sie wechselt das Thema und nimmt ihre Stickerei zur Hand - eine dicke grüne Kröte, die auf einem Seerosenblatt hockt.
     "Dein Vater wollte immer ein Kind von dir auf den Knien schaukeln."
     Tags darauf bringt mir Arlene noch mehr Persimonen. Meine Mutter begrüßt sie an der Tür. Die beiden unterhalten sich, lachen. Beide Witwen, Überlebende wider Willen. Ich entschuldige mich und trage den Abfall raus. Staub weht über die ungepfl asterte Straße. Zehn bis zwölf Blauhäher sitzen auf meinem verwitterten Zaun. Die Vögel beäugen erst mich, dann Arlenes Persimonen. Zwitschernd und pfeifend flattert der ganze Schwarm auf und fällt über die Früchte her, oder über das, was noch übrig ist. Angefressene Persimonen baumeln traurig zwischen den braunen und roten Blättern. Ich will die Vögel schon verscheuchen, dann halte ich inne. Nächstes Jahr gibt es wieder mehr als genug Persimonen, sage ich mir. Und übernächstes auch.

Ich pflanzte gerade Basilikum in einem neuen Hochbeet, als ich im Radio hörte, daß Käse mich umbringt. Eine Ernährungswissenschaftlerin, deren Stimme in meinem billigen Radio blechern und nasal klang, beschrieb, wie der Käse die Arterien mit "klebrigem" Cholesterin auskleide, was zu "vorzeitigem Altern und zum Tod" führe. Sie sprach über Wachstumshormone, über Insektizide im Rinderfutter. Sie sagte, die Amerikaner müßten "darauf achten, was sie essen, oder die Konsequenzen tragen". Ich machte das Radio aus und goß mein Basilikum.
     Am Vollmondtag des Hindu-Monats Ashwini opfern Frauen im ländlichen Indien den Basilikumpflanzen in ihrem Hof Kampfer, Wasser, Reis und Blumen. Die Frauen legen sich vor der Pflanze flach auf die Erde und singen rituelle Lieder. Auf Hindi trägt diese Spezies, Ocimum sanctum, den Namen Tulsi. So heißt auch eine Göttin, die Gemahlin des Schöpfergottes Vishnu. Gläubige Hindus sehen im Basilikum nicht nur ein Symbol Tulsis, sondern die Göttin selbst.
     "O Göttin Tulsi", beten die Frauen. "Du, die du Vishnus Kostbarstes bist, die du nach seinen göttlichen Gesetzen lebst, ich fl ehe dich an, schütze das Leben meiner Familie und die Geister derer, die gestor ben sind. Erhöre mich, o Göttin."
     Am Ende des Rituals essen die Frauen ein paar Blätter und verbinden dadurch das Aroma des Basilikums mit Tulsi, deren großer Güte und dem, was sie verheißt - Treue, Schutz und Rechtschaffenheit. Überall in Indien legt man Sterbenden ein Basilikumblatt in den Mund, damit sie die Reise ins nächste Leben gut überstehen.
     Ich habe gehört, daß im Iran Mütter Basilikum auf die Gräber ihrer Söhne pflanzen, als Symbol der Trauer. Die heutigen Iraner stammen teilweise von den Ariern ab, demselben Nomadenvolk, das vor dreieinhalb Jahrtausenden den indischen Subkontinent eroberte und die Götter und heiligen Gesänge mitbrachte, aus denen sich der Hinduismus entwikkelt hat. Die iranische Mutter, die Basilikum auf das Grab ihres Sohnes pflanzt, vollzieht ein uraltes Ritual, das sie, als Muslimin, sonst entschieden ablehnen würde.

Teil 3

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