Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Abe Opincar: Am Abend, als ich meine Frau verließ, briet ich ein Huhn. Teil 3

11.09.2006.
In meinen Garten ziehe ich viele Arten der Lamiaceae, jener Familie, der das Basilikum angehört. Ich mag diese Familie - Minze, Lavendel, Oregano, Thymian, Salbei, Basilikum - nicht nur, weil ihre Mitglieder duften, sondern auch, weil man ihrer Mannigfaltigkeit wegen oft kaum erkennt, daß sie miteinander verwandt sind. Ich denke, daß ihre Ahnenreihe Jahrtausende zurück reicht, bis zu einer gemeinsamen Vorfahrin, der Mutter allen Basilikums, der Matriarchin der Minze, einer buschigen, widerstandsfähigen Pflanze, die einen himmlischen Duft verströmte.
     Bei der Arbeit in meinem Garten höre ich Radio, Sendungen, die sich oft um Gesundheit und Langlebigkeit drehen und bei denen Zu hörer anrufen können. Jede Woche bringt ein neues Aha-Erlebnis. Grünes Blattgemüse, so stellt sich heraus, schützt nicht vor Brustkrebs. Sojabohnenprodukte, so stellt sich heraus, können Krebs erregen. Oder vielleicht auch nicht. Die Jury tagt noch. Jedenfalls nähren Honig und Knoblauch wohltätige Darmbakterien.
     "Ich esse seit einiger Zeit Tofu zur Vorbeugung gegen das Klimakterium", teilt eine Anruferin dem Arzt im Studio mit. "Aber ich bekomme davon Verdauungsbeschwerden."
     Der Arzt seufzt. "Wenn Tofu Sie krank macht, dann essen Sie ihn halt nicht."
     Basilikum ist ein Liebling der Kochkunst-Kolumnisten. Jedes Frühjahr beten sie die skurrilen Legenden herunter: Die alten Griechen glaubten, Basilikum brüte Skorpione aus; die alten Römer verfütterten es zur Steigerung der Fruchtbarkeit an ihr Nutzvieh; im Mittelalter glaubten Gärtner, wenn man an Basilikum rieche, wüchsen einem Würmer "wie Skorpione" im Gehirn; Basilikum symbolisiert Lüsternheit; Basilikum symbolisiert Keuschheit; die Italiener verfluchen den Basi likum samen, damit die Pfl anze gut wächst.
     Die Frau, die mir Kräutersämlinge verkauft, ist wie die meisten Pflanzenexperten, die ich kenne, mager und seltsam und praktisch veranlagt. Kommt man auf hinduistische Basilikumriten oder griechische Skorpione zu sprechen, heuchelt sie nur kurz Interesse. Am Telefon sage ich ihr, daß ich vergeblich versucht habe, Ocimum sanctum aus Samen zu ziehen. Sie sagt, sie habe drei junge Pfl anzen, die sie mir gern verkaufen würde. Aber ich müsse mich beeilen, denn bei ihr zögen dunkle Wolken auf. "Sie können natürlich auch später kommen und im Regen herumstehen", sagt sie. "Aber ohne mich, das sage ich Ihnen gleich."
     Ich fahre die Dreiviertelstunde nach Norden zu ihrer Kräutergärtnerei. Blitze zucken über den Himmel. Hagel trommelt auf meine Windschutzscheibe. An der Einfahrt zur Gärtnerei steht ein "Geschlossen"-Schild, aber ich fahre daran vorbei. Ich finde die Kräuterfrau in einem ihrer Gewächshäuser, wo sie mit den Fingernägeln Blattläuse von Minzepflanzen absammelt. Sie verkauft mir ihre drei Tulsi-Basilikumpflanzen. Murmelgroße Hagelschloßen prasseln auf das Gewächshausdach. Hunderte kleiner runder Schatten prallen von der durchscheinenden weißen Fläche ab. Der Krach ist ohrenbetäubend. Wir müssen schreien, um uns zu verständigen. Wir befinden uns im Innern einer Trommel, auf die ein Unwetter niedergeht.

Als meine Mutter mit mir schwanger war, wurden ihre Augen lichtempfindlich. Im wolkenlosen August platzte ihr schier der Kopf. Die sonnenbeschienene weiße Wand unserer Garage verursachte ihr Schwindel. Eier, sagt sie, als Spiegel eier nur leicht gebraten, beruhigten ihren Magen. Sie zog alle Rollos herunter, schloß alle Vorhänge. Den ganzen Sommer saß sie in der abgedunkelten Küche und aß Eier, deren Dotter wie kleine Sonnen auf ihrem Teller leuchteten. Während sie mich unter dem Herzen trug, sagt sie, roch die Küche immer nach brauner Butter.
     Letzten Sommer veröffentlichte das Europäische Zentrum für Geschmackswissenschaften in Dijon eine Untersuchung, wonach sich die Babys von Frauen, die während der Schwangerschaft Anissamen gegessen hatten, in den ersten vier Lebenstagen einem Geruch nach Anis zuwandten. Babys, deren Mütter keinen Anis gegessen hatten, wandten sich von dem Geruch ab oder reagierten nicht. Es gibt kaum etwas, was mir besser schmeckt als kurz gebratene Spiegeleier oder weichgekochte Eier mit heißem, glattem, zerfließendem Dotter.
     Meine Mutter hatte die Aufgabe, für meinen Bruder, meinen Vater und mich zu sorgen. Ich hatte es gut als Kind. Meine Mutter machte mein Bett, wusch Laken und Bezüge. Morgens weckte sie mich. Ich zog die Sachen an, die sie gekauft, gewaschen und gebügelt hatte. Ich setzte mich an den Frühstückstisch, und sie stellte mir einen Teller mit Eiern hin, die genau so zubereitet waren, wie ich es am liebsten hatte. Sie machte mir die Brote, die ich in die Schule mitnahm. Sie machte mir etwas zu essen, wenn ich von der Schule heimkam. Sie beklagte sich nie. Einmal, als ich noch sehr jung war, stand sie an der Spüle und wusch ab. Ich wollte hinausgehen und spielen. Sie sagte: "Ich bin einsam. Bitte bleib bei mir, und rede mit mir." Ich tat es nicht.
     Manche Nahrungsmittel entreißen wir der Welt gewaltsam. Andere, wie Eier, werden uns scheinbar geschenkt. Die Menschen, stets hungrig, stets auf der Suche nach einer milden Gabe von der bösen, geizigen Mutter Natur, konzentrieren sich nicht auf die Henne, sondern auf das Ei. Die Henne gackert und blinzelt, und schon liegt wieder eins im Nest. Ihr Altruismus ist unbegreiflich, fast schon komisch. Das Ei wird als Sinnbild des ewigen Lebens verehrt. Seine Rundheit und die Regelmäßigkeit seiner Erzeugung erinnern an den Kreislauf von Geburt und Tod. Seine brüchige Schale gemahnt an die Zerbrechlichkeit des Lebens.
     Daß Eier eine feminine Speise sind, offenbart sich in ihrer Zubereitung, die oft schier mütterliche Sorgfalt erfordert. Ist in Kochbüchern von Souffles die Rede, klingt es oft nach Dr. Spocks Säuglings- und Kinderpflege. Die Küche wird zum Kinderzimmer. Eiweiß und Dotter müssen behutsam getrennt werden, Eischnee muß man vorsichtig unterheben. Sobald das Souffle im Ofen ist, bitte keine lauten Geräusche, kein Fußgetrappel mehr! Psst. Seid still. Das Baby schläft.
     Meine Mutter hat mir nie Kochen beigebracht. Nie durften wir - ich, mein Bruder und mein Vater - auch nur abwaschen. (Sie dachte, wir würden es nicht richtig machen, das Geschirr nicht ordent lich abspülen. Außerdem hatte sie ganz allgemein Angst vor Bazillen und fand, daß Männer es damit nicht so genau nehmen.) Bis heute ist meine Kocherei für sie nur eine schlechte Angewohnheit, etwas, was ich besser meiner Frau überlassen sollte, wenn ich nur so vernünftig wäre, wieder zu heiraten. Wenn sie zu Besuch kommt, desinfiziert sie meine Spüle und schrubbt meine Schneidbretter mit bakterizider Seife. Meinen Kühlschrank beäugt sie wie eine tickende Zeitbombe. "Wann hast du zum letzten Mal die Verfallsdaten kontrolliert?"
     Wenn sie zu Besuch kommt, bekocht sie mich. Ich stehe morgens auf, ich rieche Kaffee. Ich komme aus der Dusche, ich rieche Eier. Ich setze mich an den Tisch, sie schaut mir beim Essen zu. "Du sitzt krumm", sagt sie. Oder: "Du hast die gleiche Nase und die gleiche Stirn wie dein Vater." Ich gebe ihr einen Kuß auf die Wange. Sie lächelt und seufzt. Sie sagt, daß sie den Abwasch machen wird.
     Irgendwann später geht sie aus dem Haus. Und kommt nach einer Weile mit Lebensmitteln be laden zurück. Bio-Obst. Bio-Milch. Vollkornbrot. Bio-Eier von freilaufenden Hühnern. Die haben "mehr Vitamine ", sagt sie. Ich ernähre mich nicht falsch, sage ich. Sie zuckt die Achseln. Sie verstaut die Einkäufe. Sie wischt jedes Ei mit einem feuchten Küchentuch ab und setzt es in den Behälter in der Kühlschranktür.
     In der vierten Klasse hatte ich zum ersten Mal Unterricht in Sexualkunde. In dem verdunkelten Klassenzimmer surrte und stotterte der Filmprojektor, in seinem flackernden Lichtkegel leuchtete Staub auf. Das Wunder des Lebens wurde uns vorgeführt. Die Spermien mit ihren hektisch, mecha nisch peitschenden Schwänzen sahen aus wie Insekten. Als das robusteste Spermium sich unter krampfhaften Zuckungen in das apathische Ei bohrte, war ich wie vor den Kopf geschlagen. Wie war es möglich, daß aus diesen blöden, sprach losen, kaulquappenartigen Dingern, die nur ihrem Instinkt gehorchten, Menschen entstanden? Wie konnte ein Wunder so häßlich sein?
     Alljährlich an meinem Geburtstag ruft meine Mutter in aller Herrgottsfrühe an und sagt: "Das ist exakt die Tageszeit deiner Geburt." Ihr Tonfall ist fröhlich, aber es klingt, als könnte sie es selbst nicht fassen. Daß es wirklich geschehen ist. Daß so viele Jahre so schnell vergangen sind. Ich frage sie, ob sich die Mühe gelohnt hat. Die Schmerzen, die Windeln, das Frühstück, die Wäsche. "Ich hab all das nicht getan, weil es mir Spaß machte", sagt sie. "Ich hab's aus Liebe getan."

Mit freundlicher Genehmigung des SchirmerGraf Verlages

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