Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch: Berlin, meine Liebe. Schließen Sie bitte die Augen. Teil 2

25.09.2006.
Einen großen, seufzte Sziv, als bereitete es ihm Schmerzen. Auf dem sympathischen Gesicht des Mannes verwelkte das Lächeln, er griff starren Blickes in das Flaschenregal - und schenkte einen Brandy ein. Stieß das Glas über den Tresen. Sziv trank, krächzte und grüßte. Beim Hinausgehen spürte er den feindseligen Blick in seinem Rücken. Auf der Straße aber summte er fröhlich vor sich hin, mochte der Nordwind am Himmel mit grauen Wolkenfetzen noch so um sich schlagen. An der Ecke blickte ein Honecker - noch waren ein paar übrig - mißbilligend auf ihn herab; Sziv pfiff und winkte ihm zu. An der Bushaltestelle standen pockennarbige Schüler und rauchten, er trat aus Versehen auf den Fahrradweg und wurde fast überfahren, man brüllte ihn wütend an, er gab dennoch ein Lächeln zurück. Die Welt ist wert, was sie wert ist! Huch, ist der deutsche Cognac schlecht, pfui Deibel! Zu Hause hörte er Bach und las Ivo Andri?. Dann tauschte er die Cembaloläufe gegen Annie Lennox aus, formulierte rasch ein paar daunenleichte Sätze, blies sie im Zimmer umher, daß sie flatterten wie im Himmel die freien Seelchen.
     In diesen Tagen hörte Sziv eine sehr schöne Stasi-Geschichte. Und diese ostdeutsche Romanze begann so, daß die Stasi eine Frau eingebaut hat - sagen wir, Corin -, die einen Mann - sagen wir, Hansi - beobachten soll. Die beiden waren Arbeitskollegen in einem Planungsbüro, das ist nicht weiter brisant. Wie viele ostdeutsche Frauen haben wohl in diesen Jahren die nichtsahnenden ostdeutschen Männer bespitzelt? Millionen. Auch Corin kam ihrer Aufgabe nach und schrieb fleißig die Berichte über den Hansi. Monate und Jahre schrieb sie ihre Papierbogen voll, wie ein zuverlässiger Kolumnist, sie schrieb auch dann, wenn sie Kopfschmerzen, Grippe oder Depressionen hatte, ja auch noch, wenn am Himmel der Vollmond grinste, einmal aber, als sie wie gewohnt ihre Meldung darüber formulierte, was Hansi über den berühmten ungarischen Philosophen Georg Lukacs gesagt hatte, da erschauerte sie, und die Feder fiel ihr aus den Hand. Damals wohnte Corin noch in der Grabbeallee, in einem kleinen Appartement im vierten Stock. Sie taumelte zum Fenster und starrte lange durch den Vorhang hindurch auf die öde, nächtliche Straße. Allmählich ging ihr auf, daß sie verloren war. Sie hatte sich in diesen Mann verliebt. Sie war verliebt in seine Bewegungen, in seinen Geruch, in die Art, wie er sie mit hochgezogenen Augenbrauen ansah, und sie, Corin, durfte den Blick erwidern und ihren Kopf dabei zur Seite neigen. Sie dachte, sie würde es nicht überleben, wenn die Zeit sich änderte und sie keine Berichte mehr über Hansi schreiben dürfte. Sie trat zurück an den Tisch, beugte sich über das Papier und schrieb ihre Meldung zu Ende. Dieses Mal formulierte sie die Sätze schöner, nuancierter und eleganter als sonst, sie verwendete nicht den grauen, pflichtdurchtränkten preußischen Stil, sie schrieb ungefähr so, wie ein Spanier oder ein Türke schriebe, der seinen Nachbarn, Feind oder Rivalen denunziert, in blumigen Schachtelsätzen, sich mit Feuer und Leidenschaft in Himmelshöhen versteigend. Und später, im Bett, dachte Corin daran, daß sie diesen Mann am nächsten Tag im Planungsbüro wiedersehen würde. Wie anders wird das sein! Sie erschauerte und ließ ihre Finger langsam zwischen die Oberschenkel gleiten. Denn Wunder gab es sogar in der DDR. Anderntags lächelte Hansi ganz unerwartet und unmißverständlich Corin zu und lud sie in ein stimmungsvolles Lokal im Prenzlauer Berg ein. Hinterher liebten sie sich, wie wenn sie es schon seit Jahren täten und noch immer nicht genug von einander bekommen könnten. Körpersäfte, Blut, Ausdünstungen alles stimmte überein. Corin hatte mindestens vier Orgasmen, sicher ist, daß ihr beim zweiten sogar kurz die Sinne schwanden. Drei Monate lang gingen sie miteinander, dann heirateten sie und waren so glücklich wie der Frühling über den Jüterboger Kasernen. Im Sommer fuhren sie zum Plattensee, aßen Gulyas und scherzten in der Puszta mit den Csikos. Lachend diskutierten sie auf dem Wenzelplatz darüber, ob das Pilsner Urquell besser sei oder das Wernesgrüner. Und einmal flogen sie sogar nach Havanna, Corin übergab sich glücklich vom Rum, und Hans erklärte leicht beschwipst und mit Zigarrenringen spielend, Fidel müsse das Leben einmal auch ohne Bart ausprobieren. Corin wurde schwanger und gebar Hansi ein wunderschönes Mädchen. Und nach wie vor erstattete sie Bericht über den Mann, der jetzt ihr Gatte war. Corin berichtete der Stasi von Hansis Ansichten über die sowjetische Präsenz in Afghanistan, über die gefährlich aufgeweichten Verhältnisse in Ungarn, über Ceaucescu, über den arabischen Terrorismus, über Gott, über den Tod und über Jakob Keller, ihren Nachbarn, der Katzen hielt, nach denen das ganze Treppenhaus stank. Man weiß ja, wie das ist. Einige der Sätze, die Corin Hansi zuschrieb, stammten eigentlich von ihr, desgleichen einige der rapportierten Meinungen. Ja, Corin wob - ohne es zu ahnen - ihr glückliches und harmonisches Zusammenleben in die Meldungen hinein. Und als die Stunde der Freiheit schlug und die Welt begeistert die Mauerstücke mitnahm und klugerweise - in der Tat sehr klugerweise - die Tore zu den Archiven geöffnet wurden, so daß jeder in die einstige Stasi-Hochburg hineingehen und lesen konnte, wer in jenen unglücklichen, weil unfreien Zeiten etwas über ihn gemeldet hatte, da wollte auch Hansi die Wahrheit wissen, und er nahm sich an einem windigen Frühlingstag frei, küßte am Morgen der in letzter Zeit merkwürdig oft kränkelnden Corin die Stirn, ohne ihr zu sagen, daß er statt zur Arbeit ins Archiv ginge, was er auch tat, und las von morgens um zehn bis nachmittags um vier, ohne eine Miene zu verziehen, ohne mit der Wimper zu zucken, was die "Genossin Liebe" genannte Agentin, alias seine Gattin Corin, gut zwanzig Jahre lang über ihn geschrieben hatte.
     An diese Geschichte dachte Sziv, genauer an die Szene, wie Hansi vom Dokumentenberg aufschaut, seufzt und sagt, die Freiheit sei eben doch das höchste Gut.
     Sziv betrat die Parkklause. Es stank fürchterlich, wie immer. Sziv verstand nicht, wie an einem frühen Sonntagnachmittag, wenn doch kaum Gäste an den tischtuchbedeckten Tischchen des zweiten Raums saßen - Ostberliner Ehepaare mit verbrauchten Gesichtern, uralte Rentner mit zitternden Händen - und wenn doch auch am Tresen kaum Leute standen, wie dann ein so penetranter Geruch in der Luft hängen konnte. Übelgelaunt zuckte er die Schultern. Und als er den Kopf wandte, begegnete er dem unverhüllt feindseligen Blick des Schwarzhaarigen. Vielleicht loderte sogar Haß darin. Sziv erschrak. Nicht wegen der zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen, der blutleeren Lippen, des haßerfüllten Gesichtsausdrucks. Sziv war eingefallen, wie gut es wäre, wie unglaublich gut es wäre, einen kleinen Wodka mit einem kleinen Bier zu trinken. Nur diesen einen Wunsch hatte er und keinen anderen.
     Einen kleinen Wodka, ein kleines Bier, lieber Gott, gewähre mir.

Teil 3

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