Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch: Berlin, meine Liebe. Schließen Sie bitte die Augen. Teil 1

25.09.2006.
LASZLO DARVASI

Ernö Sziv: Das schwarze Berlinheft


Er war also wieder im Ausland. In Berlin, im Osten der Stadt, von der er allerdings noch nichts gesehen hatte. Bei seiner Ankunft war er mit dem Auto abgeholt worden, und da hatte er gerade mal gespürt, daß die Stadt für seine Maßstäbe riesig war - und daß sie das auch sein wollte. Er wohnte in Pankow, im Norden, im Herbst. Ein schattiges Villenviertel und unweit davon ein ausgedehnter Park, der noch auszukundschaften war. Später hatte er gemerkt, daß es in der Nähe noch einen Park gab, einen noch größeren, noch lauschigeren. In den Parks spannten sich kleine Holzbrücken über allerlei Gewässer. Auf durchsichtigen Kanälen schnatterten Enten. Intelligente Schäferhunde, Liebespaare und Kinderwagen kurvten umeinander herum. Und über die Straßen knatterte noch da und dort ein rosaroter Trabi. Man hatte ihn auf dem Majakowskiring untergebracht. Für einige Tage war sein Nachbar ein polnischer Schriftsteller, dessen Namen er auch beim zweiten Nachfragen nicht verstand. Sziv schaltete den Fernseher ein. Dokumentarfilm über die Mauer. Archivaufnahmen, auch die aufgerissene, maschinenlärmige Friedrichstraße beim Checkpoint Charlie war zu sehen. Wie die Mauer gebaut wurde, tötete, fiel. Und dann die Euphorie, die Feiern auf der Mauer oben, über den Graffitis. Als Sziv dieses außerordentliche Ereignis im Fernsehen sah, weinte er. Langsam begannen die Tränen zu fließen, hörten lange nicht auf, und ein paar Tage später wurde er nicht müde, einem seit Jahrzehnten in Berlin lebenden ungarischen Journalisten zu versichern, die Freiheit sei eben doch das höchste Gut auf der Welt. Sie saßen in einer stimmungsvollen Kneipe, unweit der mondartigen Ödnis des Alexanderplatzes und tranken Wodka - natürlich.
     Die Freiheit ist das höchste Gut, nickte der Journalist und bezahlte Sziv einen weiteren Wodka. Anderntags erhielt Sziv einen Brief von seiner Frau. Rosaroter Umschlag und die wohlbekannten winzigen Buchstaben mit Rechtsdrall. Unter anderem schrieb Frau Sziv ihrem Mann, daß Lacika Sziv nichts so oft zu hören bekomme wie den Ausdruck "du darfst nicht";
     du darfst es nicht, Lacika Sziv,
     auch das darfst du nicht, Lacika Sziv,
     jetzt hör auf damit, Lacika Sziv, so hör doch schon damit auf, Lacika Sziv;
     eigentlich sei es phantastisch, schrieb Frau Sziv, daß man nach so vielen "du darfst nicht doch noch irgendwie aufwachse. Sziv dachte lächelnd, na ja, wozu wird man denn sonst erwachsen, wenn nicht dazu, um selber einmal leiern zu können:
     du darfst nicht, mein Junge,
     und auch das darfst du nicht, mein Mädchen
     und er stieß die Tür zur Weinstube auf. Es war Vormittag. Goldener Herbst, alles, was zum Vergehen bereit war, erstrahlte in blutender Pracht, und obendrein schwebte eine feine Katerstimmung in der Luft, wie ein losgelöster Schleier. Nur blieb diese ganze unerbetene Schönheit ausgesperrt auf der Straße. Es war gar keine Weinstube, diese einen Steinwurf vom Bürgerpark entfernte Pankower Kneipe."Parkklause" nannte sich das Lokal, wo Sziv zum ersten Mal in seinem Leben Apfellikör trank. Und nicht zum letzten Mal. Sziv kehrte hier einmal täglich ein, nicht öfter, gewissermaßen in Erfüllung eines Tagesprogramms. Da waren drei hintereinander liegende Räumlichkeiten: zuerst der Ausschank, dann seitlich der ganz ordentlich stinkende kleine Speisesaal und hinten der Billardraum. Und ein schummriger Korridor zur Toilette.
     Die Freiheit ist das höchste Gut, dachte Sziv und wollte eben die gewohnte, nach menschlichem Maßstab bemessene und von jeglicher Übertreibung freie Zusammenstellung von einem kleinen Wodka und einem kleinen Bier bestellen, aber da hatte der schwarzhaarige Zapfer mit dem sympathischen Gesichtsausdruck die Getränke schon hingestellt. Nanu, sieh einer an. Sziv lächelte, und es wurde ihm ganz warm. Da stolpert man in dieser fremden, von Baustellen durchwühlten Stadt umher, und schon nach ein paar Tage gibt es jemanden, der mit einem rechnet, an einen denkt und einen sogar bis zu einem gewissen Grad kennt! Sziv nickte gerührt, kippte den Wodka hinunter, das Bier gleich hinterher, und natürlich beeilte er sich deshalb so, weil er aus Dankbarkeit gleich noch einmal bestellen wollte, dann aber ... dann aber verlangte er doch nichts mehr. Er erschauderte und bekam Gänsehaut. Der Wodka hatte gar nicht geschmeckt und das Bier noch weniger. Wieder überlief ihn ein Schauer, er verabschiedete sich verlegen und ging hüstelnd weg. Wie ein Gedemütigter. Schließlich vergaß er das Ganze. An dem Tag arbeitete er hart. Er schrieb viel und war mit sich zufrieden. Mehrere Seiten schöner Sätze, unzählige Gedanken, ebenso viele noch der Ausarbeitung harrende Ideen, na also, in solchen Fällen hat man sich den kleinen Nachtspaziergang vor dem Zubettgehen verdient, die Grabbeallee hinauf, nur um erneut in die Parkklause, wo man etwas Herzerwärmendes trinken kann, einzukehren. So spät am Abend war in der Parkklause Sperrstundenphilosophie angesagt. Nur ein paar Leute, ganz schön abgefüllt, taumelten im grauflauschigen Zigarettenrauch am Ausschank, leise, langsam diskutierend: Ja, nein, doch, vielleicht, na ja, wahrscheinlich. Aber! Der schwarzhaarige Mann hinter dem Tresen nickte Sziv zu und stellte lächelnd den Wodka und ein kleines Bier hin. Geschickt legte er den Schaumfänger aus Papier um das Glas. Und Sziv starrte auf die Zusammenstellung, und es wurde ihm kalt ums Herz. Und als er wieder in das offene, freundliche Gesicht blickte, begriff er plötzlich, daß eine hinterhältige Gefahr auf ihn lauerte, daß man ihm auf raffinierte Art an den Kragen wollte, daß er - mit anderen Worten - am Rande des Höllenschlunds stand, kurz vor der endgültigen Vernichtung, und damit nicht genug, denn in diesem Augenblick begriff Sziv noch mehr, nämlich daß diese Gefahr nicht nur ihm drohte, sondern auch den Statthaltern der örtlichen Ordnung, wie Herrn Jürgen, der nur Jägermeister trank, Herrn Hansi, dem Rentner, der sich ans Dunkelbier hielt, dem jungen Wilhelm, der einen großen Wodka bevorzugte, und Frau Gretchen mit dem Apfellikör - ja, daß diese in ihrer Betrunkenheit vertraut-unbekannten Ostdeutschen in den Wogen der Oktobernacht ebenso gefährdet waren, denn wenn sie die Parkklause betreten, stellt dieser besonders sympathische, eher slawisch aussehende Mann den Jägermeister, das Dunkle, den großen Wodka oder den Apfellikör mit einem wortlosen Kopfnicken auf den Tresen, jedem immer das Gleiche, und in dieser keineswegs unangenehmen, sondern äußerst liebenswürdig scheinenden Geste offenbart sich der Teufel persönlich, wenn nämlich - spann Sziv den Gedanken zu Ende - die Freiheit das höchste Gut auf Erden sei, dann kann auch der Teufel kein anderes Ziel verfolgen, als einem die Freiheit zu nehmen, und er tut es, indem er einen an schlechte, menschenunwürdige Gewohnheiten bindet - was heißt bindet?! - kettet, und diese Gewohnheiten zwingen der Seele die Unwissenheit und ein tierisches Niveau auf. Dann erwiderte Sziv das Dauerlächeln des Mannes und sagte tief seufzend, sehr leise und sehr entschlossen, Verzeihung, lieber Herr, aber jetzt hätte ich lieber ein Dunkles. Der andere wurde rumrot, dann likörgelb, seine Augenbrauen begannen leicht zu zucken, doch gleich darauf hatte er sein lieblichstes Lächeln auf sein Gesicht zurückbefohlen, und Sziv bekam im Handumdrehen sein dunkles Bier, das ihm so schmeckte, daß er gleich noch eins trinken mußte.
     Am folgenden Tag kehrte Sziv nach dem Einkaufen in die Parkklause ein. Der Schwarzhaarige lächelte ihn an, mag sein, daß sogar seine Zähne blitzen, und in diesem Lächeln spürte Sziv nunmehr auch einen fremden, drohenden Beigeschmack. Er starrte auf das Bier und den Wodka, die schon wieder dastanden. Sziv atmete tief ein, wie das seine Gewohnheit war. Und sagte stirnrunzelnd, er zeigte sogar mit dem Finger darauf, daß er jetzt lieber einen großen Brandy möchte.
     Brandy? fragte der andere.

Teil 2

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