Vorgeblättert

Leseprobe zu Viktor Jerofejew: Die Akimuden. Teil 3

05.08.2013.
Eine Militärstreife mit Maschinenpistolen inspizierte mürrisch die Leute. Es schien, als seien wir schuldig und stünden bereits unter Beobachtung. Die Drehkreuze funktionierten nicht, die Rolltreppe auch nicht. Wie immer in diesem Fall kam ich mir, während ich die stehende Rolltreppe hinunterstieg, linkisch vor. Hände und Füße weigerten sich, die richtige Bewegung zu machen, ich stolperte, gegen fremde Rücken stoßend, mein Gehirn, an den Rhythmus der Rolltreppe gewöhnt, war verwirrt. Auf dem Bahnsteig sah ich eine Menschenansammlung. Sie ähnelten Teilnehmern an einem Meeting ohne sichtbaren Redner, als der, soweit ich mich erinnerte, in ebendieser Metrostation in den kritischen Tagen der Verteidigung Moskaus Stalin aufgetreten war.
Von Zeit zu Zeit ertönte aus den miserablen Lautsprechern knarzend eine matte Frauenstimme und rief dazu auf, die Ordnung zu wahren. Einige Erwachsene und ein Mädchen in orangefarbenem Kleid standen abseits und trugen Gasmasken. Ich ging in die hinterste Ecke des Bahnsteigs, wo der Tunnel anfing, steckte die Hände in die Hosentaschen, immer noch gleichsam verbrüht nach dem Abschied von meiner Mutter, und ließ meinen Blick über die silbrigen Bögen der schön ausgestalteten Metrostation schweifen. Unter diesen Bögen hatten wir Kinder aus unserem Hof Fünfkopekenstücke an der einen Seite hochgeworfen und an der anderen wieder aufgefangen. Unsere Eltern hatten uns grundsätzlich nicht erlaubt, in die Metro hinunterzufahren. Der Ort, an dem wir uns herumtrieben, beschränkte sich eigentlich auf den "Aquarium"-Garten in der Nachbarschaft, den man wegen des ungenierten Benehmens der Verliebten durchaus als abenteuerlich bezeichnen konnte, mit seinem billigen Kinosaal in einem Holzschuppen. Doch das Spiel mit den Fünfkopekenstücken war stärker als alle Verbote. Schon damals gefielen uns die Mosaikdeckenbilder mit den am Himmel fliegenden Turnern, den Apfelbaumzweigen und Matrosen, aber erst später konnte ich die Mosaiken von Dejneka wirklich gebührend schätzen. Wie selten ich in den letzten Jahren in dieser wunderschönen Metrostation gewesen war! Den Kopf in den Nacken gelegt, ohne Eile, die schlimmen Gedanken verscheuchend, überzeugte ich mich erneut von ihrer Großartigkeit.
Und plötzlich barst das Mosaik. Wie Regen prasselte es auf die Köpfe der Menschen. Vor meinen Augen platzten die Wände auf. Die Schutthaufen mit den Händen beiseiteschaufelnd, von der Decke springend, aus den Wänden herauskriechend, drangen Tote auf den Bahnsteig, einen fürchterlichen Gestank verbreitend. Zuerst erschien in einer Wandöffnung ein Schädel mit leeren Augenhöhlen. Dann drängte sich in voller Größe das ganze Skelett mit herabhängenden fauligen Fleischstücken und Kleiderfetzen durch die Öffnung. Der Tote sprang heraus, winkte seinen Kumpanen. Die Toten krochen aus allen Löchern, kamen unter dem Bahnsteig hervor. Jeder sah anders aus. Die einen waren einfach Skelette. Die anderen noch nicht vollständig verweste Leichen. Sie stürzten sich auf das in der Untergrundbahn versammelte Publikum.
Bis zum Moment der Attacke durch die Toten war das Publikum, das sich hinunter in die Metrostation "Majakowskaja" begeben hatte, nachdem über Moskau an einem Junisonntag die Sirenen zu heulen begonnen hatten, noch skeptisch eingestellt: Blöde Übung! Probealarm! Alles in allem hatte unser Volk von den Akimuden eine ziemlich vage Vorstellung. Verbreitet war die Ansicht, das sei ein unbedeutendes Land, über das man die Kontrolle verloren hatte, etwa so wie Georgien. Allerdings hatte bereits die schreckliche nächtliche Bombardierung von Sotschi stattgefunden, bei der mehr als zwanzigtausend Menschen umgekommen waren. Dieses Ereignis hatte die Bevölkerung sehr viel mehr verunsichert als seinerzeit die Explosionen in den Moskauer Wohnblocks, Ursache ungeklärt, aber in der letzten Zeit waren wir zu dressierten Opfern aller möglichen Tragödien geworden und lösten die konspirologischen Bilderrätsel selbständig. In der Bombardierung von Sotschi meinten wir allein schon von der Geographie her eine kaukasische Spur zu erkennen, von der im Übrigen alle längst die Nase voll hatten, und das Volksempfinden hatte es ungeachtet der mächtigen offiziellen Propaganda oder eben wegen derselben nicht eilig, das ungeheure Verbrechen den unbekannten Akimuden anzulasten. Die darauf folgenden Ereignisse hatten im Gegenteil offenbar siegreichen Charakter. Unsere heldenhaften Luftstreitkräfte führten bekanntlich einen Gegenschlag aus. Hunderte modernster Jagdbomber schwangen sich in die Lüfte und flogen bis ans Ende der Welt, um die Akimuden dem Erdboden gleichzumachen. Auf den wichtigsten Fernsehkanälen zeigte man uns apokalyptische Bilder von Explosionen und Zerstörungen. Das Volk war tief beeindruckt von den prachtvollen Kriegsvisionen. Wir alle stöhnten auf vor lauter Patriotismus. Gleichzeitig mit den Bombardierungen ereignete sich auf dem wichtigsten Platz unseres Landes etwas Bedeutsames. Wann hatte zum letzten Mal auf dem Roten Platz eine Hinrichtung stattgefunden? Und genau jetzt fand eine statt! Zum Klang der Glocken vom Spasski-Turm. Unter Trommelwirbeln. Wer damals auf dem Roten Platz war, wird dieses triumphale Ereignis, das die Seele gefrieren ließ, nicht vergessen. Ich war dort. Ich werde es nie vergessen.
Und schon in den Abendnachrichten wurde der Sieg verkündet, der Chef trat auf, gratulierte uns. An jenem Abend im Mai um elf Uhr gab es ein überwältigendes, nicht enden wollendes, wie es hieß, in Frankreich gekauftes Feuerwerk. Alle waren wie betrunken. Viele schwenkten Fahnen, auf Autodächern stehend. Wir lagen uns in den Armen und fühlten uns wieder als Großmacht. China und Amerika konnten uns kreuzweise!
Und dann das Unglück! Seit dem Sieg waren noch keine zwei Wochen vergangen, als etwas Seltsames, Unausgesprochenes in der Luft hing. Als wäre man noch nicht zufrieden mit unserem siegreichen Patriotismus, dem Sprung unseres ganzen Volkes übers Feuer, wollte die Staatsmacht uns noch stärker zusammenschweißen, indem sie Andeutungen über eine mögliche Revanche der Akimuden in die Welt setzte. Vorsichtig, jeden Tag kamen neue Verlautbarungen über die Möglichkeit eines weiteren Luftschlages. Doch wer konnte uns Siegern schon etwas anhaben?
Banden junger Leute führten sich in der Metrostation "Majakowskaja" auf, als handele es sich nicht um die Metro, sondern um eine spontane Disko. Alle - von Studenten bis zu Hiphop-Fans und halbstarken Prolls - waren gut drauf, machten Witze, pfiffen, rochen nach Bier und Kartoffelchips. Einige Typen, Mädels in Flatterkleidern im Arm, hockten am Rand des Bahnsteigs, baumelten mit den Beinen, knutschten, rauchten sogar heimlich, obwohl das natürlich strengstens verboten war.
Die älteren Leute verhielten sich anders. Sie verband nichts außer einer diffusen Unruhe. Die Älteren zischten die Jungen an, aber man konnte sehen, dass ihnen wie übrigens auch den Diensthabenden der Station der Leichtsinn der Jugend gefiel, da er hoffen ließ, dass sich demnächst die Rolltreppe wieder in Bewegung setzen und uns nach oben bringen würde. Wenn die Staatsmacht mal wieder ein bisschen Krieg spielen will, dann heißt das noch lange nicht, dass man ihr glauben muss! Irgendwo im Gedränge klimperte eine Gitarre.
Im ersten Moment des Angriffs krähte laut eine junge Stimme:
"Geil!"
Es war sogar vorschneller Applaus zu hören. Mehr noch, eine altmodische, intelligente Stimme meldete sich krächzend und lautstark, so dass es auf dem ganzen Bahnsteig zu hören war:
"Ich glaub es nicht!"
Stanislawski lässt grüßen! Und da ertönte der markerschütternde Schrei eines Mädchens. Darauf folgten Dutzende von durchdringenden Schreien. Kreischen. Kollektives Geheul. Die Gesichter der Menschen wirkten schlagartig stupide. So verzerrt, verwandelten sie sich in ein Gemenge aus Angst. Das Publikum war nur noch ein Gedränge mit Hunderten von Beinen. Die Menge heulte wie ein Tier die aufgerissene Decke an, wich zurück und stürmte dann über den granitenen Bahnsteig Richtung Ausgang. Der eine fiel, der andere verlor seine Kinder. Die Menge stürmte vorwärts, über die Körper zertrampelter Menschen rutschend. Die Toten begannen die Menschen in Stücke zu reißen, sie aus den Waggons zu zerren - plötzlich war nämlich quietschend ein Zug mit leitenden Beamten des Ministeriums für Katastrophenschutz in die Station eingefahren.
Auf mich stürzten sich drei dralle tote Weiber, sie gingen mir an die Kehle, wirbelten mich in einem wilden, höhnischen Tanz umher und verlangten, dass ich sie auf der Stelle in ein schickes Restaurant ausführte.
"Wir haben lange nichts gegessen! Wir wollen Sushi!", brüllten sie.
Ich konnte absolut nicht begreifen, wer sie waren und warum mir genau diese Strafe zuteilwurde. Vielleicht, schoss es mir durch den Kopf, sind das meine verblichenen Geliebten … denn einige von ihnen sind doch wohl schon tot? Sie sahen entsetzlich aus. Natürlich erkannte ich sie nicht. Wie sie hießen? Ich erkenne ja bisweilen meine noch lebenden Exfreundinnen nicht, aber diese toten Weiber, womit habe ich das verdient? Andere werden von den Außerirdischen in Stücke gerissen, und ich soll welche ins Restaurant einladen! Was tun?
"Gehen wir, meine Hübschen!"
Arm in Arm, unter Mordsgeschrei, bewegten wir uns auf den blutbespritzten Stufen der Rolltreppe nach oben, wir kletterten lange, traten auf den Platz hinaus.
"Majakowski!", kreischten erfreut die Verstorbenen und zeigten mit dem Finger in Richtung des Denkmals.
"Genau, Majakowski", stimmte ich zu, während ich darüber nachdachte, wie ich ihnen entkommen könnte.
"Gehen wir doch ins 'Peking'!", rief plötzlich eine meiner Begleiterinnen, die mit Resten von roten Haaren auf dem Schädel. "Ich erinnere mich dunkel, da konnte man Haifischflossen essen! Ein In-Lokal!"
"Wann soll denn das 'in' gewesen sein? Du bist doch doof, da gibt's kein Sushi!", schrie die Zweite auf, eine Knochige mit schwarzer zerzauster Scham.
" Heutzutage gibt's bei uns überall Sushi", beteuerte ich. "Moskau kann ohne Sushi nicht leben!"
"Aber ich will Rote-Bete-Salat!", erklärte die Dritte, die am intelligentesten aussah.
"Rote-Bete-Salat! Rote-Bete-Salat!", riefen die drei Weiber auf und ab hüpfend.
Überraschend erfasste mich ein Gefühl kostbaren russischen Leichtsinns. Wir liefen quer über den Platz, stürmten unter Gelächter in die riesige Eingangshalle des "Peking" und steuerten das Restaurant an. Alle wichen vor uns zurück. Der glatzköpfige Oberkellner rannte vor uns davon, wir ihm nach. Dabei schrien wir:
"Rote-Bete-Salat! Rote-Bete-Salat!"
Der Glatzkopf rannte immer schneller, aber wir hatten ihn schon fast eingeholt. Dieses Wettrennen hatte etwas von meiner Jugend, von meinen langhaarigen Wünschen, die Umgebung mit meiner Außergewöhnlichkeit zu beeindrucken.
"Was wollen Sie von mir?", stammelte der Oberkellner, an die Wand gedrückt. "Ich geb alles!"
"Sushi!", bellten die Mädels.
"Und Wodka!", fügte die Rothaarige hinzu.
Der Oberkellner erkannte in mir den Lebenden:
"Wie soll man das verstehen? Maskerade?"
"Umsturz!"
"Verstehe … Ich bediene Sie selbst."
Wir setzten uns an einen Tisch. Die Rothaarige und die Intelligenzlerin begaben sich zur Toilette. Die Knochige legte mir die Hand auf den Arm und fragte schmachtend:
"Weißt du wenigstens noch, wie ich heiße?"
"Bist du erst seit kurzem tot?", fragte ich statt einer Antwort.
Sie brach in Gelächter aus.
"Ich bin eine Selbstmörderin", sagte sie stolz. "Ich hab mir die Pulsadern aufgeschnitten! Ein süßer Tod! Unten in der Metro hab ich dich zufällig gesehen und beschlossen, dir das Leben zu retten."
Sie nahm dem Oberkellner, der an den Tisch getreten war, geschickt die Flasche "Beluga" aus der Hand, goss den Wodka ein und streckte mir die Hand mit dem Glas entgegen, um anzustoßen:
"Na dann, auf unser Wiedersehen!"
"Und die da, wer sind die?" Ich kippte den Wodka runter und stieß die Luft in Richtung Toilette aus.
"Niemand … Freundinnen! Schenk nach!"
"Wir trinken hier nicht mehr so schnell …", sagte ich und griff nach der Flasche.
"Ach ja? Aber wie geht's dir so? Was gibt's Neues?"
"Ach, alles in Ordnung …"
"Und deine Eltern?"
"Kanntest du sie denn?"
"Also weißt du! Wir haben doch mit deinem Vater …"
"Er ist gestorben."
"Das macht überhaupt nichts", sagte sie in Kenntnis der Lage. "Na dann, prost!"
Wir tranken wieder. Die Mädels kamen lärmend von der Toilette zurück.
"Sie haben uns nicht verstanden!", schrien sie. "Dabei haben wir ihnen gar nichts getan! Wir setzen uns ganz normal zum Pinkeln hin … und die Weiber sind alle Hals über Kopf aus dem Klo geflüchtet …"
Die Rothaarige lachte laut und zündete sich gierig eine Zigarette an.
"Ein bisschen Liebe wär jetzt schön!", sagte die intelligente Verstorbene.
"Wir werden ab jetzt zusammenleben und uns niemals mehr trennen." Die Selbstmörderin beugte sich zu mir herüber.
Aber da muss ich wohl ohnmächtig geworden sein, denn weiter kann ich mich an nichts erinnern. Was haben diese halbzerfallenen Luder mit mir gemacht?
"Er stirbt", sagte jemand neben mir ganz deutlich.
"Leise! Sei still!", zischte eine liebenswürdige Stimme.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich ohne Schuhe quer auf dem Gartenring, mit ausgebreiteten Armen … zerrissene Hose, blaue Flecken … gegenüber dem Gebäude der Frunse-Militärakademie, und über den Gartenring donnerten bereits unsere Panzerfahrzeuge.

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Auzsug mit freundlicher Genehmigung von Hanser Berlin
(Copyright Hanser Berlin Verlag)


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