Vorgeblättert

Leseprobe zu Tomas Espedal: Gehen. Teil 2

08.08.2011.
8

Voltaire schreibt über Rousseau: "Er scheint gewillt, auf allen vieren zu gehen."
     Zurück zur Natur? Der Naturzustand, ein Tier, nein, das ist nicht komisch, kein Scherz, es ist Ernst: Wir wollen hinab. Auf allen vieren gehen, auf den Hund kommen. Das Aufrechte vergessen, alles, was wir hochhalten, wir wollen hinab und nicht hinauf.
     Es gibt in Asane ein Lokal, eine sogenannte Spelunke, in der einfache Gerichte und billige Getränke serviert werden, vier Tische auf einem abgetretenen Parkettboden, Lampen, die eher verdunkeln als erhellen; es ist ein Ort, an dem man schwerlich vorbeigehen kann.
     Der Kellner, ich kenne ihn, Christian, ein Chilene, ich habe ihm vor vielen Jahren Norwegisch beigebracht, ein schöner Mann, an nichts anderem als Mädchen interessiert und zu nichts zu gebrauchen, glaubte ich, damals, aber hier steht er nun vor mir und hat einen Beruf. Einen Stolz. Er setzt das Bierglas unnötig hart auf meinem Tisch ab: "Und was ist aus dir geworden?", fragt er.
     Tja, was ist aus mir geworden?
     In regelmäßigen und unruhigen Abständen meldet sich dieser Gedanke: Ich hätte einen Beruf erlernen sollen. Ich habe nie einen Beruf gehabt. Ich habe mich anders entschieden, habe rebelliert, geschrieben und Bücher veröffentlicht; ich bin gereist und habe eine Menge wüster Dinge gemacht, einen Beruf habe ich jedoch nie gehabt. Du kennst die Geheimnisse des Berufslebens nicht, denke ich. Die Gespräche in der Kantine. Die Betriebsfeste, die Seminare, die Kollegen! Ebenso wenig hast du - jemals - Betriebsferien gehabt. Keiner hat dich irgendwann angestellt oder deines Amtes enthoben, du bist weder befördert noch gekündigt worden, du bist nicht nach oben oder unten, vor oder zurück, hinein oder hinaus geschickt worden, kurzum, du bist immer dein eigener Herr gewesen.
     Ein Beruf. Langsam wird es Zeit. Du stehst mitten im Leben, bald ist es zu spät, wenn du nicht heute oder morgen die Chance ergreifst, oder jedenfalls bevor du es dir anders überlegst, ist der Zug abgefahren, oder der Bus, und du wirst dastehen wie ein Sonderling, ein Idiot; ein Mann, für den man in einer Firma oder einem Unternehmen nie und nimmer einen Platz findet.
     Aber welcher Beruf? Journalist? Rechtsanwalt? Werbefachmann? Verkäufer? Nein, all das ist nicht nur unmöglich, es ist auch unerträglich: zu viel Geld, zu wenig Skrupel und schlechte Moral. Es gibt zu viele unmoralische Berufe! Aber was ist mit Briefträger, Busfahrer, Lehrer? Nein, du musst doch einräumen, dass diese Berufe dir nicht zusagen, so wie du nie auch nur die geringste Lust verspürt hast, Schauspieler, Politiker oder Redakteur zu werden. So weit waren wir schon. Die Wahrheit lautet, du hast Lust auf einen Beruf, aber es gibt keinen Beruf, auf den du Lust hast.
     Was machst du jetzt? Du denkst nach. Du beginnst von Neuem, an einer anderen Stelle: Du beginnst mit der Lust. Worauf hast du Lust? Was tust du am liebsten? Und lässt sich daraus ein Beruf machen? Ja, selbstverständlich. Wer gerne denkt, setzt alles daran, sich Philosoph zu nennen. Wer gerne schreibt, setzt alles daran, sich Schriftsteller zu nennen. Aber ein Schriftsteller bist du bereits, und auf dem Gebiet der Philosophie hast du keinerlei Ambitionen. Außer Schreiben und Denken magst du es, zu gehen. Daraus müsste sich doch ein Beruf machen lassen: ein Vagabund. Herumtreiber. Landstreicher. Wandersmann. Zu allen Zeiten hat es solche Herumtreiber gegeben. Heutzutage ist es allerdings ein würdevoller Beruf, vom Aussterben bedroht. Jedenfalls im Wohlfahrtsstaat Norwegen. Und du denkst: Irgendjemand muss diesen Beruf bewahren. Irgendjemand muss sich dafür verantwortlich fühlen. Jemand muss diese Freiheit, diesen Stolz retten, diesen Beruf und diese Würde wiederherstellen, ja, du willst ein Wandersmann werden.


Zweiter Teil

1

Ich bin schon immer gerne gegangen. Eines Tages, es war im Frühjahr, verließ ich das Haus, um einen Spaziergang zu machen; auf meinem Weg aus der Stadt fiel mir ein Auto auf, es parkte unter einem Baum, ein gelber Mercedes mit roten Ledersitzen. Am Seitenfenster klebte ein Stück Karton: Zu verkaufen stand dort über einer Telefonnummer. Ich wählte die Nummer und erwarb den Wagen, es ist das schickste Auto, das ich je besessen habe. Einen Tag nachdem ich den Mercedes gekauft hatte, fuhr ich über die Berge nach Oslo, übernachtete in einer Pension, fuhr weiter nach Kopenhagen, wo ich auf der Rückbank des Autos schlief, ehe ich durch Deutschland und in die Niederlande und durch Belgien über die Grenze nach Frankreich fuhr, wo ich Halt machte und den Wagen in Charleville-Mezieres abstellte. Von Charleville aus ging ich zu Fuß - anfangs dem Lauf der Maas folgend, dann am Canal des Ardennes entlang bis nach Le Chesne und weiter am Fluss Aisne entlang bis Vouziers, auf staubigen Wegen durch die Wälder und über die Felder - Richtung Reims und Paris. Ich benötigte fünf Tage, an einem Freitag trottete ich schließlich, schmutzig und müde, in die Großstadt; ich hatte im Freien geschlafen. Bei Porte de Clignancourt kam ich in die Stadt, prallte auf Straßen und Menschengewimmel; plötzlich eine Wand aus Stadt und Staub. Ich trat durch das Tor zur Stadt und wurde vom Licht geblendet, dem Stadtlicht; einem Chaos aus Gesichtern und Händen, Augen und Häusern, Fenstern und Straßen, aus Türen und Möglichkeiten; wohin sollte ich gehen? Ich setzte mich und hielt mir die Hände vors Gesicht. Eine Minute oder zwei. Dann wollte ich etwas zu trinken bestellen, wurde aber nicht bedient, stattdessen scheuchte und schob mich der Kellner fort. Im Hotelzimmer betrachtete ich mich im Spiegel, ich sah aus wie ein Obdachloser. Ein Penner, unrasiert, ein Riss im Jackett, Matsch auf den Hosenbeinen bis zu den Knien. Ich stand vor dem Spiegel im Kleiderschrank und war zufrieden. So hatte ich schon immer aussehen wollen. Ich zündete mir eine Zigarette an, öffnete die Plastikflasche mit Wein und legte mich aufs Bett. Endlich war ich gut gelaunt, endlich war ich angekommen: Ich war ein Anderer geworden.

zu Teil 3