Vorgeblättert

Leseprobe zu Szilard Borbely: Die Mittellosen. Teil 1

02.10.2014.
Immer gehen wir irgendwohin, meine Mutter und ich. Sie kann nicht zu Hause bleiben. Sie ist ruhelos. Sie hält meine Hand und zieht mich hinter sich her. Ich wünschte, sie würde mich hochnehmen, ich kann nicht laufen. Kann nicht so schnell laufen wie meine Mutter. Ich trotte hinter ihr her. Bleibe zurück. Dann nimmt sie meine Hand und zerrt mich mit sich. Um mich nicht zu langweilen, zähle ich meine Schritte. Wenn wir gehen, gehen wir meistens zu ­meinem Großvater oder kommen von ihm zurück. Wir gehen ­immer die gleiche Straße, die hinter dem Glockenstuhl zum Ostende abbiegt und dann weiter geradeaus zum Kirchplatz führt. Erst dann macht sie eine scharfe Biegung nach links. Dort ist der Osten, von dort kommt morgens die Sonne.
     Wir treten aus unserem Hof, schließen die kaputte Tür hinter uns. Ein krummer Draht hält sie am Türpfosten. Ihre Unterkante quietscht und knarrt, wenn sie über den Betonboden schleift. Den Hund, Zigeuner, tritt meine Mutter mit dem Fuß zurück in den Hof. Sanft, damit es ihm nicht wehtut.
     »Du, Zoki, na ! Geh zurück !«, sagt sie. Der Hund fliegt anderthalb Meter. Er landet auf dem Boden, springt aber sofort wieder auf die Beine. Rennt zurück zu der kleinen Tür. Die aber ist bereits zu. Er kann nicht heraus. Begleitet uns hinter dem Draht bis zum Zaun des Nachbarn. Von dort winselt er uns hinterher. Wir gehen weiter. Noch drei Häuser, und wir sind auf dem Steinweg. Das Büffelbad liegt tief. Unsere Straße liegt in einer Grube. Zum Steinweg führt eine Treppe hinauf.
     Wir gehen hinüber zur Rampe. Es kommt nichts. Nur selten kommt hier etwas vorbei. An der Rampe stehen immer ein paar Leute. Sie unterhalten sich. Meine Mutter nickt nur mit dem Kopf, und wir gehen weiter zum alten Dorfkern. Der Gehweg wurde unlängst neu gemacht. Seitdem muss man nicht mehr im Schlamm waten wie zuvor. Mutter schämt sich, dass wir in der Zigeunerzeile wohnen. Die Männer, die vor der Kneipe stehen, pfeifen Mutter hinterher. Meine Mutter ist jung.
     »Kümmere dich nicht um die«, sagt sie. »Das sind rohe Bauern. Wir sind keine Bauern. Sie machen es, weil sie sich langweilen. Sie langweilen sich ihr ganzes Leben. Kluge Menschen langweilen sich nicht. Dein Großvater war Ausbilder in Jutas, solche Leute fürchteten ihn wie das Feuer. Er hat die Unteroffiziersanwärter ausgebildet. Er wurde geachtet, weil er Haltung hatte. Wir waren nie Bauern.« Sie schweigt und marschiert weiter, in Gedanken versunken.
     »Auch ich wurde verspottet, als ich klein war. Sie haben mich geschlagen, weil ich von deinem Großvater ein Fahrrad bekommen hatte vierundvierzig. Ich war fünf Jahre alt. Er hatte es aus Jutas mitgebracht. Es war ein Kinderrad, man beneidete mich darum. Es war wunderschön. Ich habe es sehr geliebt. Dann fanden wir einmal einen Zettel unter dem Sattel : »Evchen Sternberg, Esterházy-Straße 25, Pápa«. Es war wohl ihr Fahrrad. Die Darabánt-Kinder haben es weggenommen und kaputt gemacht«, sagt sie.
     »Warum haben sie es weggenommen ?«, frage ich, um etwas zu fragen. Damit sie mit mir spricht. Doch sie antwortet nicht.
     Ich frage sie erneut, weil die Stille nicht gut ist. Sie gebiert Angst. Schnüffelt an einem herum wie ein Hund. Hat keine Stimme, taucht plötzlich auf, geräuschlos. Lauert einem immer auf. Er tut dir nichts. Schmiegt sich heimtückisch an dich. Verharrt in deiner Nähe. Doch zuvor entscheidet er, ob er es mit einem Dieb zu tun hat. Man muss dann warten, bis sein Herrchen auftaucht und die Stille, die in den unteren Ästen des Baumes hockt, aufschreckt. Der Ton lässt sie davonfliegen. Und der Hund verzieht sich hinter den Rücken seines Herrchens.

Die Bauern hassen die Herren«, sagt sie, »aber sie hassen auch einander.«
     »Sind die Alecskas keine Bauern ?«, frage ich.
     »Sie waren es nie. Sie kamen aus Szlatina. Wir sind nicht so wie die hier. Kotzt ein Bauer das Essen aus, frisst es sofort der andere, damit nichts umkommt«, sagt Mutter. Und sie spuckt aus. Meine Mutter kann eigentlich nicht so gut spucken. Spucken muss man geradeaus. Scharf. Mutter spuckt nur zwanghaft wegen des Brechreizes. Weil sich ihr der Magen umdreht. Sie hat einen bitteren Geschmack im Mund. Die Säure beißt sie. Aber sie hat nichts zum Ausspucken. Die Männer können richtig spucken. Scharf, kräftig. Gelb, schleimig. Man kriegt es kaum weg, wenn es getrocknet ist. Es kommt wahrscheinlich vom Tabak.
     »Die hier sind allesamt Bauern, zu jeglicher Verschwendung unfähig. So wie sie auch nicht träumen können. Wenn sie merken, dass ein Kind träumt, lassen sie es so lange nicht schlafen, bis es sich das Träumen abgewöhnt hat. Die Großen verheimlichen es, aber irgendwann kommt es doch heraus. Dann werden sie gequält, bis man sie gebrochen hat. Die Großen verheimlichen es. Aber die Kinder plaudern es noch unvorsichtig aus. Die Bauern wissen sofort, was zu tun ist.
     Man muss es dem Kind abgewöhnen, sagen sie.
     Und dann, wenn es schon sehr müde ist und sie es vergeblich schütteln und nicht aufwecken können, schaffen sie eine schwarze Katze herbei. Sie muss schwarz sein, das ist wichtig. Mit dem Katzenjungen geht es am besten. Sie nähen die Katze in ein enges Säckchen, damit sie nicht zappelt, und schlagen sie neben dem schlafenden Kind tot …«
     »Das ist nicht wahr, oder ?«, frage ich meine Mutter.
     »Doch, sicher ist es wahr. Und sie beeilen sich dabei nicht, machen es ganz sachte. Weil die Bauern alles gemächlich machen. Gleichgültig. So schlagen sie auch die schwarze Katze tot. Langsam, mit gelangweiltem Gesicht. Lustlos wie bei der Arbeit. Sie müssen es. Weil sie keine Freude mögen. Die Freude nach einer gelungenen Arbeit. Sie kennen das nicht. Sie wollen, dass das schlafende Kind nicht aufwacht, aber die Qual der Katze hört. Damit die Todesangst des Tieres in das Kind übergeht.«
     »Wir treiben ihm die Träume aus, sagen die. Sie stellen sich im Kreis um das Kind auf und schlagen mit dem kurzen Kirschholzstock, mit dem sie die Kerne aus der Sonnenblume klopfen, die Katze tot«, sagt sie.
     »Wirklich ?«, frage ich ungläubig.
     »Gewiss. Sie verbinden mit einer Schlinge aus Leder Stockende und Handgelenk. Das Gesicht des Schlafenden zuckt, und wenn sie die Katze nur langsam genug töten, entstellt es sich. Daran sehen sie, dass die Tortur Erfolg hat. Sie stehen da und verfolgen das Säckchen. Sie schlagen es auf das Kissen, leise puffen die Schläge. Dünne Blutstreifen laufen heraus. Das Bein der Katze zuckt noch einige Male. Da, zum Schluss, will ihr jeder noch einen Schlag versetzen. Sie drängeln sich, schieben einander weg, wie auch sonst immer. Warten auf das endgültige Zucken des Tieres. Denn sie können sich nur über den Tod freuen.
     Wenn die Katze ausgelitten hat, glätten sich die Gesichtszüge des Schlafenden.
     Na, jetzt kommt der Traum aus ihm heraus, flüstern sie einander zu.
     Gott sei Dank. Die Mütter beruhigen sich. Nun wird das Kind endlich keine Probleme mehr machen. Von nun an müssen sie sich im Dorf nicht mehr seinetwegen schämen«, sagt meine Mutter. Ihre Augen sind düster. Ich weiß nicht, wen sie hasst.

Einmal habe auch ich es gesehen«, erzählte Ottó. Und lange glaubte ich, dass auch ich es gesehen habe. Sie machten es mit seinem kleinen Bruder, sagte er. Er hat das Einnähen der Katze in den Sack genauso erzählt wie meine Mutter. Doch er erzählte weiter. Er sprach davon, was passiert, wenn die Katze verendet. Die Männer müssen vor Aufregung pinkeln, wenn sie die Katze totschlagen. Die Väter gehen dann vor das Haus pinkeln.
     »Ihre Blasen füllen sich vor Aufregung. Wegen der Anspannung bekommen sie einen Steifen«, sagte Ottó.
     »Was für ein Steifen ?«, frage ich.
     »Was wohl. Ihr Schwanz wird steif. Passiert dir das nie?«, sagt Ottó spöttisch. Sie stellen sich gleich vor die Tür, sie gehen nicht einmal zur Seite. Haben nicht einmal so viel Zeit. Sie freuen sich, wenn sie es schaffen, ihn rechtzeitig rauszuholen. Sie pinkeln dann wegen des Krampfes stoßweise wie Hengste. Genießen die Erleichterung. Lauschen ihrem eigenen Pinkeln. Schwingen ihr Ding in der Hand, damit auch die anderen, die schon vereinzelt nach Hause gehen, sehen, wie groß es ist. Und damit jeder sieht, dass sie natürlich nie träumen wie die Frauen. Sie glauben nur, was man greifen kann.
     »Hier, guck, Gizi, nimm ihn !«
     »Das ist Wahrheit, die kann man greifen«, sagen sie zu den Leichtlebigeren unten den Frauen, die gerade den Hof verlassen. Und die Gizi lacht, mit einem aus der Tiefe aufsteigenden Lachen.
     »Na, Schwager, Sie werden doch nicht mit diesem Regenwurm prahlen«, erwidert sie. »Erst neulich habe ich so einen im Kornspeicher gefunden. Der Wurm war wohl ins Mehl gefallen. Das war doch nicht Ihrer ?«, fragt sie und lacht am Ende schon schlüpfrig wie eine Stute.
     Die Männer, die nach den Frauen aus dem Haus treten, greifen ihnen von hinten unter die Röcke.
     »Greif dir ihre Möse«, spornen sie sich gegenseitig an.
     Die Frauen machen dann einen großen Hüpfer und können die Neckerei nicht beenden. Derweil machen sich Verwandte und Nachbarn leichten Schrittes auf den Heimweg. Der Vater schüttelt seinen Schwanz, schiebt Zeigefinger und Daumen, die nun eine Schlinge bilden, rauf und runter. Er schüttelt den letzten Tropfen heraus. Damit endet das ­Ritual. Er steckt ihn zurück in die Hose, krächzt, zieht die Nase hoch und spuckt kräftig in die Pissepfütze. Und nachdem alle gegangen sind, geht er ins Haus.
     »So vertreiben sie die Träume«, sagte Ottó.
     Die in den Sack genähte Katze muss die ganze Nacht unterm Bett bleiben. Der, dem das Träumen ausgetrieben wurde, muss über ihr schlafen. Am frühen Morgen greift der Vater unter das Bett und holt das kalt und steif gewordene kleine Bündel hervor. Er bringt es hinaus und vergräbt es unter der Dachrinne. Legt etwas darauf, um es zu be­schweren. Einen großen Stein oder einen halben Ziegel, damit die Hunde es nicht ausgraben, wenn sie den Aasgeruch wittern. Denn sie sind ständig hungrig, die Armen. Die Bauern geben ihnen nicht genug, damit sie wütender sind. Wenn der Kadaver schon stinkt, kann man den Stein wegnehmen.
     Der, dem sie die Träume austreiben wollen, wird am nächsten Tag nicht gefragt, ob er im Traum etwas gehört hat. Sie sagen nur, dass etwas Stinkendes unter der Dachrinne ist. Er solle nachsehen, was das sein könne. Dann spricht das Kind nie mehr von seinen Träumen. Und es träumt auch nicht mehr. Der Blick solcher Kinder verdüstert sich manchmal ohne jeden Grund. Ihre Hand zuckt plötzlich. Wenn sie eine Katze sehen, treten sie sie.
     »Ob sie das auch mit uns gemacht haben ?«, frage ich Ottó.

zu Teil 2

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