Vorgeblättert

Leseprobe zu Szilard Borbely: Die Mittellosen. Teil 2

02.10.2014.
Wir sind keine Bauern«, sagt Mutter. »Ihr dürft träumen. Ihr sollt mir immer erzählen, was ihr geträumt habt. In den Träumen kann man lesen«, sagt sie.
     Wir hören ihr zu. Meine Schwester füttert ihre Puppe mit gezuckertem Mais. Mein Bruder bekommt Maisbrei mit Pflaumenmus. Meine Mutter schiebt es ihm mit dem Tee­löffel in den Mund. Ich spiele vor dem Ofen mit den Soldaten aus Maiskolben. Ich nehme sie aus der Holzkiste und breche sie in zwei, drei Teile. Das sind die gemeinen Soldaten. Die Offiziere lasse ich größer, denn es steht ihnen zu, größer zu sein.
     Ich stelle mir Großvater Kengyel als Offizier vor. Auf dem Kopf hat er einen Tschako, an den Händen weiße Glacéhandschuhe, an der Seite einen Degen. Alle haben ein Hitlerbärtchen wie mein Großvater. Er schneidet ihn mit der Schere, richtet ihn nach der Rasur zur Würfelform, damit er in Reih und Glied steht. So sagen die Soldaten zu gerade. Nur zu diesem Zweck liegt die kleine Schere in seiner Rasierdose, die er sich in der Gefangenschaft angefertigt hat. Von ihm habe ich das Soldatenspiel gelernt. Die gemeinen Soldaten sind in Schützenlinie aufgestellt, so wie Großvater es mir gezeigt hat. Vier Gruppen bilden einen Zug. Als mein Vater hereinkommt, fragt er, was ich spiele.
     »Soldat«, sage ich.
     »Und was ist das hier ?«, fragt er.
     »Ein Zug, melde gehorsamst, Herr Leutnant«, sage ich. Dabei springe ich auf und mache die Habachtstellung, wie es mir Großvater gezeigt hat.
     »Brust raus, Bauch rein, gerade stehen, die Hände straff an der Hosennaht. Verstanden ?«, sagt er.
     Ich habe eine Trainingshose, die Naht ist nur innen, doch ich stelle sie mir auch außen vor. Ich werfe stolz den Kopf hoch.
     »Achtung ! Stillgestanden !«, kommandiert Großvater. »Und jetzt Meldung erstatten, Kamerad !«, sagt er. »Wie sind Sie angetreten ? Was soll der Scheiß ? Sind Sie ein Zuhälter ?«, brüllt er außer sich.
     »Zweiter Zug des dritten Grenzjägerregiments, melde gehorsamst, Herr Stabsfähnrich«, und ich schlage die Hacken zusammen, nachdem ich meinen Satz zu Ende gesprochen habe. Damit zeige ich, dass ich auf den nächsten Befehl ­warte.
     »Ich bin Miklós Horthys Soldat, sein schönster Soldat …«, singt er, umarmt und küsst mich. Mein Vater sagt nichts, er murmelt vor sich hin.
     »Der Blödsinn deines Großvaters«, sagt er.

Man darf das Wasser aus dem Ziehbrunnen nicht trinken, sagen die Leute. Mein Onkel Sanyi, der Gemeindediener, hat es schon oft ausgerufen. Die Alten glauben es aber nicht. Sie trinken weiterhin daraus. Obwohl die Brunnen wirklich nah an den Misthaufen sind. Im Frühling wird im Hof alles matschig und schimmlig. Im Brunnen steht das Wasser am obersten Ring. Auch die Frösche klettern dann hin­ ein. Man muss sich fast nur darüber beugen, um Wasser zu schöpfen. Dann braucht man auch kein Brunnenseil. Während der Sommerhitze aber steht das Wasser mehrere Meter tief. Es ist uns verboten, hineinzublicken, denn es wohnt ein Riesen­frosch darin, der uns auflauert.
     »Wenn wir uns über den Brunnen beugen, wirft der Frosch sein Lasso und reißt uns hinab«, sagt Mutter.
     Je größer wir werden, umso ungläubiger hören wir zu. Wir wagen uns nicht in die Nähe des Brunnens. Wir haben Angst vor dem Frosch. Aber es reizt uns auch.
     Die Brunnen müssen jeden Sommer gereinigt werden, weil der Treibsand die Quellen verstopft. Nach dem Ausbaggern liegt auch bei uns ein großer Haufen Sand neben dem Brunnen. Der Brunnenbauer steigt über eine Leiter ­hinunter. Eine sehr gefährliche Arbeit. Mit dem Sand spielen wir den ganzen Sommer. Beim Kalken streut Mutter davon in den Eimer und vermischt es gut. Sie bittet uns, den Sand zu sieben. Vor ein paar Jahren ist ihr Ehering hineingefallen. Seitdem möchte sie ihn wiederfinden.
     »Vielleicht würde dann der Fluch vergehen«, sagt sie.
     »Welcher Fluch ?«, frage ich sie.
     »Na, der auf uns liegt«, sagt sie. Wir holen die Kornfege, und wenn Mutter es nicht sieht, auch das Sieb. Mit meiner Schwester siebe ich den Sand. Ich schaufele mit der Kohlenschippe den feinen Sand auf das Sieb, und sie rührt ihn mit einem Holzlöffel um, damit die winzigen Sandkörner durchfallen. Aber den Ring finden wir nicht. Mutter sagt nicht, wann es passiert ist, meine Schwester fragt sie vergeblich.
     »Dabei trug ich ihn gar nicht am Ringfinger, weil er zu groß war«, sagt Mutter.
     Meine Schwester glaubt ihr nicht. Auch nicht, dass sie nachts in den Brunnen springen will.
     »Ich denke, es ist nicht wahr«, flüstert sie. »Sie hatte gar keinen Ring.«
     »Unsere Mutter lügt ?«, frage ich sie.
     »Immer mal«, zischt sie.

Meine Schwester glaubt meiner Mutter nicht.
     »Sie hat ihn bestimmt in den Brunnen geworfen«, sagt sie. Oder sie wollte hineinspringen, und als sie sich mit ­Vater zankte, hielt sie sich am Brunnenseil fest, und der Ring rutschte dabei vom Finger.
     Darüber streiten wir uns. Ich glaube es nicht. Meine Schwester ist ein ekliger Frosch. Sie sagt auch, Mutter habe das Ganze nur erfunden. Oder dass unser Vater ihn in seiner Wut in den Brunnen geschmissen hat. Weil alle Männer so sind. Mein Vater würde so etwas nicht tun. Meine Schwester sagt das nur aus Hass.
     Dann bekam meine Mutter einen anderen Ring, sie ­sagte aber nie, woher. Ich weiß aber, dass sie ihn von Großvater Kengyel hat. Einmal hat sie sich verraten. Außerdem ist es ein Männerring. Meine Mutter trägt ihn nur selten, weil er ihr zu groß ist. Wenn wir irgendwo hinfahren. Damit man sieht, dass sie verheiratet ist. Nicht irgendein Flittchen. Dann molestieren die Männer sie nicht. So sagt sie immer. Ich weiß nicht, was molestieren heißt.
     »Nicht dass sie glauben, ich sei von schlechten Eltern. Dass ich nur Kinder habe, aber keinen Mann.«
     Jedes Jahr suchen wir nach dem Ausbaggern den Ring. Vater schweigt dazu. Inbrünstig sieben wir den Sand. Ich bin ungeschickt, ich vermische den gesiebten Sand mit dem ungesiebten. Meine Schwester schaut nur zu. Es wird ihr schnell langweilig. Auch ich verliere die Lust und bohre ­Löcher in den Sand. Ich phantasiere Burgmauern, Türme und Tunnel hinein. Dann vertraue ich nur noch auf den Zufall. Dass ich den Ring vielleicht doch noch finde und das versprochene Geschenk bekomme. Ich möchte eine Wasserpistole und meine Schwester einen Rock mit Punkten. Doch gerade wollen wir beide lieber einen Filzstift.
     »Alles dasselbe«, sagt Vater. »Bauernfängerei.«
     »Der hat eine wunderschöne Farbe«, flehen wir. »Alle haben schon einen, nur wir nicht.«
     »Bestimmt gibt es auch welche an der Schießbude«, sagt er. »Ich schieße euch einen beim Jahrmarkt.«
     Man kann ihn bei den Hausierern kaufen. Entweder Eisen oder Geld muss man dafür geben. Wenn aus ihm die Farbe ausläuft, muss man ihn mit Kölnisch Wasser füllen, dann schreibt der Filzstift wieder.
     »Geldschneiderei«, knurrt mein Vater.
     »Nein«, sagt meine Schwester. »Ich habe das in der Klasse gesehen bei denen, die von ihren Eltern schon einen bekommen haben. Aber wir bekommen nie etwas.« Wir bedauern uns. Schniefen und weinen ein bisschen. Der Sand interessiert uns nicht mehr.
     »Lassen wir das, hören wir auf mit dem Sieben. Sie kaufen uns ja doch nichts«, sagt meine Schwester.
     »Dann werden wir gar nichts mehr kriegen«, sage ich zu ihr, weil ich weiter suchen möchte. Ich mag es, mit dem Sand zu spielen. Und langweile mich auch. Wenn meine Schwester aufhört, mache ich trotzdem weiter.
     »Sieh, wie fein er ist, der Sand«, sage ich zu meiner Schwes­ter, um ihr Lust zu machen. »Wie kommt so feiner Sand in den Brunnen ? Wie ist er hierher gelangt ?« frage ich.
     Meine Schwester weiß es nicht. Es interessiert sie auch nicht.
     »Hier war früher ein Fluss«, sagt mein Vater. »Der Boden ist salzig, weil es hier zwischen dem Dorf und der Zigeu­nerzeile einen toten Flussarm gab.« Totarm, so sagt Vater. »Der Fluss umschloss das Dorf, auf dem höchsten Punkt der Insel stand die Kirche. Man siedelte hier, weil man vor den Türken geschützt war. Später wurde der Fluss umgeleitet, um mehr Ackerland zu schaffen«, sagt er.
     »Hier war ein Sumpfgebiet, vor noch gar nicht so langer Zeit. Man nennt es Büffelbad, weil hier die Büffel im Schlamm badeten. Die mögen den Schlamm, sie haben sich darin gesuhlt. Und die Schweineherde kam hierher. Jenseits davon erhielten die Zigeuner vom Dorfrichter einen Platz. Als der Rat beschloss, dass hier Grundstücke entstehen sollen, war die Pfütze schon verschwunden, denn der Kommu­nismus wollte auch den Morast besiegen.«
     »Dann siegte der Morast über ihn«, sagt meine Mutter.
     »Der Kommunismus ist unbesiegbar. Die einzige gerechte Gesellschaft«, sagt mein Vater. »Bald braucht keiner mehr zu arbeiten, weil alles die Maschinen erledigen werden.«
     »Und das glaubst du auch ?«, sagt Mutter spottend.
     »Ich meine die Schwerarbeit«, präzisiert mein Vater.
     »Dann ist dieser Kommunismus schon da. Für die, die nicht arbeiten müssen. Na, für die ist er ganz bestimmt da. Aber für den, der arbeiten muss, wird er nie da sein«, sagt sie. Und hier verebbt der Streit.
     Die Partei nimmt meinen Vater nicht auf, weil er sich mit den Parteileuten überworfen hat. Mit Guszti, mit dem er als Kind zusammen gespielt hat, wie er immer sagt.
     »Unter der Erde fließt das Wasser weiterhin in den alten Flussbetten. Und die Strömung trägt den Sand in den Brunnen«, sagt mein Vater, kann es aber nicht zu Ende erzählen.
     »Und die Ährenmaus«, so hänselt ihn meine Mutter.
     »Unter der Erde gibt es große Flüsse«, sagt Vater, »die Häuser verschlingen und sie mit sich reißen.«
     »Mal nicht den Teufel an die Wand. Der Junge kann kaum einschlafen, so viel Schiss hat er. Wegen der dämlichen Hexenmärchen. Wenn du nichts Besseres weißt, schweig lieber.«

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