Vorgeblättert

Leseprobe zu Olga Tokarczuk: Unrast. Teil 2

05.03.2009.
Sie gehörten zu einer Generation, die mit Wohnwagen unterwegs war, einen Hausersatz hinter sich herzog. Einen kleinen Gasherd, Klappstühle, einen Klapptisch. Eine Plastikschnur zum Aufhängen der Wäsche, wo man Halt machte, hölzerne Wäscheklammern. Wasserfestes Wachstuch für den Tisch. Ein Picknick-Set für die Reise, bestehend aus bunten Tellern, Besteck, Salzfässchen und Gläsern - alles aus Plastik.

Irgendwo unterwegs, auf einem Flohmarkt, wie ihn er und meine Mutter besonders gerne besuchten (wenn sie sich zufällig einmal nicht gerade gegenseitig vor Kirchen und Denkmälern fotografierten), hatte mein Vater einen Wasserkocher aus der Armee erstanden, einen Kupferbehälter mit einem Rohr in der Mitte, in das man eine Handvoll kleingebrochenes Reisig legen und anzünden konnte. Obwohl es auf den Campingplätzen Stromanschlüsse gab, kochte er das Wasser
immer in diesem Teekessel, der qualmte und ewig brauchte. Er kniete über dem heißen Gefäß und lauschte stolz auf das Bullern des kochenden Wassers, das er dann auf die Teebeutel goss - ein echter Nomade.

Sie hielten an den dafür bestimmten Orten, auf Campingplätzen, immer in Gesellschaft anderer Leute ihres Schlags, und hielten Schwätzchen mit den Nachbarn über die Socken hinweg, die an den Zeltschnüren trockneten. Mit Hilfe des Reiseführers legte man Reiserouten fest, wobei die Sehenswürdigkeiten sorgfältig aufgelistet wurden. Bis Mittag Baden im Meer oder in einem See, am Nachmittag ein Ausflug zu den Ruinen und Überresten von Städten, zum Abschluss das Fertigabendessen, meistens aus Eingewecktem bestehend: Gulasch, Frikadellen, Klopse in Tomatensauce. Dazu brauchte man nur noch Reis oder Nudeln zu kochen. Ewiges Sparen, der Zloty steht schlecht, das ist der rote Heller der Welt. Orte suchen, wo es Stromanschluss gibt, dann wieder unwillig packen, um weiterzureisen, jedoch immer in der metaphysischen Umlaufbahn des eigenen Heims. Sie waren keine echten Reisenden, denn sie reisten, um zurückzukehren. Und immer kehrten sie erleichtert heim, hatten das Gefühl, eine Pflicht gut erfüllt zu haben. Sie kamen zurück und nahmen den Stapel Briefe und Rechnungen von der Kommode. Machten große Wäsche. Langweilten die heimlich gähnenden Freunde mit ihren Fotos zu Tode. Das sind wir in Carcassone. Und hier ist eine Frau, vor der Akropolis.

Dann führten sie das ganze Jahr ein sesshaftes Leben, dieses
merkwürdige Leben, in dem man morgens da weitermacht, wo man am Abend aufgehört hat, in dem die Kleidung ganz vom Geruch der eigenen Wohnung durchdrungen ist und die Füße unermüdlich ihren Pfad auf dem Teppich treten.

Das ist nichts für mich. Offenbar fehlt mir irgendein Gen, das beim Menschen dazu führt, nach kurzer Zeit an einem Ort Wurzeln zu schlagen. Ich habe es oft versucht, aber meine Wurzeln waren flach, jeder beliebige Windstoß konnte mich ausreißen. Ich konnte nicht sprießen, diese den Pflanzen eigene Fähigkeit fehlt mir. Ich ziehe keine Säfte aus der Erde, ich bin ein Anti-Anteus. Meine Energie schöpft sich aus der Bewegung - aus dem Ruckeln von Autobussen, dem Dröhnen von Flugzeugen, dem Schaukeln von Fähren und Zügen.

Ich bin handlich, klein und kompakt. Mein Magen ist anspruchslos, mein Bauch fest, meine Lungen sind kräftig, meine Armmuskeln stark. Ich nehme weder Medikamente noch Hormone und trage keine Brille. Vierteljährlich schere ich mir die Haare mit dem Rasierapparat, ich benutze so gut wie keine Schminke. Ich habe gesunde Zähne, vielleicht nicht ebenmäßig, doch ganz, nur eine alte Plombe ist da, ich glaube im Sechser links unten. Leberwerte normal. Bauchspeicheldrüsenwerte normal. Die Nierenfunktion rechts und links
hervorragend. Meine Bauchschlagader in der Norm. Meine Harnblase genau richtig. Hämoglobin:12.7; Leukozyten: 4.5; Hämatokrit: 41.6; Thrombozyten: 228; Cholesterin: 204; Kreatinin: 1.0; Bilirubin: 4.2; und so weiter. Mein iq - wenn man an so etwas glaubt - ist 121, das reicht. Ich habe eine außergewöhnlich gut entwickelte räumliche Vorstellungskraft, die fast eidetisch ist, dafür ist mein laterales Denken schlecht ausgeprägt. Kein stabiles Persönlichkeitsprofil,
wahrscheinlich wenig vertrauenswürdig. Alter: psychologisch. Geschlecht: grammatisch. Bücher kaufe ich lieber im Taschenbuch, um sie ohne Bedauern auf Bahnsteigen liegen zu lassen, für die Augen anderer. Ich sammle nichts.

Ich habe mein Studium abgeschlossen, aber im Grunde habe ich keinen Beruf erlernt, was ich sehr bedaure: Mein Großvater war Weber, er bleichte die gewebte Leinwand, indem er sie auf einem Hang ausbreitete und dem hellen Sonnenlicht aussetzte. Es würde mir Spaß machen, Kette und Schuss miteinander zu verweben, aber es gibt seine transportablen Webrahmen, die Weberei ist eine Kunst für sesshafte Menschen. Unterwegs stricke ich. Leider ist es neuerdings bei manchen Fluggesellschaften verboten, Strick- oder Häkelnadeln mit an Bord zu nehmen. Wie gesagt, ich habe kein Fach gelernt, dennoch habe ich, ungeachtet der Warnungen meiner Eltern, immer überleben können, indem ich auf Reisen alle möglichen Arbeiten ausgeübt habe und keineswegs unter die Räder gekommen bin.

Als meine Eltern nach zwanzig Jahren ihr romantisches Experiment aufgaben und in die Stadt zurückkehrten, als sie der Dürren und Fröste überdrüssig waren, der gesunden Nahrung, die den ganzen Winter über im Keller kränkelte, der von den eigenen Schafen geschorenen Wolle, mit denen die unersättlichen Kehlen der Kissen- und Deckenbezüge gestopft wurden, da bekam ich ein wenig Geld von ihnen und machte mich zum ersten Mal auf den Weg.

Ich arbeitete in Gelegenheitsjobs, wo ich gerade hinkam. In einer internationalen Manufaktur am Rand einer Weltstadt schraubte ich Antennen in Luxusyachten. Dort arbeiteten viele wie ich. Wir arbeiteten schwarz, keiner fragte nach unserer Herkunft und nach unseren Zukunftsplänen. Freitags bekamen wir den Wochenlohn, und wem es nicht gefiel, der kam am Montag nicht wieder. Zukünftige Studenten arbeiteten dort, die ihre Zeit zwischen Abitur und Uni-Aufnahmeprüfung überbrückten. Emigranten auf ewiger Reise
zu einem idealen gerechten Land irgendwo im Westen, wo die
Menschen Schwestern und Brüder sind und ein starker Staat die Rolle eines fürsorglichen Elternteils übernimmt. Flüchtlinge, die vor ihren Familien ausgerissen waren, vor Frauen, Männern, Eltern, unglücklich Verliebte, verstört, melancholisch, ewig verfroren. Manche, nach denen das Gesetz seinen langen Arm ausstrecken wollte, weil sie ihre überzogenen Kreditkarten nicht abbezahlt hatten. Herumtreiber, Vagabunden. Verrückte, die beim nächsten psychotischen Schub in die Klinik gebracht und von dort - kraft uneindeutiger Vorschriften - in ihr Herkunftsland abgeschoben wurden.

Nur ein Inder war da, der schon seit Jahren in diesem Werk arbeitete. Doch ehrlich gesagt unterschied sich seine Situation nicht sehr von unserer. Er war nicht versichert und bekam keinen Urlaub. Er arbeitete schweigend, geduldig, in gleichmäßigem Tempo. Nie kam er zu spät, nie fragte er um einen arbeitsfreien Tag. Ich überredete ein paar Leute, sich wenigstens seinetwillen gewerkschaftlich zu organisieren - das waren die Zeiten der Solidarnosc -, aber er wollte nicht. Von meiner Anteilnahme gerührt, bewirtete er mich jeden
Tag mit scharfem Curry, das er im Henkelmann von zu Hause mitbrachte. Heute kann ich mich nicht mal mehr an seinen Namen erinnern.

Ich war Kellnerin, Zimmermädchen in einem exklusiven Hotel und Kindermädchen. Ich habe Bücher und Tickets verkauft. In einem kleinen Theater verdingte ich mich für eine Saison als Garderobiere im Fundus und konnte so den langen Winter zwischen Plüschkulissen, schweren Kostümen, atlasseidenen Umhängen und Perücken verbringen. Nach meinem Studienabschluss habe ich außerdem als Pädagogin, Beraterin in der Suchthilfe und zuletzt in einer Bibliothek
gearbeitet. Sobald ich ein wenig Geld verdient hatte, machte
ich mich wieder auf den Weg.


Der Kopf in der Welt

In einer großen düsteren kommunistischen Stadt habe ich Psychologie studiert, mein Fachbereich war in dem Gebäude untergebracht, in dem sich während des Krieges der Sitz der dortigen SS befand. Dieser Stadtteil war auf den Ruinen des Ghettos errichtet worden, das ließ sich ganz leicht erkennen, wenn man genau hinschaute: Der ganze Stadtteil stand nämlich rund einen Meter höher als die übrige Stadt.
Ein Meter Trümmer. Ich fühlte mich dort nie wohl, zwischen den neuen Wohnblocks und den kläglichen Grünanlagen blies immer der Wind, die eisige Luft fühlte sich besonders scharf an und schnitt ins Gesicht. Trotz der Bebauung gehörte die Gegend im Grunde noch den Toten. Das Institutsgebäude kommt heute noch in meinen Träumen vor - seine breiten, wie aus Fels gehauenen Korridore, die von den Füßen der verschiedensten Menschen glattgelaufen waren, die ausgetretenen Treppenstufen, die von unzähligen Händen blankpolierten Geländer, lauter Spuren, die im Raum ihre Abdrücke hinterlassen hatten. Vielleicht besuchten uns deshalb ab und zu Geister.

Wenn wir Ratten ins Labyrinth setzten, war immer eine dabei, deren Verhalten den Theorien widersprach und unserer raschen Hypothesen spottete. Sie stellte sich auf zwei Beine und zeigte nicht das geringste Interesse an der Belohnung am Ausgang der Versuchsstrecke, den mit dem pawlowschen Reflex verbundenen Privilegien abgeneigt, musterte sie uns und kehrte dann um oder machte sich daran, in aller Ruhe das Labyrinth zu erkunden. Sie suchte etwas in den Seitengängen, wollte auf sich aufmerksam machen. Sie quiekte verwirrt, und die Mädchen hoben sie entgegen den Vorschriften aus dem Labyrinth und nahmen sie in die Hand.

Die Muskeln eines toten, in die Länge gezogenen Froschs beugten und streckten sich nach dem Diktat elektrischer Impulse, doch auf eine Art und Weise, wie sie in unseren Lehrbüchern noch nicht beschrieben worden war: Sie gaben uns Zeichen, die Extremitäten vollführten eindeutig Droh- und Spottgebärden und widerlegten damit den geheiligten Glauben an die mechanische Unschuld physiologischer Reflexe.

Hier wurde uns beigebracht, dass sich die Welt beschreiben, ja sogar mit einfachen Antworten auf intelligente Fragen erklären lässt. Dass sie dem Wesen nach ohnmächtig und unbelebt ist, dass in ihr recht simple Gesetze herrschen, die man erklären und nennen muss, am besten mit Hilfe eines Schaubilds. Von uns wurden Experimente verlangt. Wir sollten Hypothesen formulieren. Verifizieren. Wir wurden in geheime Statistiken eingeführt, denn man glaubte, mit ihrer Hilfe ließen sich alle möglichen Gesetzmäßigkeiten der Welt perfekt erfassen, schließlich hat 90 Prozent eine größere Bedeutung als fünf.

Doch heute weiß ich eines: Wer Ordnung sucht, soll die Psychologie meiden. Lieber soll man sich mit Physiologie oder Theologie beschäftigen, dann kann man sich wenigstens auf etwas Ordentliches stützen, nämlich entweder auf die Materie oder auf den Geist, anstatt auf der Psyche auszurutschen. Die Psyche ist ein sehr unsicherer Untersuchungsgegenstand.

Sie hatten recht, die behaupteten, diese Fachrichtung suche man sich nicht im Hinblick auf einen zukünftigen Beruf, aus Interesse, aus dem Wunsch heraus, anderen zu helfen, oder ähnlichen schlichten Gründen. Ich habe den Verdacht, dass wir alle einen tief im Innern verborgenen Defekt hatten, obwohl wir bestimmt wie intelligente, gesunde junge Leute wirkten. Es war ein maskierter Defekt, der bei der Aufnahmeprüfung geschickt getarnt wurde. Ein heillos verheddertes, verfilztes Emotionsknäuel, wie die seltsamen Geschwulste, die man manchmal im menschlichen Körper entdeckt und in jedem Anatomie- und Pathologiemuseum findet, das etwas
auf sich hält. Aber vielleicht waren unsere Prüfer ja vom gleichen Schlag und wussten in Wirklichkeit genau, was sie taten. Dann wären wir sozusagen ihre Erben gewesen.

Als wir im zweiten Jahr die Funktion von Schutzmechanismen behandelten und verwundert die Macht dieses Teils unserer Psyche erkannten, verstanden wir allmählich eines: Wenn wir keine Rationalisierung, Sublimierung, Verdrängung, keines dieser Kunststückchen hätten, derer wir uns bedienen, wenn wir ganz schutzlos, ehrlich und mutig die Welt betrachten würden - dann würde es uns das Herz brechen.

Was wir in diesem Studium lernten, war, dass wir aus Schutzvorrichtungen bestehen, aus Schild und Rüstung, wir sind Städte, deren Architektur aus Mauern, Basteien und Befestigungen besteht, wir sind Bunkerstaaten.

Alle Tests, Interviews und Untersuchungen führten wir aneinander durch, und nach dem dritten Studienjahr konnte ich mein Problem schon benennen, das war wie die Entdeckung eines geheimen Eigennamens, mit dem man zu einer Initiation aufgerufen wird.

Teil 3