Vorgeblättert

Leseprobe zu Nicole Nottelmann: Die Karrieren der Vicki Baum. Teil 1

22.02.2007.
PROLOG

Am Abend der Premiere war das Theater am Nollendorfplatz bis auf den letzten Platz gefüllt. Draußen löste sich langsam die Traube der Schaulustigen auf, die einen Blick auf die Abendroben der eintreffenden Damen hatten erheischen wollen. Und während sich drinnen im Foyer die Gesellschaftsreporterinnen Notizen machten, zückten im Saal bereits die wichtigsten Theaterkritiker der Republik ihre Blöcke. Ganz Berlin schien gekommen zu sein. Marlene Dietrich, deren Blauer Engel im April im nur zwei Kilometer entfernten Gloria Palast Premiere haben würde, thronte in der Proszeniumsloge. Im Parkett saß der Leiter des Deutschen Theaters, Max Reinhardt, der als ausführender Produzent dieser Uraufführung fungierte. Gegeben wurde Menschen im Hotel. Das Stück versprach einen mondänen Unterhaltungsabend. Dafür standen ein erstklassiges Ensemble - das Deutsche Theater -, ein aufstrebender Regisseur - Gustav Gründgens -, und der Name der Autorin - Vicki Baum. Sie hatte gerade neben dem jungen Gründgens Platz genommen.
     Baum war keine klassische Schönheit, eine zierliche, etwas gedrungen wirkende Frau von kaum 1,55 Größe, und mit ihren zweiundvierzig Jahren war sie auch nicht mehr ganz jung. Doch sie besaß eine einnehmende Persönlichkeit, und sie umgab die Aura des Erfolgs. Als sie 1926, als Redakteurin des Magazins Die Dame, nach Berlin gekommen war, hatte sie in der Hauptstadt kaum jemand gekannt. Mittlerweile war Vicki Baum die berühmteste Autorin Deutschlands. In Berlin sah man sie Beobachtern zufolge überall: in Restaurants, auf dem Tennisplatz, auf Botschaftsempfängen und bei Theaterpremieren, wie heute auf ihrer eigenen.
     Baum hatte ihren Erfolgsroman Menschen im Hotel selbst zu einer Revue aus fünfzehn Szenen umgearbeitet. Ihr Stück führt einen todkranken Buchhalter, eine alternde Ballerina, einen charmanten Hasardeur, einen bankrotten Fabrikdirektor und ein Tippfräulein in einem Berliner Luxushotel zusammen: Sie alle sind entwurzelt oder brechen im Hotel mit ihrer Vergangenheit, "um nur noch in einer veränderten Gegenwart zu leben, die jeder für sich, und sei es auf Kosten des anderen, nutzen will".1 In kurzen, schnell aufeinander folgenden Szenen wechseln die Hintergründe wie im Film - von der Hotelhalle zu den Gästezimmern, hinüber zum Korridor, in den Speisesaal, zum Konferenzzimmer und wieder zurück in die Hotelhalle.
     Gründgens stellte eine Drehbühne ins Zentrum der Aufführung und ließ sie - als Symbol des Lebens - ununterbrochen rotieren. Der Effekt verblüffte das Publikum. Als beim Prolog eine Telefonzentrale und mehrere Telefonzellen hereingefahren wurden, gab es spontan Applaus, denn die Vernetzung war ein neues, hochaktuelles Phänomen. Nach dem zweiten Akt tobte der Saal, die Autorin wurde auf die Bühne gerufen. Sie trat vor den Vorhang und bedankte sich so höflich wie selbstsicher. "Das Publikum liebt Vicki Baum", berichteten die Zeitungen am nächsten Tag. Zur "schönsten Frau des Abends" wurde jedoch eine andere gekürt - Marlene Dietrich, die bald auch in Amerika für Furore sorgen sollte.
     Für Vicki Baum markierte der Abend des 16. Januar 1930 den "Zenith ihrer Karriere in der deutschsprachigen Welt".2 Ähnlich wie der Dietrich sollte ihr Deutschland jedoch bald zu eng werden. In den folgenden Monaten erschienen Übersetzungen von Menschen im Hotel in ganz Europa, es folgten Bühnenfassungen in London, Paris, Madrid, Prag, Budapest und Rom. Im November avancierte Grand Hotel zum Hit der Saison am Broadway, der gleichnamige Roman eroberte die amerikanischen Bestsellerlisten. Hollywood rief, und Vicki Baums Weltkarriere nahm ihren Anfang.



WIENER KIND (1888-1913)

     Wurzeln und Legenden - Das Elternhaus -
     Einzelkind mit Harfe - Verlust der Mutter (Frühe
     Schatten) - Das Vaterhaus - Der Fliegende
     Holländer - Tod der Mutter - Aufstand per
     Trauschein - Leidenschaft und Bankrott -
     Eine neue Familie

Wenn sich Vicki Baum an ihre ersten Lebensjahre erinnerte, so stehen immer drei Dinge im Vordergrund: der Tod ihres geliebten Großvaters, der zu frühe Verlust ihrer Mutter und die egozentrische, brutale Persönlichkeit ihres Vaters. Ihre erste bewusste Erinnerung war der Anblick der braunschwarzen Tapete im Esszimmer: "Ich kann nur zahllose kleine schwarze Kreaturen sehen, die über die Wand kriechen und, zu dichten Klumpen zusammengeballt, aufeinander zustürzen."1 Das gruselige Tapetenmuster, das sie später in ähnlicher Weise auch in ihren Romanen Frühe Schatten und Marion beschrieb, erscheint wie ein Menetekel für jenen Alptraum, zu dem sich ihre Kindheit ausformte. Doch bis zu ihrem vierten Lebensjahr, so versicherte Baum immer wieder, habe sie ein freies, unbeschwertes Kinderleben geführt.

Zu ihren glücklichsten frühen Erinnerungen gehörten die Spaziergänge mit ihrem böhmischen Kindermädchen Katl oder mit ihrem Großvater Jacob Baum durch Wien. Für ein phantasiebegabtes, wissensdurstiges Mädchen wie Vicki müssen die belebten Straßen der Hauptstadt ein wirkliches Märchenland gewesen sein.

Dort bewegte sich ein buntes Gemisch aus dem guten Dutzend Völker der österreichisch-ungarischen Krone: galizische Juden mit langen, struppigen Bärten und staubiger schwarzer Kluft, rumänische und kroatische Bäuerinnen in bunten Volkstrachten, fezbewehrte Bosniaken und polnische Ulanen in blitzenden Uniformen, sonnengegerbte ladinische Reibfrauen, Bandlkramerinnen und slowakische Schwammhändler. Mindestens verwirrend, manchmal bestimmt auch beängstigend war diese babylonische 16
Stadt. Aber immer waren da auch die sicheren Hände Katls oder Jacobs, die Vicki begleiteten, lenkten, beschützten. Jacob Baum, ihr "ärmlicher", spitzbärtiger Großvater, den sie später zärtlich den "gütigen, grauhaarigen, armseligen, kleinen Juden" nannte, war für sie die wichtigste familiäre Bezugsperson ihrer frühen Kindheit. Ihre Eltern Mathilde und Hermann Baum sah Vicki in den ersten vier Lebensjahren außer zu den Mahlzeiten nur selten.

Jacob Baums Eltern gehörten zu jenen deutschen Kolonisten, die seit 1780 dem Ruf des österreichischen Kaisers Joseph II.
gefolgt waren und sich in der ungarischen Reichshälfte, im damals noch dünn besiedelten Bastscherland rund um Neusatz, das heute serbische Novi Sad, angesiedelt hatten. Der Kaiser hatte ihnen dort seine Ländereien überlassen und sie zu Erbpächtern gemacht. Epidemien, Hungersnöten und Naturkatastrophen trotzend, hatten diese Siedler fast aus dem Nichts heraus "schwäbische" Dörfer mit stabiler Infrastruktur erschaffen, das brachliegende Land urbar gemacht und es in die Kornkammer Ungarns verwandelt. Vicki Baum fühlte sich diesen zähen, pragmatischen Menschen stets verbunden und verspürte hier deutlich ihre Wurzeln. Auf ihren vielen Reisen durch verschiedene Kontinente sollte sie später immer eine Daguerrotypie der Urgroßeltern Baum begleiten, die sie sich zu Schutzpatronen erwählt hatte. Circa 1860 in einem ungarischen Atelier aufgenommen, zeigt die Abbildung ein älteres Paar im bäuerlichen Sonntagsstaat: eine hagere Frau im dunklen Seidentaftkleid und einen gesetzt wirkenden Mann in langem dunklen Jackett und passender Weste. Die beiden Bauersleute blicken streng, fast grimmig in die Kamera. Sie scheinen weltoffen und selbstbewusst genug gewesen zu sein, sich als Individuen für die Nachwelt verewigen zu lassen.

Vickis Großvater Jacob, ein Sohn dieses stolzen Paares, hatte sich in Nemeth Palanka eine Existenz als Landwirt aufgebaut, bis ein Feuer seinen gesamten Besitz zerstörte.(2) Nach der Kata17 strophe verließ er mit seiner Frau Franziska (Fanny), den Söhnen Hermann und Alexander (Sandor) und den Töchtern Cora und Jenny die Heimat und ging nach Wien, so wie zigtausende andere Juden aus den ärmeren Reichsgebieten, nachdem Kaiser Franz Joseph 1867 die Beschränkungen für jüdische Zuwanderung aufgehoben hatte.

In der Donaumetropole verwandelte sich Jacob vom einfachen Agenten zum Südfrüchtehändler. Bald besaß er ein eigenes Geschäft in der Nähe des Stephansdoms. Nach allem, was wir wissen, waren die Baums fromme Juden. Fanny trug nach orthodoxer Tradition eine schwarzhaarige Perücke, einen sogenannten Scheitel, über ihrem abrasierten Haar, den sie nach Jacobs Tod gegen ein grauhaariges Exemplar eintauschte.(3)

Doch Jacob Baum verstand sich offenbar in erster Linie als Geschäftsmann und trachtete vor allem danach, sich schnell in die Wiener Gesellschaft zu integrieren. Er lebte in einer Wohnung über seinem Geschäft. Erst als er sich zur Ruhe setzte, zog er in eine winzige Dreizimmerwohnung in die Leopoldstadt, damals das Zentrum jüdischen Lebens in Wien. Seinen Südfrüchtehandel übergab er an seinen jüngsten Sohn Sandor, der noch bei ihm und Fanny wohnte. Vicki Baum erinnerte sich noch viele Jahre später gut daran, wie sie an der Hand ihres Großvaters im Zoo von Schönbrunn die Namen der exotischen Tiere lernte: Flamingo, Antilope, Orang-Utan, Känguru. Im Wurstelprater führte er sie zum Riesenrad, zu den seiltanzenden Gauklern und zu ihrem Lieblingskarussell "Calafati". Jacob besuchte mit ihr auch den Markt am Donaukanal, wo er früher seine Ware eingekauft hatte. Er zeigte ihr die Kähne, die aus seiner Heimat Ungarn kamen und mit Melonen, Äpfeln, '4Dais und Paprikaschoten beladen waren.()


Der 3. April 1892 veränderte Vickis Kindheit nachhaltig. An diesem lauen Vorfrühlingstag durfte die Vierjährige, wie oft an den Wochenenden, bei ihren Großeltern übernachten. Zuvor war sie mit ihrem Großvater noch durch die engen Gassen der Leopoldstadt gebummelt, dann hatten sie gemeinsam das Abendessen eingenommen. Später hatte Jacob über Atemnot geklagt und sich hingelegt, Vicki hatte sich an ihn gekuschelt und war eingeschlafen. Gegen Mitternacht erwachte sie vom Stimmengewirr. Onkel, Tante und Großmutter standen um das Bett herum, Fanny und Jenny weinten laut. Neben Vicki lag der leblose Körper ihres Großvaters.

Vicki Baums Darstellung in ihren Erinnerungen wird durch die Matriken der Israelitischen Kultusgemeinde gestützt. Jacob Baum, Antonsgasse 5, starb in jener Nacht um halb zwölf an einem "Herzfehler". "Ich wusste noch nicht, wie bitter ich ihn viele Jahre lang vermissen sollte. Bis auf den heutigen Tag wandert er durch meine Träume, unverändert, heiter, trostbereit und freundlich", schrieb die 70-Jährige und ließ in ihrer über viele Jahrzehnte konservierten Sehnsucht erkennen, wie sehr sie noch Jacobs Trost und Freundlichkeit bedurft hätte.(5)

Vickis Mutter Mathilde, geborene Donath, ist hingegen nicht mehr als ein Schatten in den Kindheitserinnerungen ihrer Tochter. Sie scheint eine jener jungen, überforderten Mütter gewesen zu sein, die zwischen Vernachlässigung und übertriebener Zuwendung hin- und herpendeln und ihrem Kind zu keiner Zeit ein Gefühl von elementarer Sicherheit vermitteln können. In ihren Romanen Marion und Frühe Schatten zeichnete Baum später getreue Porträts ihrer Mutter, jeweils unglückliche und oft nervenkranke Frauen.

Die Donaths waren wie die Baums während der großen Einwanderungswelle in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts nach Wien gekommen. Mathilde war damals zehn, die drittgeborene der sechs Töchter Maria und Leopold Donaths aus dem mährischen Bisenz, nahe der ungarischen Grenze. Die Donaths besaßen im damals österreichisch verwalteten Bosnien und Herzegowina weitläufige Waldareale und handelten im großen Stil mit Holz, das in ganz Österreich-Ungarn zum Bau von Häusern, Schiffen, Eisenbahnen und Möbeln verwendet wurde. In Wien führte die Familie einen großbürgerlichen Haushalt mit allem "Reichtum und Luxus".(6) Das Haus, in dem Leopold und Maria Donath wohnten, lag im vornehmen vierten Bezirk und war mit marmornem Treppenhaus und einem Aufzug versehen, damals ein untrügliches Zeichen von Eleganz und Modernität. Die Familie beschäftigte eine Köchin und ein Hausmädchen, die täglich fünf Mahlzeiten zubereiteten und servierten. Hinzu kamen diverse Zugehfrauen, Wäscherinnen und Näherinnen. Mitten im Salon stand ein großer Flügel - Leopold Donath war ein begabter Klavierspieler und hatte in seiner Jugend sogar damit geliebäugelt, Konzertpianist zu werden. Doch er wurde "Tabakgroßverleger ", später Inhaber einer Tabaktrafik (Kiosk).

Mit einundzwanzig Jahren heiratete seine Tochter Mathilde Jacob Baums ältesten Sohn Hermann. Es war sicher keine Liebesheirat, vielmehr eine arrangierte Ehe, die wahrscheinlich sogar durch eine Heiratsvermittlerin zustande gekommen war, wie damals in konservativen jüdischen Familien üblich.

Offensichtlich prallten in dieser Ehe zwei unverträgliche Persönlichkeiten aufeinander. Mathilde Baum führte auch nach der Heirat das innerlich leere, unausgefüllte Leben einer Frau der oberen Mittelschicht. Sie hatte die typische Erziehung einer höheren Tochter erhalten, war in Stickarbeiten, Klavierspielen, Haushaltsführung und Französisch ausgebildet worden. Über Männer wusste sie anscheinend nur wenig. Man dürfte ihr lediglich vermittelt haben, dass die Ehe das oberste Ziel eines Frauenlebens, die Sexualität gottgewollt und eine gegenseitige Pflicht der Eheleute war.(7) Mathilde war eine Schönheit mit heller Haut, dunklem, lockigem Haar und ausdrucksstarken Augen, wie eine überlieferte Fotografie zeigt. Ihr vom Betrachter abgewendeter Blick wirkt jedoch alarmierend abwesend, melancholisch, beinahe traurig.

Hermann Baum war aus ganz anderem Holz geschnitzt. Er stammte von den Bauern aus Parabutsch ab. Seine Familie verkörperte einen dickhäutigeren, beweglicheren Typus, der gewillt war, sich hochzuarbeiten und anzupassen. Er war Kaufmann wie sein Vater Jacob und sein Bruder Sandor, jedoch nicht selbstständig, sondern im Getreidehandel angestellt. Während der ersten Ehejahre stieg er vom "Cassier" zum "Comptoristen", dann zum Buchhalter, schließlich zum "Prokuristen" auf. Später nannte er sich etwas hochtrabend "Privatbeamter". Auf dem einzig überlieferten Porträtfoto blickt Hermann direkt in die Kamera. Er trägt einen etwas zerzausten Backenbart a la Franz Joseph. Sein Gesicht ist leicht aufgedunsen, die Haut schwammig. Sein Blick wirkt hart, und sein leichtes Schielen verleiht ihm etwas Verschlagenes.

Durch seine Heirat stieg er in die "gute Gesellschaft" auf. Wohl vor allem dank der Donath?schen Mitgift konnte er mit seiner jungen Frau in ein 1861 erbautes Eckhaus im feinen ersten Wiener Bezirk ziehen. Die Wohnung war geräumig und hatte eine "riesige Eingangshalle", "hohe Decken, enorme Doppeltüren und weitflächige Parkettböden".(8)

Leseprobe Teil 2

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