Vorgeblättert

Leseprobe zu Mahmud Doulatabadi: Nilufar. Teil 1

02.09.2013.
Er sieht diesen alten Mann, der im Nebel geht, aber genau erkennen kann er ihn nicht. Eine leise Ahnung sagt ihm, er müsste ihn kennen. Er grübelt und grübelt, aber er kann sich kein klares Bild von ihm machen, keine Erinnerung an ihn wachrufen. Woher kommt dieses Gefühl, dass er ihn kennen müsste, ihn kenne oder gekannt habe? Warum bohrt diese Neugierde so in ihm? Er beschleunigt seine Schritte, will dem alten Mann näher kommen. Aber auch der Mann beschleunigt, scheinbar achtlos, seinen Gang im Gleichschritt mit ihm, so dass der Abstand zwischen ihnen gleich bleibt. Gheiss kommt dem alten Mann nicht näher. Er muss also die Hoffnung aufgeben, ihn einzuholen, vielleicht auch mit ihm zu reden, ihm ins Auge zu schauen und beim Austausch eines höflichen Grußes seine Stimme zu hören.
     Er vermutet, dass der alte Mann, der mit gesenktem Kopf durch den Nebel geht, nicht gesprächig ist. Eine in Herbstnebel gehüllte Stadt in Europa, trübes, drückendes Wetter, ein Mensch läuft gekrümmt an einer alten, feuchten, moosbewachsenen Mauer entlang. Die verwitterte Mauer trennt die lange Straße vom Friedhof, und so ist es nicht erstaunlich, dass die schattenhafte, gekrümmte, uneinholbare Gestalt, die sich vor ihm in immer gleicher Distanz gegen den düsteren Himmel abzeichnet, so wirkt, als trage sie eine besondere Bedeutung.
     Gheiss weiß, dass ihn mehr als gewöhnliche Neugier zu diesem Mann hinzieht. Er ist sich sicher, dass er diesen Mann gleich wiedererkennen wird. Durch den Nebel und den Nieselregen hindurch betrachtet, wirkt es, als habe der Mann seinen Mantelkragen hochgeschlagen, um den tief zwischen die knochigen Schultern gesenkten Kopf vor dem kalten Wind zu schützen, aber auch damit sein Starren auf die Erde, auf die fahlen Pflastersteine nicht auffällt. Gheiss spürt, dass der Mann nicht daran interessiert ist, andere Menschen zu sehen. Sonst würde er nicht in einer Stadt, die so viele Sehenswürdigkeiten zu bieten hat, auf einer verlassenen Straße den Friedhof entlanggehen, die Hände tief in die Taschen vergraben. Er geht so gekrümmt, dass man meinen könnte, er habe einen Buckel. Gheiss spürt förmlich, wie er in den Taschen die Finger zur Faust geballt hat, wie seine Adern angeschwollen sind. Er erinnert sich: In solchen Situationen hat er selbst früher die Zähne gegeneinandergepresst, bis die Fältchen um seine Augenhöhlen zu tiefen Kerben wurden, die für jedermann sichtbar waren. Sicher ist der Mann auch blass geworden, bleich wie nie zuvor. Es sieht ganz danach aus, dass dieser Mann er selbst ist.
     Die Anzeichen müssten genügen, damit du diesen alten Bekannten wiedererkennst. Du bist ihm doch in verschiedenen Phasen deines Lebens begegnet. Er war es doch, der vor zwei, drei Jahren seinen Personalausweis verloren hat und in seiner ganzen Verwirrung und Orientierungslosigkeit seltsam gefasst wirkte. Vielleicht weil er wusste, dass man, wenn das Alter erreicht ist, in gewissen Situationen die Erinnerung verliert, sodass sogar der eigene Namen entschwindet.
     Ja, allmählich kam Gheiss dem Mann auf die Spur. Oder konstruierte er nur das Phantombild eines Menschen, dem er im Laufe seines Lebens tatsächlich begegnet war? Wer war das bloß? Ja, er kannte diesen grimmigen Mann. Er durfte ihn keine Sekunde aus den Augen lassen und beschleunigte noch einmal seine Schritte, um ihn einzuholen. Aber es war nicht möglich …
     Wie Gheiss es vermutet hatte, ging der alte Mann in den Friedhof. Gheiss verfolgte ihn wie sein Schatten. Die hochragenden Bäume mit ihren dürren Ästen streiften die Wolken. Der Alte achtete nicht auf sie. Er in­te­res­sier­te sich auch nicht für die Grabsteine. Mit schweren Schritten ging er über den mit Kieselsteinen bedeckten Weg und blieb dann unvermittelt stehen. Auch Gheiss hielt unwillkürlich inne. Dann lief er weiter, weil auch der alte Mann weiterlief. Einige Schritte entfernt befand sich eine Bank. Ob der alte Mann sich setzen würde? Er setzte sich. Auch Gheiss setzte sich. Wie erschöpft er ist, dachte Gheiss. Hat er einen weiten Weg hinter sich? ­Sicher hat der Alte ein starkes Verlangen nach einer Zigarette. Gheiss spürte es.
     Ja, der alte Mann griff in seine Brusttasche, zündete sich eine Zigarette an und legte ein Bein über das andere. Um auf einer Bank oder einem Stuhl bequem zu sitzen, musste er ein Bein über das andere schlagen, das linke über das rechte. Und dazu eine Zigarette … aber Zigarettenrauch stört immer irgendjemanden.
     Sie sitzt neben ihm auf der Parkbank, ein wenig schräg, das Gesicht Gheiss zugewandt. Sie lacht, wie eine Blume, wenn eine Blume lachen könnte. Ihre dunk­len Pupillen glänzen, wie der Glanz der sinkenden Sonne auf den zarten Wellen eines Teichs: "Puh, so viele Zigaretten!" Sie verwedelt mit der linken Hand wie mit einem Fächer den Rauch vor ihrem Gesicht. So viel Grazie, noch in der kleinsten Bewegung … Das Leben sprüht aus ihren Wangen. Leben, das glüht und lodert. Sie sitzt neben ihm. Zwei Passanten gehen an ihnen vorbei und grüßen Gheiss. Er merkt es nicht. Aber die Frau wird lebhaft, es bricht aus ihr heraus: "Wie ehrenvoll es ist, so begrüßt und geachtet zu werden!"
     Gheiss schaut sie an, zuckt die Achseln, als wäre er peinlich berührt, nickt. Sie kennt Gheiss, sie kennt ihn sehr gut. Oft sagt sie: "Niemand kennt dich so wie ich." Und Gheiss schließt die Lider als Zeichen der Bestätigung. Sie müsste also wissen, dass ihm Ehrerweisungen nicht viel bedeuten. Manchmal schämt er sich sogar und wirkt verlegen. Er hat es ihr oft gesagt, wenn er mit ihr spazieren ging oder im Café oder Restaurant ihr gegenübersaß. Ehrerweisungen waren ihm unangenehm, er fühlte sich schon unwohl, wenn bei einem Treffen mit ihr andere dabei waren. Er hatte dann das Gefühl, er werde erdrückt und zerquetscht. Wenn andere Menschen auftauchten, packte er ihren Arm, als wolle er sie wegführen. "Was ist denn geschehen?", fragte sie energisch. Nichts war geschehen, aber in seinem Inneren drückte ein alter Knoten, ein quälendes Gefühl aus vergangenen Zeiten. Vielleicht weil er sich bewusst war, wie erschöpft, bedrückt und verbraucht er aussah neben ihrer Frische und Lebendigkeit? Vielleicht. Aber das war nicht alles. Die Blicke der anderen lösten in ihm Angst und Unsicherheit aus. Man wird über ihn reden und tuscheln und sein Benehmen ganz und gar unpassend finden. Das war die Qual, und jeder Blick konnte die Verbitterung über gewisse Äußerungen, die er nie vergessen würde, wieder hochkommen lassen …
     Doch sie ließ nicht zu, dass er in dieser bedrückten Stimmung begraben blieb. Schon mit dem nächsten Wort zog sie ihn mit ihrem blühenden Lächeln wieder aus der Gruft seiner Gedanken heraus. "Du bleibst immer, der du warst, ein gesunder, schöner, starker Mann." Er wollte mit ihr reden, ihr ein guter Gesprächspartner sein, aber er schaffte es nicht. Er lächelte nur zurück und wusste selbst nicht weshalb. Warum war er überzeugt - und er ist es immer noch -, dass das Lächeln ihm ein unschönes Aussehen verleiht?
     "Schon wieder eine Zigarette! Wie viele denn noch?"
     Er warf den Stummel aus dem Fenster des Autos hi­naus, kurbelte die Scheibe noch weiter nach unten, damit sie nicht auf den Gedanken käme, das Fenster auf ihrer Seite zu öffnen. Im herbstlichen Abendwind könnte sie sich erkälten. Der Rauch, den er im Auto durch Nase und Mund ausstieß, brachten sie wirklich zur Verzweiflung. Ihre Augen brannten. "Das ist die Letzte, die Aller­letzte", sagte er scherzhaft. Sie wusste, wie abhängig er von Zigaretten war, wie sehr sie Tag für Tag an ihm zehrten. Sie schaute ihn an mit einem ironischen Blick und einem Lächeln im Mundwinkel: "Wenn du zwischen mir und Zigaretten wählen müsstest, bin ich ­sicher, dass du dich für Zigaretten entscheiden würdest." Gheiss wendete sein Gesicht ihr zu - sicher würde seine Haut sie jetzt an trockene Baumrinde erinnern - und verlor sich einen Augenblick in der dunklen Tiefe ihres Blicks. Er wäre darin versunken, hätte er nicht den Wagen lenken und nach vorn schauen müssen. Sie konnte ihn verstehen, die kleinsten, rasch wechselnden Nuancen seiner Stimmung nachfühlen. Sie legte ihre Hand auf seinen Handrücken und drückte sanft. Es war nur ein kurzer Augenblick, aber lang genug, um all ihre Sinne durch die Hand in seine Adern zu leiten.
     Man stelle sich einen Herbsttag vor, zwischen Nachmittag und Abend, auf der Straße, die durch das Zentrum in den äußersten Süden der Stadt und zu der ältesten Brücke führt. Früher war da beidseits der Straße bis hin zur Brücke und dem Schlachthof keine einzige Hütte, nicht einmal eine Straßenlampe, die einen Fleck Erde hätte beleuchten können. Er hatte ihr erzählt, dass er an einem Sommerabend vom Schlachthof bis zu der Brücke gelaufen war und dabei laut gesungen hatte, aus Angst. Und auf dem Rückweg wieder, allerdings noch lauter, noch schneller, noch ängstlicher. Gar nicht einfach war das, überwältigt von Angst zu rennen und dabei zu singen!
     "Es war lange bevor du geboren wurdest, vermutlich war damals Senemar noch im Gefängnis. Soweit ich mich erinnere, hatte damals im Irak Abd al-Karim Qasim einen Militärputsch gegen den König geführt. Dort hinter der Brücke gab es ein Teehaus, das sich Tabrisi nannte. Wie alt werde ich damals wohl gewesen sein? Und du? …"
     Inzwischen waren sie wohl angekommen, auf dem alten Vierkuppeln-Platz nahe den Geschäften, Schaufenstern und Neonlichtern. Und immer, wenn sie dort waren, fragte er sie: "Möchtest du etwas kaufen?" Und sie antwortete: "Nein." "Warum?", fragte er dann, oder er schaute sie nur an. Und Gheiss hat nie, bis heute nicht, das rätselhafte Gefühl der Verbundenheit und Einheit begriffen, das sie ihm vermittelte mit jenem Blick, der erfüllt war von ihrer glasklaren Zufriedenheit, ihrer Zuneigung und Hinwendung. Noch immer spürt er diesen auf ihn gerichteten Blick, den keine Spur eines Hintergedankens trübte, der ihn dankbar machte und glücklich wie ein Kind. Wie war es möglich, dass der bescheidenste Wunsch von ihr, der zudem nicht überraschend kam, ihn innerlich so aufwühlte, dass er ihr dafür zutiefst dankbar war? Er wollte ihr ja nichts Besonderes kaufen. Was es war, spielte für beide keine Rolle. Aber dieser Glücksstrom, der sie einen kurzen Augenblick, so kurz wie die Dauer eines Blickes, überwältigte, war ­ihnen so wertvoll, dass sie um nichts auf der Welt darauf verzichten wollten.
     "Kaufe mir ein Eis."

zu Teil 2