Vorgeblättert

Leseprobe zu Kiran Nagarkar: Die Statisten. Teil 3

20.08.2012.
Ravan musste zugeben, dass der Bandleader seinen Job beherrschte. Man konnte Navare ein beliebiges Blas-, Tasten- oder Saiteninstrument geben, und er erweckte es zum Leben und ließ es nach seiner Melodie tanzen. Stundenlang saß er mit seinem Schüler zusammen und führte ihm die Kunst vor, Raga-Motive auf dem Harmonium zu spielen. Gelegentlich holte er die Sarangi - das Saiteninstrument, dessen Klang dem der menschlichen Stimme am nächsten kommt - aus ihrem Kasten, bestrich den Bogen mit Kolophonium und spielte. Ravan arbeitete Stunden an den musikalischen Übungen und seine Technik wurde von Woche zu Woche besser. Doch was noch wichtiger war - er wagte sich nun mit größerer Sicherheit und tieferem Verständnis an immer komplexere Phrasierungen heran. Er spielte jetzt nicht mehr nur Xylophon. Er kam stets früh zu den Proben und versuchte sich dann an der Klarinette oder sogar dem Saxophon.
Ravan war mittlerweile seit anderthalb Jahren Mr Navares Schüler. Er war normalerweise vier bis fünf Monate im Rückstand mit der Bezahlung, und von Zeit zu Zeit bekam sein Lehrer einen Tobsuchtsanfall und verlangte sein Geld. Die Augen des Meisters quollen dann gefährlich hervor, und das dünne Geflecht von Adern an seinem Hals und seiner Stirn schwoll an und begann wie ein Spinnennetz im Sturm zu vibrieren. Ravan fürchtete dann immer, Mr Navare würde sagen, er möge sich zum Teufel scheren und sich nie wieder blicken lassen. Oder schlimmer noch, er würde vor seinen Augen explodieren und sich selbst vernichten. Doch die Wutausbrüche des Bandleaders waren immer nur von kurzer Dauer. Er war fast so knapp bei Kasse wie Ravan, und er wusste, dass der Junge nicht nur der beste Schüler war, den er je gehabt hatte, sondern auch das zuverlässigste und vielseitigste Mitglied der New India Brass Band.
Es war der letzte Tag der Hochzeitssaison. Dank den drei bis viertausend Eheschließungen, die allein in Bombay an diesem Tag begangen wurden, war die New India Brass in eine höhere Klasse aufgestiegen. Die Band war engagiert worden, auf einer Brahmanen-Hochzeit in der Laxmi Baug Hall im gutbürgerlichen Stadtbezirk Girgaon zu spielen.
"Heute in Girgaon", verkündete Navare triumphierend, "und morgen ... morgen in Dadar, ja im Shivaji Park!"
Kanhaiyyalal, der Klarinettist, war der Zyniker der Kapelle. "Bis 'morgen' ist es noch ein halbes Jahr hin, und ich bezweifle, dass die Band nach dem heutigen Abend noch existieren wird. Du schuldest uns noch immer zwei Monatslöhne."
"Du hast keine Vorstellungsgabe, Kanhaiyyalal, keinerlei visionäre Kraft", beklagte Kamble, der Trommler und Harmoniumspieler. Sein Kopf war in den Nacken geworfen und sein Kinn gen Himmel gereckt, sodass sein zierliches Profil zu anbetungswürdiger Wirkung gelangte. "Wir mögen Erdlinge sein, doch der Aufstieg des Menschen zum Trommelschlag der Zeit war einzig möglich, weil das Menschengeschlecht mitunter die Kühnheit besessen hat, mit den Göttern zu wandeln." Ravan starrte den ehemaligen Mimen ehrfürchtig an. Wenn Kamble in Form war, konnte er einen die dürftige Bedeutungslosigkeit des eigenen Lebens vergessen lassen. Man übersah, dass sein Haar stümperhaft gefärbt war und sein Kunstgebiss ihm, wenn er besonders erregt war, ständig aus dem Mund fiel. Man nahm nur noch die Poesie seiner Worte wahr und deren Macht, einen zu großen Taten zu inspirieren und zu beflügeln, unbekannte Welten zu erobern. Dann glaubte man ihm, dass er nicht nur einem Maler als Modell für Madan, den Gott der Liebe, gedient hatte, sondern auch einer der großen Sänger-Schauspieler längst verflossner Zeiten gewesen war, der jede weibliche Rolle auf der Marathi-Bühne gespielt hatte und von herzlosen jüngeren Publikumsgenerationen vergessen worden war.
"Doch du, Kanhaiyyalal, selbst wenn du in den Himmel entrückt wärest, würden deine Augen fortfahren, die Misthaufen dieses unseres heillosen Landes abzugrasen!" Der Bandleader hatte sich offenbar mit dem rhetorischen Bazillus seines Berufsoptimisten angesteckt und machte da weiter, wo Kamble abgebrochen hatte. Jetzt lag zittrige Verzweiflung in seiner Stimme. "Du musst glauben, Kanhaiyyalal, an dich selbst glauben, wenn du Wunder wirken willst!"
"Aber sicher. In dem Augenblick, in dem du endlich rausrückst, was du mir schuldest, glaube ich an Wunder."
"Geld! Hat denn das Leben nichts anderes zu bieten als die Anbetung des Mammons?" Der Bandleader war gerade dabei, sich in eine Berserkerwut hineinzusteigern, als der Vater des Bräutigams ihn unterbrach.
"Mit Verlaub, Mr Navare, wenn Sie mit Ihrem Gezänk und sonstigen nichtigen Angelegenheiten fertig sind, würden wir gern mit dem Hochzeitsumzug beginnen ..."
Navare brach seine Rede wider das philisterhafte Leben und das schnöde Streben nach Geld auf Kosten von Kunst und überhaupt allem, was dem menschlichen Leben Adel verlieh, kurzerhand ab, hob die Hand und sagte: "Eins, zwei, drei."
Das war der Moment, in dem alles Leben erlosch und Ravan erwachte. Die Tatsache, dass Navare ihn weder bezahlte noch zugab, dass er sich als Mitglied der Band die Sporen verdient hatte; dass die grauenhafte ockerfarbene Uniform, die er tragen musste, ihm drei Nummern zu groß war; dass er es niemals fertigbringen würde, Eddies Schwester Pieta seine Liebe, seine jedes Vorstellungsvermögen sprengende Liebe zu gestehen; dass er keine Ahnung hatte, wo er das Geld hernehmen sollte, um sich die Kleider zu kaufen, in denen er wie sein Held Raja aussehen würde, oder wie er seine erste Chance beim Film bekommen sollte; nichts hatte noch irgendeine Bedeutung.
Ravan ergriff die Schlägel, und ihre flauschigen Filzköpfe begannen, wie das kühle Geprassel eines melodischen Regenschauers auf die Metallplatten zu fallen. Wenn man Ravans Seele sehen wollte, brauchte man nur zuzuschauen, wie seine Hände über das Xylophon wirbelten. Die zwei, Spieler und Instrument, wurden untereinander austauschbar, und es war nicht mehr zu erkennen, was was war. Er konnte einen Ton, der eigentlich längst im Äther verhallt war, so hinausziehen, dass man ihn weiter vernahm, wie die schmerzliche Erinnerung an eine verlorene Liebe. Und mit dem Tanz seiner Schlägel beschwor er Rinnsale und Felshänge, Muren und smaragdgrüne Lagunen herauf. Mitunter spielte er mit der Melodie Verstecken, dann wieder war es so, als könnte er sich nicht von ihr trennen, und er spielte so viele Variationen von ihr, dass man hätte schwören können, er würde nie wieder zurückfinden. Doch es gelang ihm immer.
Die Schlägel liebkosten bedächtig die leicht gebogenen Metallplatten; sie flatterten über sie hinweg und tändelten mit ihnen, brachten sie dazu, wie eine Katze zu schnurren, die, auf dem Rücken liegend, die Beine nach oben gestreckt, ihre Augen vor Wonne schließt. Und dann, ohne jede Vorwarnung, trommelte er ein wahres Gewitter zusammen, trieb es über alle drei Oktaven des Instruments hinauf und hinunter, schlug Wirbel von solcher Geschwindigkeit, dass seine hin und her jagenden Hände einem vor den Augen verschwammen und dabei glitzernde Gitter von Tönen und verschachtelte rhythmische Origami-Strukturen erschufen.
Ravan hatte jedes Zeitbewusstsein verloren und war überrascht festzustellen, dass sie die St. Sebastian's School schon lange hinter sich gelassen hatten und jetzt auf Höhe der Our Lady of Gloria Church waren. Wie üblich, kam der Hochzeitsumzug nur stockend und schleppend voran. Je mehr Zeit sie brauchten, um die Laxmi Baug Hall zu erreichen, sagte sich Ravan, desto besser: Er würde länger spielen können und das war alles, was zählte.
Es war Ravans Tag, in jeder Beziehung. Zumindest hätte er es werden sollen. Doch sein Herz schien plötzlich vom Spiel abzuschweifen. Er meinte, eine Frau zu sehen, die gerade vom Gemüsegroßmarkt von Byculla zurückkam. Sie trug mehrere Jutetaschen, die von Blumenkohl, Spinat, Kohlköpfen, Auberginen und Kürbissen überquollen, und versuchte, sich durch den Hochzeitsumzug auf die andere Straßenseite zu schlängeln. Dann war sie verschwunden. Er hatte sich offenbar getäuscht; er bearbeitete schon wieder das Xylophon mit ganzer Kraft, da stand sie plötzlich vor ihm. Navare versuchte sie wegzuscheuchen, aber sie achtete nicht auf ihn.
"Wir sprechen uns zu Hause, Ravan", sagte Parvati-bai leise und wandte sich ab. Ravan hörte mitten im Stück auf und wollte ihr schon kleinlaut folgen, doch sie drehte sich noch einmal um. "Nicht bevor du deinen Auftrag erledigt hast. Du lässt deine Freunde nicht im Stich!"
Shankar-rao hatte mit mehr als nur einem Hauch von Schadenfreude gekeckert, als Ravan an dem Abend heimgekommen war. "Einen prächtigen Sohn hast du da großgezogen! Fällt bei der Abschlussprüfung durch und bringt auch sonst nichts zustande. Aber was hätte man von ihm auch erwarten können, nachdem du ihn nach einem Dämonenkönig umgetauft hast? Der wird schon ein richtiger Held werden, unser Ravan, und seiner Familie Ehre machen, dieser Nichtsnutz!" Parvati-bai ignorierte seine Sticheleien, und Ravan war viel zu verschüchtert, um auf die Bemerkungen seines Vaters zu achten. Der Himmel war im Begriff, ihm auf den Kopf zu fallen - auch wenn Ravan nicht ganz sicher war, wie seine Strafe konkret ausfallen würde. Würde seine Mutter ihn verdreschen? Würde sie ihm die Beine brechen? Würde sie ihn endgültig und unwiderruflich aus dem Haus jagen?
Parvati-bai servierte ihrem Sohn und ihrem Mann das Abendessen, spülte das Geschirr, wickelte die Mungbohnen in ein feuchtes Tuch, damit sie bis zum nächsten Morgen keimen würden, putzte sich die Zähne und legte sich schlafen.Was war mit seiner Mutter passiert? Baute sie allmählich ab? Hatte das nahende mittlere Alter sie mürbe gemacht? Sie war von jeher eine nüchterne Frau gewesen und sie hatte eine krankhafte Aversion gegen Lügen, insbesondere wenn deren Urheber ihr einziger Sohn war. Normalerweise hätte sie ihm längst den Schädel eingeschlagen. Doch Ravan klagte nicht. Er war nicht der Typ, der einem geschenkten Gaul ins Maul schaute.
Das Gewitter war vorübergezogen. Er hatte sich völlig grundlos Sorgen gemacht. Ja, es hatte überhaupt kein Gewitter gegeben. Vielleicht hatte seine Mutter ein Einsehen gehabt, und er konnte weiter in der Band spielen. Er schlief den Schlaf des Gerechten, beziehungsweise desjenigen, der kalt erwischt worden war und trotzdem ungeschoren davonkam.
Am nächsten Morgen hatte Parvati-bai ihn mit ihrem Ultimatum geweckt: "Schluss mit der Gratisverpflegung, Ravan! Wer nichts verdient, kriegt nichts zu essen!"
An dem Abend sprach Parvati-bai noch einmal mit ihm. "Hier", sagte sie und drückte ihm zwei Blätter in die Hand. "Das eine ist eine Anfänger-Fahrerlaubnis, und das andere ist die Quittung der Bombay Scientific Driving School für im Voraus bezahlte Gebühren. In fünf Monaten besorgen die dir eine Stelle als Taxifahrer. Was du mit deiner Freizeit anstellst, ist deine Sache, aber schwänz keine einzige Unterrichtsstunde, Ravan. Falls doch, kannst du dich entschuldigen, so viel du willst, aber dann hast du kein Zuhause mehr."

Mit freundlicher Genehmigung des A1 Verlags.

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