Vorgeblättert

Leseprobe zu Katie Arnold-Ratliff: Was uns bleibt. Teil 2

16.01.2012.
Ich ließ den Motor im Leerlauf und schloss erschöpft die Augen. Ich konnte dasBild abrufen - das abstoßendste, magnetischste Ding, das ich je gesehen hatte. Und es war eindeutig ein Ding, nicht länger menschlich. Die Grundform existierte noch, hatte sich aber verschoben, wie ein Auto mit Totalschaden. Die Haut war von innen geplatzt, wie der Asphalt nach einem Erdbeben. Die Farbe sah nicht mehr nach Fleisch aus, sondern grünschwarz wie die Haut eines Krokodils, die Gesichtszüge waren zu einer aufgeblasenen Maske geschwollen. Es hatte fast keine Haare mehr, die verbliebenen sahen blass und ausgebleicht aus, fast weiß, abgesehen von wenigen rot-orange farbenen Strähnen, die auf dem von schwirrenden Fliegen bedeckten Sand ausgebreitet lagen. Die Haut war von Wunden übersät, überall. Die fehlenden Gliedmaßen waren nicht sauber abgetrennt worden, die Gelenke zeigten Riss spuren: Irgendeine Kreatur oder ein Felsen oder Sog hatte daran gezerrt, bis Arme und Beine sich lösten.
     Ich stieg aus dem Wagen, die Scheinwerfer beschienen den Weg und die Veranda. Die Außenlampe des Nachbarhauses ging flackernd an, ein Vorhang bewegte sich. Ich kniete mich hin und bog die Äste des Busches neben der Veranda auseinander. Die Minibarflaschen schimmerten im schwachen Schein der Straßenlaternen. Ihre papierenen Etiketten waren zerfasert. Ich hatte immer noch einen Schlüssel. Ich hielt ihn fest, die Hand in der Tasche.
     Ich drückte die Stirn und die Hände an das Fenster in der Haustür und spähte hinein. Im Eingangsbereich lag Post auf dem Boden verstreut. Ich befingerte unsicher den Schlüssel. Das Licht im Aquarium war an, es war am Ende des Flurs im Wohnzimmer zu sehen, das Glas dreckig und grün. Ich legte eine Hand auf das Verandageländer, um mich festzuhalten. Die Eltern würden genauere Antworten hören wollen, würden sich im Laufe des Wochenendes weitere Fragen ausdenken. Auch die Kinder würden Vergewisserung brauchen. Es würde nicht mehr möglich sein, etwas schönzufärben, gönnerhafte Phrasen von sich zu geben. Ich ging die Stufen wieder hinunter, stieg in mein Auto und fuhr aus der Stadt, nach Hause.

Greta kaute an einem Fingernagel, als ich hereinkam. Ich sah auf die Uhr und hatte, schon als ich den Blick abwandte, wieder vergessen, wie spät es war.
     Es ist zwei Stunden her, dass wir gesprochen haben. Ihr Ärger wucherte um die Worte herum wie ein Schwamm. Sie betrachtete mein verschmiertes, gerötetes Gesicht und bekam Mitleid. Frank, sagte sie sanft.
     Ich weiß, sagte ich. Tut mir leid.
     Ich ging in die Küche und holte unsere einzige Flasche Alkohol: Gewürzrum, den wir für die Ferien über dem Kühlschrank lagerten. Ich angelte schales Ginger Ale aus dem Kühlfach und mixte beides in einem Kaffeebecher.
     Sie folgte mir. Willst du mir erzählen, was passiert ist?
     Ich schüttelte den Kopf.
     Bitte, sagte sie.
     Wir waren auf der Brücke, und wir haben eine Frau springen sehen, sagte ich. Der Motor des Kühlschranks schaltete um, ein mahlendes Geräusch. Sie hat sich einfach runtergestürzt, niemand konnte sie aufhalten.
Oh Gott.

Es hätte sie niemand aufhalten können.
Wie alt war sie?

Ich kippte den Drink runter und goss mir noch einen ein.
So alt wie wir, sagte ich.

Die Schulden hatten uns altern lassen. Wir waren in unseren frühen Zwanzigern und auf eine Weise arm, die sich anfühlte, als steckten wir in feinem Puder fest. Wir kundschafteten Geldautomaten aus, die Zehn-Dollar-Noten ausgaben, weil wir keine zwanzig auf dem Konto hatten; wir führten Buch darüber, was wir Gretas Tante Janine schuldeten, selbst als wir uns noch mehr liehen. In San Francisco zu leben wäre finanziell unmöglich gewesen, also ließen wir uns nach meinem Examen in Vallejo nieder, einem schmutzigen East-Bay-Vorort an der Interstate 80: eher eine Aneinanderreihung halb ausgestorbener Shoppingmeilen als eine Stadt. Greta fand für uns eine Dreizimmerwohnung in einem Mietshaus, die wir uns nicht leisten konnten, aber trotzdem nahmen, und wir machten uns daran, unseren Kredit aufzubrauchen. Ich dachte, dass Erwachsene das so machten: Sie kauften Bücherregale, die gefüllt werden wollten, stellten vier Stühle um einen Esstisch herum, obwohl sie nie Gäste hatten. Als wir unseren Kredit sechs Monate lang nicht bedient hatten, begannen wir damit, unsere Autos auf einem 7-Eleven-Parkplatz abzustellen, damit sie nicht beschlagnahmt wurden. Wir dachten nie daran, eins zu verkaufen, anders zu leben. Wenn wir uns schon kein komfortables Leben leisten konnten, wollten wir wenigstens eins, das Ähnlichkeit damit hatte.

     Obwohl wir nur zu zweit waren, war die Wohnung nicht groß genug. Trotz des zusätzlichen Schlafzimmers verstopften unsere Besitztümer das Haus. Um sich vorwärtszubewegen, musste man sich seitwärtswenden. Und wegen unserer Schlampigkeit machte alles noch weniger her: Über dem Herd befanden sich winzige Flecken - zu energisch umgerührte Tomatensoße, die nie abgewischt worden war -, und dort, wo Wand und Fußboden aufeinandertrafen, waren schmutzige Streifen zu sehen, die langsam verkrusteten. Greta brachte ihre Ausbeute aus Gebrauchtwarenläden und von Antiquitätenmärkten mit nach Hause. Für mich änderte das Alter nichts am Status eines Gegenstandes - war er 1965 Plunder gewesen, würde er auch noch in hundert Jahren Plunder sein. Aber hier stand die Büste eines Mädchens, das Kinn in der Hand; dort ein einzelnes Stück orangefarben gestreiftes Porzellan. Diese Dinge wurden in unserem Haus ausgestellt, als ändere ein Ehrenplatz etwas an ihrer Wertlosigkeit.
     Die zwei Schlafzimmer lagen an den entgegengesetzten Enden des Flurs. Unser Schlafzimmer war zwar das kleinere von beiden, bekam aber viel Sonnenlicht. Vor den beiden Fenstern des anderen Schlafzimmers standen Bäume, wodurch es sogar im Sommer dunkel und kühl blieb. Wenn die Rollläden hochgezogen waren, fiel das Licht auf den Holzfußboden. Es war friedlich, heiter. Dieses Zimmer ist perfekt, hatte Greta gesagt, als wir auspackten, um es als Kinderzimmer -
     Ich weiß noch, dass das Telefon klingelte, während sie sprach, und dass ich hinlief, erleichtert, den Anruf annehmen zu können, ehe sie ihren Satz beendet hatte.

Und trotz alledem - trotz der scharfen Worte, des Ärgers um den Haushalt, der Momente, in denen wir uns gegenseitig so abstießen, als wäre der andere ein aufdringlicher Übernachtungsgast - liebte ich sie. Greta war meine erste Freundin, mit ihr hatte ich den ersten Sex. Mit ihr zusammen zu sein war, als läge man in warmem Badewasser. Sie brachte mich zum Lachen; sie ließ mich die meiste Zeit in Ruhe; sie war klug, nett und unkompliziert; sie nahm niemandem sein Glück übel, nur sich selbst. Am Anfang betrachtete ich sie oft mit einem Gefühl, das ich nicht richtig benennen konnte - ein Gefühl, als brauche sie meinen Schutz, als solle ich unsere gemeinsame Last für sie tragen, als solle ich derjenige sein, der uns führte. Ich dachte damals, das wäre Aufmerksamkeit. Jetzt weiß ich, dass der Begriff für das, was ich gerade beschrieben habe, Herablassung ist.
     Es lag nie daran, dass ich sie nicht liebte. Es lag daran, dass ich sie, von Anfang an, auf die falsche Weise liebte; die Motive waren falsch, wurzelten in Höflichkeit, angenehmer Kameradschaft, Ungleichheit. Es lag daran, dass ich sie verkehrt liebte und sie mich ließ. Sie setzte keine Grenzen. Sie blaffte vielleicht mal zurück, aber ihr innerster Impuls war es zu verzeihen. Menschen, die schwach sind, so wie Greta schwach war - und das meine ich nicht böse, nur ehrlich -, sind für Leute wie mich eine Bewährungsprobe; ich habe mich oft gefragt, ob sie meine Grausamkeit herausforderte, um zu sehen, was für ein Mann ich war. Ich vermute, das habe ich ihr gezeigt.
     Kurz nachdem wir geheiratet hatten, sagte sie mal zu mir, Ich weiß, dass dies hier nicht das ist, was du mit deinem Leben vorhattest. Sie sah mir forschend in die Augen. Du kannst es mir sagen. Ich möchte, dass du es mir sagst, damit ich weiß, dass wir immer ehrlich miteinander sind.
     Ich sagte ihr, was sie bereits wusste: dass alles ganz anders gekommen war, als ich es geplant hatte. Dass wir nie wirklich irgendwas geplant hatten.
     Sie drehte sich zur Wand neben unserem Bett und schluchzte. Am Morgen stand sie auf, zog sich an und machte Eierkuchen und Speck. Guten Morgen, sagte sie am Tisch, lächelnd, mit Augen wie rosa Kissen.
     Von dem Moment an, als wir uns kennenlernten, lud sie mich unbewusst ein, sie zu verletzen. In kürzerer Zeit, als ich zugeben mag, wurde es zu einer Herausforderung, diese Einladung nicht anzunehmen.

zu Teil 3
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