Vorgeblättert

Leseprobe zu Katharina Hacker: Eine Dorfgeschichte. Teil 2

26.09.2011.
DER KORBFLECHTER spielte die Orgel. Er hatte den Schlüssel zur Kirche wie der Pfarrer, der in einem anderen Dorf wohnte. Er spielte zum Gottesdienst. Die Schlüssel hatte er, weil er üben musste. Wenn er nicht schlafen konnte, übte er nachts, er schloss hinter sich die Tür ab, im Sommer schloss er auch die Fenster, man hörte kaum einen Ton.

Er war im Dorf geboren, war fortgegangen, und blind war er zurückgekommen. Wie er erblindet war, sagte er nicht. Zurückgekommen war er nach dem Krieg, viele waren gekommen, Flüchtlinge, ein paar davon blieben, sie heirateten, das heißt, sie heirateten ein und bekamen ein Stück von dem, was da war. Ungerne gab man ihnen ab, und immer redeten sie ein wenig falsch, wie lange sie auch blieben, nie die Kirchzeller Sprach wie alle anderen. Der Korbflechter sprach richtig. Dicklich war er fortgegangen, schmal kam er zurück, nicht abgehärmt wie die richtigen Flüchtlinge, aber schmal. Wann er das Orgelspielen gelernt hatte, wusste keiner.

Dass er blind war, merkte man nur, wo etwas anders war als früher. Kannte er sich aus, bewegte er sich geschmeidig wie jeder, der sah. Die Flüchtlinge erkannte er nicht, ihre Stimmen behielt er nur mühsam, die Namen, wo sie wohnten, ob sie blieben oder weiter mussten. War eine neue Scheune gebaut oder ein Haus, stieß er sich und tat sich weh.

Dann fing er mit den Körben an. Das brachte ihm ein Flüchtling bei aus Böhmen, älter als er, sie sprach fast nichts. Sie führte ihm die Hand. Sie führte ihn auch in den Wald und brachte ihm bei, die Stecken zu schneiden. Sie galten als Paar, das sie nie wurden. Wie wird man ein Paar?, fragte Frederik, wenn einer aus dem Dorf von den beiden erzählte.

Der Korbflechter zog in das Haus an der Straßenbiegung, da, wo die Seitenstraße abzweigt, aus dem Dorf heraus, zum Friedhof, zur Hainbuche, zu den Drei Seen. Unten war ein Fenster, im Fenster saß er, flocht Körbe. Als ich ein kleines Mädchen war, flocht er kleine Körbe, die Körbe wurden größer.

Gut spielte er die Orgel nicht, aber er hatte eine Stimme, verkündete mein Vater, der von Musik etwas verstand und Ehrenmitglied im Musikverein war, nach jedem Gottesdienst. Was ist eine Stimme?, fragte ich meine Großmutter, und meine Großmutter sagte, man hört, dass er eine Seele hat. Haben wir auch eine Seele?, fragte ich, aber so leise, dass sie es nicht hören konnte, ich weiß bis heute nicht, was sie geantwortet hätte, und jetzt ist sie lange tot. Der Korbflechter ist auch lange tot.

Er lernte so geschickt, Körbe zu flechten, dass seine Körbe immer größer und immer kleiner wurden, er lernte, Stühle für Puppenstuben zu flechten und Betten. Eigentlich war er berühmt, denn aus den umliegenden Dörfern und selbst aus der Stadt kamen zu ihm die Leute mit ihren Wünschen für Weihnachts- oder Geburtstagsgeschenke, auch Osterkörbchen flocht er und zu Erntedank große Teller und flache Körbe für Obst und Getreide. Auf den Märkten und Kirchweihfesten der umliegenden Gemeinden hatte er einen Stand, einer fuhr ihn immer, ihn und seine Körbe, fuhr ihn, damit er sein Geld verdienen konnte. Manchmal musste er abends lange warten, bis er wieder abgeholt wurde, und einmal, erzählte man im Dorf, vergaßen sie ihn, da saß er die ganze Nacht bis zum Morgen hinter seinen Körben.

Fürs Orgelspielen nahm er von der Gemeinde nichts. Aber er bestimmte, dass die, die ihm das Korbflechten beigebracht hatte, versorgt wurde. Sie bekam im Lehrerhaus ein Zimmer und zu essen, die Gemeindeschwester aus Kirchzell pflegtesie, als sie bettlägerig geworden war, die paar Tage zu ihrem Tod, und während sie starb, erzählte man im Dorf, spielte er ihre Lieb­lingslieder, die Kirchentür geöffnet, dass man es bis zu ihr hören konnte.

Wir fürchteten uns, wenn wir an seinem Fenster vorbei sollten, wechselten die Straßenseite, gingen rasch und ohne den Kopf zu wenden. Er hörte uns, das Fenster stand, wenn es nicht allzu kalt war, einen Spalt offen, manchmal streckte er die Hand hinaus, als wolle er uns, denn das Fenster lag etwas tiefer als die Straße, bei den Beinen packen. Er hörte uns und rief uns etwas zu, nicht freundlich und nicht unfreundlich, er nannte, wie im Dorf üblich, nicht unsere Namen, sondern unser Herkommen: Die aus der Schule, hießen wir oder: Die aus dem roten Haus, seit unser Haus rot gestrichen war.

Dann rief er mich plötzlich doch beim Namen. Meine Großmutter oder meine Mutter müssen ihm den einen oder anderen Korb abgekauft und von mir gesprochen haben, dass er mit einem Mal meinen Namen wusste. Er sagte den Namen, wie ich es nicht kannte, dass er schier Klang wurde, ein besonderer Klang, nicht aufmüpfig, aber hell und mutig, und wenn ich ihn meinen Namen sagen hörte, kam ich mir anders vor, wie aus einer Geschichte, geschwind und aufrichtig und klug, manchmal kam es mir vor, als habe er gar nicht an mir, nur an meinem Namen Gefallen gefunden. Er rief mich nicht zu sich, er rief bloß.

Ich war sieben oder acht Jahre alt. Wir trafen uns ein Mal auf der Straße, er ging ohne Stock, langsam, aber mit sicheren Schritten, grüßte mich. Wie er mich gehört haben konnte, weiß ich nicht, ich trug Turnschuhe und war fast lautlos. Ich gehe Orgel spielen, soll ich es dir zeigen? Wieder war seine Stimme sachlich, ohne eine Gemütsbewegung erkennen zu lassen, deswegen ging ich mit, ich wollte nicht so sachlich genannt werden. Dann bekam ich aber doch Angst, er wird es gemerkt haben, ging die Stufen zur Empore voraus, wartete nicht, fragte nicht mehr, ob ich mit hinauf käme, ich schlich hintendrein, setzte mich auf die Stufen und schaute von dort zu, wie er mit dem Instrument begann, schaudernd, ich hatte nicht gewusst, dass man mit den Füßen auch spielte. Er bewegte sich, wie ich nicht wusste, dass sich ein Mensch bewegen kann, und musste lachen, weil er wackelte, es war nicht anmutig, aber die Seele sah ich auch.

Als unsere Eltern nicht lange danach beim Essen sagten, der Korbflechter sei gestorben, konnte ich vor Schreck nichts sagen.

Hat er dir nicht neulich vorgespielt? fragte mich mein Vater. Ich nickte.

Später drängten sich meine Brüder um mich. Hat er was gesagt? fragte mein großer Bruder. Ist er jetzt wirklich tot? fragte mein kleiner Bruder, als müsste ich es am besten wissen.

Großvater war es, der sagte, nun erzähl? doch mal einer eine Geschichte! Und mein Vater stimmte zu. Es war, als müssten die Männer Geschichten hören, während sich die Frauen mit Sätzen begnügten, mit Sätzen, die keine weiteren Sätze im Schlepptau hatten. Beim Essen wurde immer geredet. Weil wir viele waren, sieben Leute, weil zufällige Gäste, hartnäckige Besucher sich dazu gesellten, redeten alle durcheinander, alle redeten. Die Sätze hatten oft kein Ende, man merkte sich einen Satz, vergaß einen anderen, die vergessenen tauchten wieder auf, die erinnerten verloren ihren Sinn. Mein Großvater verabscheute das Durcheinander.

zu Teil 3