Vorgeblättert

Leseprobe zu Katharina Hacker: Eine Dorfgeschichte. Teil 3

26.09.2011.
Am Ende gab es noch ein Pferd, eine Stute, bei ­Meixners auf dem Hof, hinten in der Scheune hatte sie ihre Box, neben dem Stier, den es auch noch gab, beide wurden verliehen, die Stute und der Stier, die Stute mit ihrem Zaumzeug, der Stier mit dem ­Nasenring. Das Pferd wurde im Wald gebraucht, wo er abschüssig war und die Wege schmal. Manchmal wurde gepflügt, ich weiß nicht, warum plötzlich das Pferd pflügen sollte statt eines Treckers, wir waren darüber froh, weil wir helfen durften, wir führten die Stute am Zügel, in gerader Linie, hin und her. Großmutter zuckte zusammen, wenn wir zurückkamen, nach Pferd riechend.

DER ABEND kam, es wurde leise, kein Hund bellte, eine Taube gurrte, im Wald hinterm Haus regte sich dies und das, Rehböcke, in der Stille hörte man, wie sie ihre Geweihe aneinanderschlugen, manchmal bellten sie, ja, sie bellten. Großmutter kam zur Gartentür und sagte, geh hinein, es ist Nacht. Sie sagte es, wenn der Abend zu sinken begann. Sie sah es, glaubte nicht, dass man sich in der Abendkühle erkälten werde, sie fürchtete sich vor den Tieren, sie mochte Tiere nicht. Manchmal, wenn meine Großeltern über Nacht blieben, saß sie da und zählte durch die geschlossenen Fenster die Tiere auf, die ihr einfielen, unangenehme Begegnungen allesamt, nichts war ihr unangenehmer als die Vorstellung, von ­einer Vogelfeder, einem Fell berührt zu werden. Sie mied, wo es sich machen ließ, die Namen der Tiere, es gibt, sagte sie, so viele Leute, über die keiner spricht, was soll ich über Tiere sprechen.

Als meine Großmutter noch lebte und wir klein waren, vermieden wir es ebenfalls, das Wort "Tier" oder Tier­namen auszusprechen, wir sagten stattdessen, das erste Geschöpf, das zweite Geschöpf, wir zählten, soweit wir zählen konnten. Wir waren klein, weit ging es nicht, die Zahlen waren unerreichbar wie die Tiere, mühsam buchstabierten wir die Ziffern zueinander, aber wir streckten uns, reckten die Köpfe, hielten einander an den Fingern fest, die Fußzehen nahmen wir zu Hilfe, gerieten ins Durcheinander, verhakten uns, rollten überein­ander, gerieten in Streit. Das fünfzehnte Geschöpf. Das fünfundzwanzigste Geschöpf.

Ihr Gesicht war angenehm, es blieb, was ihr auch begegnete, angenehm, sie verzog es nicht, nur wenn von den Nazis die Rede war und wenn einer von Tieren sprach. In ihrer Heimat hatte es, erzählte sie, auf dem Hof, über den Hof hinweg, dann rechts zu den Stallgebäuden, Tiere gegeben, hinter braunen, wettergebleichten Holztüren verborgen, in niedrigen Gebäuden, deren Ziegeldächer bewachsen waren mit Gräsern, Bäumchen, schiefen Schornsteinen. Es gab keine Ursache, keinen Grund, nicht einmal Sätze, nicht eine Geschichte. Nur diese Abneigung, wie ein Ekel, für den sie mein Großvater, der Hunde liebte, tadelte. Mitgeschöpfe sind es, sagte er und war empört. Seid nicht selbstgerecht!, mahnte er.

Geschöpf Neunzehn war ein Igel. Wir schleppten ihn ins Haus, er wäre sonst erfroren. Auch wenn sich ihr Gesicht verzog vor Unwohlsein und Ekel, stimmte sie zu, den Igel aufzunehmen, man ließ nichts sterben, nichts. Sie war sicherlich in weißen Strümpfen, mit weißer Schürze, in der Kleidung des kleinen Mädchens zum Eier­suchen geschickt, voller Entsetzen stehengeblieben, als die Hühner auf sie losrannten.

Ihre Gegenwart, hatte sie mir einmal gesagt, als sie schon alt und ich ein Kind war, ihre Gegenwart war gleich vorbei gewesen, der Hof gehörte, als sie ihn überquerte, schon in die Vergangenheit. Mit allen anderen wurden sie vertrieben, ein Köter wurde mitgenommen, ein alter Jagdhund besserer Zeiten. Wir losten, welche Zahl auf ihn, den Hund, der abmagerte, verrückt wurde, fallen sollte. Es war die Fünfundzwanzig. Da konnten wir längst zählen, so weit wir wollten.

An einem Abend erzählte meine Großmutter von ihrer Flucht. Es war der Abend, an dem sie von dem Hund ­redete, dem alten Hund, der Abend, an dem auf irgendeine Weise meine Großmutter starb. Der Rest war Zugabe, Höflichkeit, matter Gehorsam dem Körper gegenüber.

Ein Sommerabend, heiß, der auch spät nicht abkühlte, trotzdem einen klaren Himmel sehen ließ, erst lange dämmerig, dann schwarz und voller Sterne. Man konnte, an einem solchen Abend, nicht schlafen gehen. Wir ­waren vor dem Haus. Sie saß in einem Liegestuhl, dem längst das Fußteil fehlte, saß sehr aufrecht, anders nie, schaute zufrieden in den Himmel, war froh, dass sich kein Tier in unserer Nähe zeigte.

Den Igel aufzunehmen war ein Irrtum, obwohl es ihn rettete. Er rannte unruhig durch das Bad. Er stank, stank immer schlimmer. Die Stacheln wurden stumpf. Die Beine blieben mager. Er stemmte sich die Wand hinauf, fand nichts. Suchte in Ecken, in hintersten, fand Staub und Watte, die ihm auf den Stacheln spießte. Meine Großmutter quälte sich. Sie schnitt ihm Apfelschnitze, gab von den Salatblättern. Gestank war ihr verhasst. Der Igel war im ersten Stock.

Ein leichter Wind kam, brachte von den Wiesen angenehmen Duft, der Mond ging auf, man hatte nicht viel davon, noch war es hell. Sie bat um eine Decke.

Wir haben, trotz all der Sommer, die wir auf dem Land verbrachten, niemals den Himmel beobachtet, kannten nicht mehr als den Großen Bären, den wir für Großmutter nur Großen Wagen nannten, fanden den Abendstern, verstummten, liebten die Blumen, rochen sie in der Dunkelheit, Jasmin, zuweilen Rosen. Je-länger- je-lieber, das sagte meine Großmutter, zupfte die Blüten oder trockene Blättchen, erneuerte den Stock, band frische Fäden.

Sie wäre auf der Flucht gestorben, erzählte sie an jenem Abend. Sie rutschte vom Wagen, lag am Straßenrand. Der Hund war auf dem Wagen. Hund, sagte sie. Ein Hund. Er winselte. Er sprang hinunter. Er lief zu ihr, legte sich auf ihren Körper. Man sah sie, da er auf ihr lag und jaulte.

Sie roch, erzählte sie, Hundegeruch, das Fell - verfilzt, verdreckt. Einer hob sie auf, legte sie auf einen Karren, nahm sie mit. Ein Wunder, dass sie nicht erfror.

Ich brachte ihr die Decke. Es war noch warm. Im Gebüsch raschelte es. Sie verstand, ihre Ohren zu verschließen.

Der Hund war nicht Geschöpf Nummer eins, sie wusste auch nicht, welche Nummer er für uns tragen sollte. Auf seinem Rücken, sagte sie, habe etwas geschrieben gestanden. Sie konnte es nicht lesen. Sie erzählte, wie oft in Träumen auftauchte, was mit roter Farbe, wie mit einem Pinsel, auf seinen Rücken geschrieben stand und bis zur Flanke, sie sah den Schriftzug, sah im Traum deutlich fremde Buchstaben, konnte sie nicht erkennen, nicht entziffern, mit roter Farbe - wer schreibt mit Pinsel auf den Rücken eines Hundes? Die Tiere, sagte sie, als könnten sie dafür aufkommen, dass man die Menschen nicht zu hassen beginnt, die Tiere, gezählte Geschöpfe, ihr ­ Gesicht verzog sich nicht, wenn einer darauf kam, wie Tiere der Zahl nach geschlachtet wurden, sie schien es zufrieden zu sein.

Irgendjemand hatte also auf den Hund ein Wort geschrieben. Aber es war doch der alte Jagdhund?, fragten wir an diesem Abend. Ein verrückter Hund, vom Hof mitgekommen, von zu Hause mitgekommen. Der Hund hatte sie gerettet, sagte sie an jenem Abend, ein Tier.

Frederik, der vor allem Pferde mochte, wehrte sich. Ohne Zwei wärt ihr nie soweit gekommen, ohne Zwei hätte keiner den Karren ziehen können, auf dem du lagst. Ohne Hund und Pferd wärst du am Wegrand erfroren.

Vielleicht, weil sie, die wir über alles lieben, Tiere nicht mochte, redeten wirso oft über Tiere.

Im Scherz hatten wir begonnen, die Namen der Tiere zu vermeiden, es war längst Ernst. Mein kleiner Bruder kannte die Namen kaum, so oft hatten wir ihm unsere Zahlen vorgebetet. Igel - Geschöpf Nummer Neunzehn. Pferd - Geschöpf Nummer Zwei. Auf unserer Arche Noah aus Holz und mit Holztieren in Streichholzschachtelgröße riefen wir sie bei ihrer Zahl. Ein Hund war Geschöpf Nummer Fünfundzwanzig. Er sollte nicht an den Anfang. Er sollte nicht ans Ende. Er sollte in der Mitte bleiben. Geschöpf Nummer Fünfzig war das Chamäleon. Wir gerieten nicht durcheinander.

Sie sagte an dem Abend, der Hund stank, er stank nach Rauch. Er stank nach uns.

Was sind wir, sagten wir.

Der Hund, sagte sie, war nicht von zu Hause. Der Hund kam von einem anderen Flüchtlingszug.

Wir fragten: Was für ein anderer Flüchtlingszug?

Sie antwortete nichts.

Ich mag nicht mehr, sagte sie plötzlich. Von jedem Geschöpf ein Paar. Und Engel soll es keine geben. Dafür Tiere. Wer will da leben?

Guck mal, da ist ein Fünfundzwanzig, rief mein kleiner Bruder. Ein großer Hund tauchte still aus einem Schatten auf. Auf seinem Rücken stand etwas geschrieben.

Komm, stand da.

                                                   *

Mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlages(Copyright S. Fischer Verlag)

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