Vorgeblättert

Leseprobe zu Jean-Pierre Abraham: Der Leuchtturm. Teil 2

05.07.2010.
24. Dezember, 20 Uhr

Schlechtes Wetter. Ich werde nicht schlafen. Meine Schicht beginnt um Mitternacht. Martin wollte, dass ich früh zu Bett ginge, damit er in aller Heimlichkeit sein Weihnachtsmahl zubereiten könnte. Ich höre ihn oftmals an meiner Tür vorbeikommen - und verhülle das Lampenlicht, um ihm die Freude nicht zu verderben. Er sieht oben nach seinem Feuer, begibt sich wieder in die Küche. Mitunter höre ich dumpf das Klappern der Kochtöpfe.
     Die Kälte stürzte jäh in den Tag. Ich musste mir eine Decke über den Rücken schlagen, wollte ich ohne Zähneklappern sitzen bleiben. Die Stunden dieser Nachtwache werden kein Ende nehmen. An diesem Abend ist das Holzfeuer mein Licht.

21 Uhr. Mein Zimmer misst sechs Schritte. Mein Gott, frischt dieser Wind auf.
     Die Holzvertäfelungen zu lackieren fände ich abscheulich. Lack bringt keinen wahren Glanz hervor. Eines Tages alles abbeizen. Das wird eine langwierige Sache. Alles neu streichen (kalzinierte Umbra-Erde mit gekochtem Leinöl.) Doch wieviel Zeit wird vergehen, bis man den passenden Glanz findet?

Zu viele Erinnerungen. Darin besteht die gnadenlose Gefahr von Weihnachten. Ich will das nicht mehr. Lichter, Kerzen, Sterne, die kleine Laterne auf dem Weg zur Kirche, Lieder. Das Auge, vor dem alles verschwimmt, und das Herz, das sich wie neu fühlt, besten Dank! Du musst einen Schlussstrich ziehen. Es ist zu lange her. Und am darauffolgenden Morgen war stets alles vorbei.
     Eher sollte man jene Zeiten wiedererleben, denen es an Behaglichkeit mangelte. Einst lebte ich in einer Stadt im Ausland. Ein Patrizierhaus voll freundlicher (zahnloser) alter Jungfern. Es war sauber bis zum dritten Stock. Bis dorthin fuhr der Lift. Ich wohnte im vierten. Der Aufzugsschacht endete in meinem Zimmer; in der Wand klaffte eine Öffnung zum Nachölen der Rollen und Seile. Einen Monat lang also sitze ich in diesem Zimmer, sehe den Drehbewegungen der Seilrollen zu: vor, zurück, vor, zurück. Plötzlich geht es nicht mehr, ich nehme den Zug, das Schiff, treffe in Dun Laoghaire ein. Dublin. Zwei Tage ohne Essen. Zum Schlafen nur meinen schmierigen Regenmantel. Und dann all die Kerle mit Helm, die reglos, tatenlos in den Portalvorbauten standen und mich beobachteten. Als ich schlussendlich auf einer Parkbank zusammensank, hätte etwas Neues beginnen können. Ich war mir dessen nicht bewusst. Es war kalt. Februar. Ich hatte eine Adresse. Ich suche sie auf. Eine Wohnung voller Katzen. Eine vornehme Dame. Überall Katzenhaare. Katzenhaare auch in meiner Tasse Tee. Ein Kerl kommt daher, ein Maler; er lässt sich ausgerechnet auf den Backenknochen ein Büschel Barthaare sprießen. Ich suche das Weite, breche Richtung Westen auf. Zu leben beginnen heißt nach Westen aufbrechen, erneut jener unwirtlichen See begegnen, die noch stürmischer ist als diese hier; den von der Brandung plattgepeitschten Inseln, den leeren Blicken ganz in Weiß gekleideter Männer. Wo die Hügel nachhallten wie Trommeln im Wind. Einmal hat ein Schwarm Wildenten die Jagd auf mich eröffnet, was für ein großartiger Schreck! Den schmutzigen Regenmantel legte ich niemals ab. Haut und Knochen waren gut geschützt, ich kam überall durch, ohne Schramme.
In einer alten Bürgerstadt habe einen ganzen Tag mit Warten zugebracht, habe an einem feudalen Platz inmitten eines französischen Gartens herumgestanden, der Sonne und allen Blicken ausgesetzt. An einem der hundert Fenster des Prachtbaus saß eine weißhaarige Frau. Verweilte da regungslos, vom Morgen bis zum Abend. Der Rasen war leuchtend grün, und ich trug die gelbe Seemannsjacke!

22 Uhr. Die Freundin. Du hast sie seit langem nicht mehr gesehen. Nun steht sie wieder an ihrem Fenster, das Antlitz verwüstet, kaum wiederzuerkennen. Du winkst ihr lange zu. Sie antwortet mit äußerst knapper Geste, schließt unvermittelt das Fenster. Du denkst, sie würde herunterkommen. Wartest. Sie kommt nicht. Einen Augenblick lang glaubst du noch, ihr Gesicht hinter der Scheibe, hinter dem leicht wehenden Vorhang auszumachen. Du musst weiter. Sie niemals wiedergesehen. Sie ist gestorben.

Nun gut. Ich hatte noch Hunger und Durst und große Lust auf Schlaf. Das alles hat keinen Sinn. Es ist schrecklich, doch ich fürchte, der beschrittene Weg bringt mich nicht einmal soweit, alten Schmerz wachzurufen.

22.30 Uhr. Martin glaubt, ich schlafe. Er hat das Radio angestellt. Ganz leise höre ich - oder bilde ich es mir nur ein - Weihnachtslieder, Kinderstimmen. Das Meer schnellt bis zum Fenster hoch.
     Vermeers Perlen. Gut möglich, dass mich nichts auf der Welt tiefer berührt hat. Der Glanz der Perlen. Doch wozu? "Man kommt überhaupt nicht an Sie heran", sagt Marion, "außen sind Sie glatt wie eine Murmel, und in Ihrem Inneren völlig verklemmt. Sind Sie denn niemals außer sich geraten, geplatzt, haben Sie nie geweint?" Geht Sie das etwas an?

Die Bestürzung in den Gedichten von Reverdy. Mauern und nochmals Mauern. Man verspürt die leise Lust, einen Blick auf die andere Seite zu werfen, und ein noch größeres Bedürfnis, hier zu bleiben. Die Freunde gehen ihre Wege, heiraten, lassen sich häuslich nieder, leben ihr Leben. Du aber bleibst da vor deiner Mauer, deiner Lampe, vor einem Bildnis. Stets hast du den Eindruck, neue Geräusche zu vernehmen. Jemand kommt näher, immer näher. Rund um dieses eingebildete Geräusch lässt sich ein ganzes Leben bauen. Sich noch mehr abkapseln. Schweigen. Jeden Tag seines Lebens zur selben Stunde dieselben Dinge tun. Die Mönche. Sich auf Rituale verlassen, auf die Kälte, den Hunger und das heftige Verlangen, den Abstand zu verringern. Welchen Abstand?

23 Uhr. Ein Jahrhundertseegang? Die See attackiert mit bisher ungekannter Wucht. Sollte sie den Leuchtturm samt uns und den Kochtöpfen doch noch in einem allerletzten Satz hinwegfegen? Ist mir auch recht; habe ich aus meinem Leben eben nichts gemacht. Man muss schon abgebrüht sein, um keine Angst zu haben. Bin ich vielleicht an dem Tag gerettet, da ich wahre Angst empfinde?

23.30 Uhr. Irgendwann kann ich nicht einmal mehr über mich selbst lachen. Ich habe die Wolllappen und das braune Wachs aus meinem Schrank geholt. Habe meine Lampe auf den Boden gestellt und begonnen, das alte Pult einzulassen. Ganz langsam, mit wenig Wachs, zunächst in kreisenden Bewegungen, dann entlang der Holzmaserung. Sein Glanz ist erloschen. Doch gleich wird es erneut funkeln. Weihnachten in einem Stück Holz.
     Zu dieser Stunde brechen sie zur Mette auf.
     Meine Mutter lauscht dem Wind, ihr Lachen wird hörbarer. Niemand soll um ihre Ängste wissen. Die kenne nur ich. Sie scherzt mit den anderen, doch für sie ist das kein Freudenfest. Ich möchte nicht, dass sie an mich denkt. Das Gelächter und Gelärme, ja selbst der Klang der eigenen Stimme muss sie schmerzen. Der Lichterglanz in ihren Augen flackert leise. Noch nicht nachgeben, Mutter.

 
25. Dezember, 4 Uhr

Martin hatte in der Küche sämtliche Reservelampen angezündet. Er hatte ein Laken über den alten Tisch gebreitet, das gesamte Geschirr hervorgekramt. Er machte sich mit ernster Miene und Bedacht zu schaffen. Das Ohr dicht am Funkgerät, bekamen wir Bruchstücke der Weihnachtsmette aus der Kathedrale von Monaco zu hören. Orgelklänge. Eine Stimme: "Ihr Seeungeheuer und Tiefen der Meere, Feuer, Hagel, Schnee, Nebel, / du Sturmwind, der sein Wort vollzieht, / All ihr Berge und Hügel, Bäume, Zedern; / Ihr wilden Tiere und alles Vieh, / Kriechend Gewürm und gefiederte Vögel!, Lobet ihn ?"
Bei Tisch gingen wir betont höflich miteinander um. Martin war es gelungen, ein Omelett, Pommes frites und einen süßlichen Reiskuchen zuzubereiten. Und da ein Rest Rum blieb, versuchten wir zum Abschluss einen Pflaumentee zu kochen, wie es auf der Insel der Brauch ist. Er schmeckte nach Schwefel. Wir fühlten uns wohl. Nach dem endgültigen Verstummen des Radios griff ich zu meiner Mundharmonika und setzte das Programm fort. Gab die alten Melodien zum Besten. Martin bat mich mehrmals, das eine Seemannslied zu spielen? Während er mir zuhörte, nahm sein Gesicht seltsame Züge an.
     Wir vertrauten einander, wozu also viel reden? Wohl umgab uns allerlei Lichterglanz und eine schwache Wärme, die wir möglichst lange im Raum hielten. Doch über solch Verbindlichkeiten sind wir beide hinaus. Es genügt, sich dies einzugestehen, um sich auf bloße Andeutung hin zu verständigen.
     Martin ist zu Bett gegangen und ich in den Dienstraum, um diesem Morgen entgegenzusehen. Soeben wurde eine Flagge des Nebelhorns von einer Sturzwelle fortgerissen.
     Ich bin ganz ruhig. Für den Augenblick herrscht Waffenruhe. Die Schimmer sind in ihrer jetzigen Form wahrhaft unschuldig, von aufrichtiger Tiefe. Noch einmal empfinde ich die Gnade dieser Nacht. Ich habe das Buch über das Zisterzienserkloster heraufgebracht, beschreite das steinerne Gemäuer nun mit neuer Gelassenheit. Jahrelang sind da Menschen im Kreis gewandelt, treppauf, treppab, vom Schlafsaal zur Kirche, von der Kirche zum Kreuzgang, vom Kreuzgang in den Kapitelsaal, fern jedes vernünftigen Lebens. Wie Vieh. Zuletzt mussten sie auf ihren Wegen die geringste Veränderung der Luft, das zarteste Flackern auf den Mauern hingenommen haben, als wäre nichts gewesen.

Mich dünkt, ich hatte einst alle Voraussetzungen, die simple Zuversicht dieser Mönche zu erlangen. Was habe ich daraus gemacht? Ich bin mir sicher, dass sie dank ihrer Art, ungestalte Steine aneinanderzufügen, um darin das Licht einzufangen, es darin kreisen zu lassen, Gott schauten: sie zwangen ihn, seine Größe und Unergründlichkeit, sein unvermitteltes Antlitz zu offenbaren. Ihr Glaube war ohne Zuckerguss. Im Morgengrauen triumphierte der klare Geist.
     Und ich? Ich werde bei Anbruch des Tages noch zu müde sein, irgendetwas zu schauen; die Lider werden schwer sein, der Geschmack im Mund bitter. Meist ist am frühen Morgen alles verloren.
 
Teil 3