Vorgeblättert

Leseprobe zu Jean-Pierre Abraham: Der Leuchtturm. Teil 3

05.07.2010.
2. April

Martin war heute morgen fischen, ich habe beschlossen, im Treppenhaus einen Versuch zu unternehmen. Und zwar ganz oben, beim Eingang zum Maschinenraum. Ich habe den Verputz der Mauer mit einem spitzen Hammer eingeschlagen. Ich wollte rasch vorgehen. Wenigstens ein schöner Stein sollte ganz frei liegen, ehe Martin wieder hereinkam. Ich klopfte hastig darauf los, erschrak kurz wegen des Lärms und des Staubs; die Kalk- und Farbschichten platzten nacheinander ab; dass es so viele sind, hätte ich niemals geglaubt. Darunter bin ich auf einen äußerst harten Putz gestoßen. Er ist in irgendeiner Form mit dem Stein verschmolzen, ich schaffe es nicht, ihn vollständig zu entfernen.
     Ich habe nicht an die Luken gedacht. Die Quadersteine der Fensternische sind deutlich zu erkennen, sie waren nie übermalt. Ihr Feuer scheint mir mit einem Male unbestreitbar und sogleich von dem Fragment schmutzigen Steins bedroht, das ich eben freigelegt habe.
     Ich gebe auf, habe Martin alles erklärt. Er nimmt es gelassen: "Du machst deine Lehre." Andersrum gesagt, je mehr Tage vergehen, desto mehr Arbeit halse ich mir auf. Nun muss ich dieses hässliche Schandmal beseitigen.

Martin ist mit den Pfosten im Wachzimmer, dem Plafond im Maschinenraum fertiggeworden. Ich streiche die Motoren nach, eine trostlose Arbeit.
     Der Dienstraum ist jetzt schön. Das dunkle Grün der Pfeiler, die Messingteile und die dunklen Wandverkleidungen passen gut zueinander. Äußerst vornehm.
     Aber wenn es im Leuchtturm einen Ort gibt, an dem man Beherztheit braucht, dann ist es dieser hier.
     Je präziser und sorgfältiger man tagsüber die Arbeit ausführt, desto größer, denke ich, wird nachts die Freiheit sein.
     Im Moment verpatze ich alles. Ich wollte den Leuchtturm nach meiner Vorstellung umgestalten, nun bin ich außer Gefecht gesetzt. Alles verschließt sich wieder.

Heute Nacht sind die Holzvertäfelungen an der Reihe. Die ersten Stunden war es eisig. Das Geräusch meines Messers auf dem Holz störte mich. Ich hielt ständig inne, glaubte, das Knistern des Feuers klinge anders, vermeinte, draußen besondere Geräusche zu vernehmen. Ich trat auf die Galerie hinaus.
     Es war leichter Nebel aufgezogen. Nicht von der Dichte, die es nötig machte, das Nebelhorn anzustellen. Keine Meile vom Leuchtturm entfernt sah ich im Süden ein großes, hell erleuchtetes Schiff vorübergleiten.
     Eine Viertelstunde später ging ich abermals hinaus. Das Schiff war verschwunden. Der Nebel auch. Was sollen diese Geschichten?

Ich bin jetzt eingearbeitet. Behandle die Vertäfelungen sehr sanft. Verursache kaum Lärm. Ich störe nicht mehr. Die Zeit vergeht.
     Es stimmt, dass mir diese Arbeit Erleichterung verschafft. Dass sie mich beruhigt, könnte ich nicht sagen. Tief in mir verspüre ich heftige Regungen und zeitweilig, grundlos, das Aufkeimen jener Angst, die mir die Kehle zuschnürt. So ist es nun einmal.
     Nur ungern lege ich mein Messer nieder. Ich gehe auf die Galerie, wasche mir im Trog die Hände. Der Tag naht. Ich nehme mir Marions Zeichnungen vor.

6 Uhr.
Zu spät. Nichts hat sich geregt. Dennoch unterscheiden sich meine diversen nächtlichen Arbeiten nur unwesentlich voneinander. Ich sage das zu mir selbst. Noch stehen zu viele Mauern in mir.
     Vereinzelte Wörter, wie aufs Geratewohl entstanden. Und einander sogleich feindlich gesinnt. Nun ist Eile geboten. Die Leitern auf und ab, im Laufschritt, pausenlos. Nach unten hasten. Die Feuer anfachen. Doch der Morgen graut.

 
5. April

Allzu funkelnde Wörter verderben die ganze Arbeit. Dafür erstrahlen matte Worte, sobald man sie zusammenfügt, zuweilen in gemeinsamem Glanz. Ist das denn ratsam? Ich glaube nicht. Ich bin mir noch nicht schlüssig. Ich lasse mich zu rasch verleiten, um keine Zweifel aufkommen zu lassen. Ich bin dermaßen geizig! Es braucht seine Zeit, bis ein Wort an Deck kommt. Und noch um vieles länger, ehe man sich durchringt, wieder eines über Bord zu werfen.
Vom unteren Bereich jener Luke, neben der ich heute arbeitete, bekam man zeitweise einen klaren, meist aber trüben Horizont zu sehen. Mit dem Licht ändert sich auch der Arbeitsrhythmus. Weit ausholende Bewegungen für die großen Flächen, im Stehen, manchmal auf Zehenspitzen. Dann wieder am Stufenrand hocken und minuziös vorgehen. Es gilt, die Beziehung von Mauer und Stein absolut klar herauszuarbeiten; sich über die kleinen Unebenheiten der Wand hinwegzumogeln. Ich verliere die Geduld.

Ab und zu gehen wir hinab in die Küche. Um eine Zigarette zu drehen; zur Jausenwurst um zehn Uhr. Wir reden über die Arbeit, vom Fischen. Gestern hat Clet zwei schöne Lippfische gefangen. Ich begebe mich wieder hinauf; die Zeit ist vorgerückt, alle Bewegungen stimmen überein, ich komme voran.

Ich denke an die Art, wie Fischer ihre Schiffe steuern. Reden sie über möglichen Passagen durch den Raz de Sein, vermeine ich, sie ein dicht bewaldetes Gelände voll Unterholz beschreiben zu hören, das Treibpfade endlos zerteilen. Dorthin kannst du dich ohne ein Mindestmaß an Demut nicht vorwagen.

Die riesige Sonne am Abend.
     Der Kalk, der frisch aufgetragen noch grau und weich ist, scheint sich beim Trocknen zusammenzuziehen und wird weiß. Während er aushärtet, wird er ganz Licht.

Die Nacht. Die Klostergewölbe, die runden Mauern meines Treppenhauses.
     Kein Mörtel verbindet diese Steine. Sie halten durch ihr eigenes Gewicht. Die größten Blöcke hat man so lange aneinander gerieben, bis sie nahtlos zusammenpassten.
     Alles ist einfach. Ein kaum wahrnehmbarer innerer Befehl und die wunderbare Freiheit des Herzens. Kein Irrtum, kein sichtbares Zögern: der Geist, der dies ersonnen hat, ist völlig hinter sein Werk zurückgetreten.
     Und sie verwerteten selbst den kümmerlichsten Stein. Die unendliche Geduld, gepaart mit der Inspiration des Augenblicks.

Die Lampe leuchtet meine sonderbare Baustelle aus. Etwa die Hälfte der Holzvertäfelungen liegt nun frei. Das ist nicht mein Zuhause, nie mehr werde ich mich auf dieser Wachebank einrichten wie zuvor.
     Im Lichtkreis dieser nicht mir gehörenden Lampe nimmt das abgebeizte Holz einen wärmeren Farbton an.
     Ein heller Morgen kündigt sich an, obgleich es regnet. Der Westen wirkt ausgewaschen.

Dürfen wir unseren inneren Widerstand nicht einmal bei Anbruch des Tages aufgeben, zu einer Stunde, da alle Arbeit getan ist?

 
28. April

Der Regen hat unsere Arbeit unterbrochen. Den ganzen Tag lang trieben mit dem Westwind Schauer durch, dazwischen hellte es nur kurz auf. Ein zu unsicheres Wetter für den Außenanstrich.
     Wir haben die Zeit zum Reinigen und Aufräumen jener Kästen genützt, in welchen wir die Ersatzteile aufbewahren. In meiner Kammer lagern die Apparaturen für das Leuchtfeuer, in Martins Zimmer die Ersatzteile für Motoren und Sirene und in der Küche die Besen und Bürsten.

Wir verfügen über alle erdenklichen Sorten von Bürsten. Metallbürsten für bestimmte Steine, Bürsten aus Queckenwurzel für die Böden, Bäckerbürsten für den groben Staub und für den feinen solche, wie sie Versilberer verwenden. Letztere gebrauchen wir auch für die alten Hölzer.
     Die Kästen sind in jedem Zimmer ringsum an der Wand, knapp unter dem Plafond befestigt. Für diese Arbeit hocken wir auf Stühlen.

Hinsichtlich der Spinde in der Küche hat mir Martin eine schaurige Geschichte erzählt. Er selbst hatte sie von dem alten Leuchtturmwärter, an dessen Seite er gelernt hatte. Der Vorfall muss auf jene Zeit zurückgehen, da es im Leuchtturm gebrannt hatte. Damals gab es drei Wärter. Ein heftiger Streit hatte zwei von ihnen gegen den Dritten aufgebracht, worauf jener beschloss, sich zu rächen. Er wartete jenen Abend ab, da er an der Reihe war, das Essen zuzubereiten. Die beiden anderen waren in der Laterne mit dem Zünden des Feuers beschäftigt. Er ging nach unten, öffnete das Eingangstor, begab sich zurück in die Küche, klettere auf einen Stuhl und schaffte es, vermutlich nach einigen Verrenkungen, in den Kasten am Plafond zu schlüpfen, dessen Inneres keine Zwischenwand teilt. Mit Hilfe eines Besenstiels rückte er den Stuhl wieder an seinen Platz und schloss die Türflügel über sich. So konnte er, ohne dass ihm das Geringste entging, die wachsende Besorgnis seiner Kameraden verfolgen: wie der eine herunterkam, in der Küche die Runde machte, hierauf die Anlegestelle überprüfte und sodann in die Zimmer hocheilte; wie er den zweiten herbeirief, der oben geblieben war, um das Feuer zu überwachen; wie beide systematisch zu suchen, zu rufen, ja zu schreien begannen, zumal die Sorge mit einem Mal unerträglich geworden war; und wie sie endlich gezwungen waren, das Offensichtliche zur Kenntnis zu nehmen.
     Damals gab es noch keinen Funk. Die Nacht war bereits hereingebrochen. Zwecklos, die schwarze Fahne vor dem nächsten Tag zu hissen. Ohne jeden Zweifel war die Nachtwache schaurig. Und wie es sich nun einmal gehört, begannen die beiden Männer irgendwann, den Verschollenen zu loben. Dieser dürfte sich zu dem Zeitpunkt gerade weniger wohl gefühlt haben - im Grunde war er wohl wie gerädert -, muss die Türflügel aufgestoßen und mit gezwungenem Lachen gerufen haben: "Hört doch auf, ich bin ja hier!"
     Sie verziehen ihm nicht. Beim nächsten Schichtwechsel zeigten sie ihn an, und er wurde gefeuert.

In den Zimmern haben wir keine richtigen Schränke, um unsere Habe unterzubringen. Drei Türen, gleich jenen zum Treppenhaus, kaschieren in jedem Raum die Ablagen. Die wiederum sind so schmal, dass man kein Hemd ordentlich hinlegen kann. Dahinter verläuft die Mauer, deren Krümmung den Platz nochmals einschränkt. Die Feuchtigkeit der Steine ist aus diesen abgeschlossenen Bereichen nicht wegzubekommen. Besitzt man etwas Wertvolles, verwahrt man es besser in dem Holzkoffer, den man bei Schichtwechsel benutzt. So sind wir jederzeit zum Aufbruch bereit.

Martins Gesicht erstarrt. Rein zufällig habe ich mich an einem hermetisch verschlossenen Kästchen aus dunklem Holz vergriffen, das neben den Ersatzglühstrümpfen stand. Es enthält sämtliche Prismenteile, die im Lauf der Jahre durch unglückliche Bewegungen zu Bruch gegangen sind.
     Man trägt den Verlauf der Sprünge und Brüche in einem Verzeichnis ein, auf dessen Blättern die drei Kristallfeuer abgebildet sind, und notiert das jeweilige Datum des Vorfalls. Dass Martin diese Scherben aufbewahrte, wusste ich allerdings nicht. Beim Öffnen der Schachtel sah ich, wie sich darin vage Spiegelbilder bewegten. Blasse Vögel, die davonflogen! Martin war tiefrot angelaufen.

                                                   *

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Jung und Jung

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