Vorgeblättert

Leseprobe zu Jan Peter Bremer: Der amerikanische Investor. Teil 2

18.07.2011.
Vor gut zwei Monaten hatte die neue Hausverwaltung einen Statiker in ihre Wohnung kommen lassen, der die Absenkung des Küchen- und Badezimmerbodens bestätigte. Wäre die Wohnung ebenerdig, hätte sie diese Absenkung, die sie zuvor in einem förmlichen Brief bemängelt hatten, nur wenig befremdet. Sie jedoch lebten, mit zwei Kindern, in der obersten Etage eines vierstöckigen Mietshauses.
     Die meisten Räume ihrer großzügigen Altbauwohnung befanden sich im Vorderhaus. Nur Küche und Bad, sowie ein kleineres Zimmer lagen im Seitenflügel. Von diesem Seitenflügel führte ein Aufgang in den Hof hinab, den sie aber nur benutzten, wenn sie im Winter die Kohlen aus dem Keller hinauf brachten oder, was seltener vorkam, schwere Einkäufe direkt in die Küche transportierten.
     Ursprünglich waren alle Wohnungen des Vorderhauses mit diesem Seitenflügel verbunden gewesen. Irgendwann jedoch, vermutlich nach dem Krieg, waren in den anderen Wohnungen die einzelnen Teile separiert worden, so dass sie jetzt die einzigen Mieter im Vorderhaus waren die zusätzlich noch den Seitenflügel bewohnten.
     Schon als sie vor fünf Jahren in das Haus eingezogen waren, hatte die kleine Wohnung, die unter ihrem Seitenflügel lag, leer gestanden. Die alte Hausverwaltung hatte auch nie eine Anstrengung unternommen, diese Wohnung wieder zu vermieten. Vor etwa zehn Monaten aber hatte ihr Haus den Besitzer gewechselt. Aus einer "Mitteilung an die Mieter", die sie in ihrem Briefkasten vorfanden, hatten sie erfahren, dass ein amerikanischer Investor den gesamten Gebäudekomplex aufgekauft hatte. Zu diesem Gebäudekomplex zählten, außer dem Haus, in dem sie wohnten, noch zwei angrenzende Vorderhäuser und eine vielfache Anzahl von Hof- und Gewerbegebäuden. Bald darauf wurde eine neue Hausverwaltung eingesetzt und seitdem wuselten im ganzen Areal Handwerker herum. Auch aus der kleinen, unter ihrem Seitenflügel gelegenen Wohnung, drang eines Morgens ein energisches Hämmern in ihre Küche. Ein alter Teppich und ein verkrusteter Herd wurden hinab gebracht und dafür neue Türen und Fenster hinauf. Doch ebenso plötzlich, wie die Arbeiten begonnen hatten, hatten sie auch wieder geendet und als er ein paar Tage später zu der Wohnung hinab stieg, da erstaunte ihn nicht allein, dass sie sperrangelweit offen stand und dort, wo vorher Wände teilten, jetzt rostige Rohre im nur noch vereinzelten Mauerwerk freistanden, sondern auch, dass die Böden aufgestemmt waren und von der Decke das Stroh bis in die Mitte der Räume herab hing. Was ihn jedoch am meisten erstaunte war, das inmitten dieses Chaos wie achtlos fallen gelassen und bereits völlig verstaubt die neuen Türen und Fenster herumlagen. Noch am gleichen Tag trat er zu einem der Handwerker vor, der jetzt mit etwas anderem im Hof beschäftigt war, und fragte ihn, wann und wie die Arbeiten in der Wohnung fortgesetzt würden. Der Handwerker sah ihn für einen Moment verständnislos an. Dann sagte er, dass er diese Wohnung so lange ihm sein Genick lieb sei nicht wieder betreten werde. So verrottet seien die Balken, fuhr er fort und bog seine Finger zur Kralle, mit den bloßen Händen könnte man sie ausgraben. Es sei ein regelrechtes Wunder, dass er sich morgens noch als gesunden Menschen im Spiegel betrachten dürfe.
     Kurze Zeit später taten sich dann die ersten Risse in den Wänden ihrer Küche auf, sank die Badewanne zu einer Seite hinab, konnte man ein Spielzeugauto, ohne seinem Antrieb nachzuhelfen, über den Boden, von einer Wand, zur anderen rollen lassen. Wie plötzlich betrunken schien das Gebäude seinen Halt verloren zu haben.
     Dass von der Absenkung der Böden tatsächlich eine gewisse Gefahr ausgehe, bestätigte der Statiker aber nicht nur ihnen, sondern auch dem Bauleiter, der bei dem Besuch in ihrer Wohnung ebenfalls zugegen war und dem Statiker wiederum versicherte, keine der Wände, die sie aus der unteren Wohnung geschlagen hätten, sei eine tragende. Das sei doch ganz egal, hatte der Statiker ihm entschieden geantwortet. In einem so alten und seit Jahrzehnten nicht mehr gewarteten Gemäuer, fuhr er in etwa fort, gibt es keine tragenden und nicht tragenden Wände, sondern es stützt sich irgendwann alles auf jedes. Dann müsse er jetzt wohl mit der Hausverwaltung sprechen, hatte der Bauleiter darauf gesagt und mit einem kräftigen Händedruck verabschiedeten sich die Herren.

Wenige Tage später meldete sich bei ihnen per Telefon eine Dame von der Hausverwaltung und kündigte ihren Besuch an.
     Kaum eingetreten sagte sie, dass der Statiker die Lage doch recht übertrieben habe und dass die Befürchtung, sie könnten plötzlich abstürzen, abwegig sei. Außerdem würde die Hausverwaltung jetzt noch einen tragenden Balken in die untere Wohnung stellen, der die Decke zusätzlich abstützen würde. Von daher bestehe dann also keine Gefahr mehr. Trotzdem sei das auf die Dauer natürlich kein ganz wünschenswerter Zustand, nur müssten sie natürlich auch Verständnis dafür haben, dass es sich von Seiten der Hausverwaltung, überhaupt nur lohne, den Schaden zu beheben, wenn auch der vordere Teil der Wohnung modernisiert werden würde, was in etwa, aber viel genauer könne sie es bisher leider noch nicht sagen, auf eine Verdopplung der Kaltmiete hinauslaufen werde. Das sei dann noch immer ein Preis, der sich im üblichen Rahmen halte. Würden sie sich aber, aus finanziellen Gründen zum Beispiel, lieber dafür entscheiden sich eine neue Wohnung zu suchen, so könne sie sich durchaus vorstellen, dass sich die Hausverwaltung an den Umzugskosten beteiligen würde. Eigentlich mehr aus einer ihr innewohnenden Neugierde hätte sie im Internet bereits nach einer passenden Wohnung für sie gesucht und sei dabei auf eine viel versprechende Anzeige gestoßen. Mit diesen Worten legte sie einen Ausdruck vor sie hin. Es handelte sich, wie aus dem Ausdruck hervorging, um eine Dreizimmerwohnung in einer äußerst belebten Straße. Die Wohnung lag im ersten Stock und sowohl Kinder wie auch Tiere waren unerwünscht. Während er noch immer auf den Ausdruck starrte, versicherte seine Frau der Dame von der Hausverwaltung in ungewohnt strengen Ton, dass sie in keinem Fall aus dieser Wohnung auszuziehen werde, dass auch die Absenkung der Böden überhaupt nicht ihr Problem sei, dass sie und ihre Familie bisher immer gute Mieter gewesen seien und das sie alles daran setzen werde, die Kinder hier und nirgends sonst heranwachsen zu sehen. Die Dame von Hausverwaltung nahm diese glühende Rede ohne größere Regung auf, ordnete ihre Unterlagen, steckte sie in die Tasche zurück und indem sie sich zum Abschied erhob, sagte sie, dass sie diese Sicht zwar nicht teile, aber verstehen könne und nun erst mal alle in Ruhe nachdenken müssten.

Da sei gar nicht viel nachzudenken, sagte der junge Anwalt von der Mieterberatung, nachdem er ihm den Fall geschildert hatte und setzte sich, um fortzufahren, auf dem zu kleinen Stuhl auf.

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