Vorgeblättert

Leseprobe zu Jan Peter Bremer: Der amerikanische Investor. Teil 1

18.07.2011.
Der Streit letzte Nacht war heftig gewesen, und als seine Frau am Morgen die Wohnung verlassen hatte, lag er noch wie betäubt in seinem Bett. Nicht einmal ihre morgendlich schweren Schritte hatte er vernommen. Vermutlich war es die seit Wochen anhaltende Hitze, die ihn erschöpfte. Oder hatte ihn dieser Streit doch stärker angegriffen?
     Er sah auf die weiße Wand, vor der sein Tisch stand. So schlimm war dieser Streit gar nicht gewesen und auf keinen Fall würde dieser Streit ihn davon abhalten können, sich gleich, mit gesammelter Kraft, in die Arbeit zu stürzen.
     Er nickte und schloss die Augen. Den Kopf willensstark nach vorn gestreckt, geduckt, die braungebrannten Füße wie auf das Brett geklebt, so würde er heute mit seinem Stift durch die Seiten seines Notizbuches reiten, ein Surfer mit stahlblauen Augen in stetem Wirbel zwischen Himmel und Meer.
     Wieder sah er auf die nackte Wand. Hatte er dieses Bild nicht schon gestern zur gleichen Stunde vor Augen gehabt und handelte es sich bei diesem Bild nicht sogar um eines der Fotobildchen, die sich sein Sohn vor kurzem aus einer Zeitschrift ausgeschnitten und mit Tesafilm über seinem Bett angebracht hatte? Das gelbe Surfbrett, der gesunde und kräftige Körper, die wilde, vom Salzwasser verklebte blonde Mähne.
     Er sah auf sein Notizbuch hinab. Heute war nicht gestern. Heute war ein anderer Tag. Heute hatte er doch bereits einen Satz im Kopf gehabt, den er sich unbedingt notieren wollte. Einen fassbaren Satz, der einen tiefen Eindruck in ihm hinterlassen hatte. Nur, wo war dieser Satz jetzt hin und was wurde in ihm erörtert? Hatte er diesen Satz selbst, aus eigener Kraft, geformt oder hatte er ihn aus einem fremden Mund empfangen?
     Mit den Fingerknöcheln begann er sich gleichförmig gegen die Stirn zu klopfen. Wo war ihm dieser Satz begegnet? Er musste den Tag noch einmal von vorn durchgehen. Das Frühstück, eine Banane, hatte er in seinem Sessel zu sich genommen und dann? ... Er hatte den Ball eingesteckt und war mit dem Hund in den Park spaziert. Wie an allen diesen anderen heißen Vormittagen hatte er auch heute den Ball in den künstlichen Wasserlauf geworfen, der den steilen Hang des Parks hinab fließt. Anstatt den Ball jedoch zu ihm zurückzubringen, wie sonst, war der Hund auf der anderen Seite des Ufers an Land gewatet. In unmittelbarer Nähe von leicht bekleideten Menschen, die erschreckt zur Seite wichen, hatte er sich seine Nässe aus dem Fell geschüttelt und dann hatte er mit einer übermütigen Bewegung des Kopfes den Ball in die Luft geworfen und war ihm den Hang hinab hinterher getobt.
     Wieder fühlte er den Ärger des Vormittags in seinem Gesicht aufflammen und sah unter seinen Schreibtisch, wo der Hund lang ausgestreckt auf dem Bauch lag. Warum hob der Hund nicht den Kopf, wenn er zu ihm hinabschaute? Warum zuckte er nicht einmal mit den Augenlidern. Was war nur los mit dem Hund? Das hatte er sich schon im Park gefragt. Mehrmals hatte er ihn, nachdem auch er den Wasserlauf an einer schmalen Stelle überquert hatte, rufen müssen und als der Hund dann endlich zu ihm zurück getrottet kam, da hatte er den Ball nicht mehr bei sich.
     Er lehnte sich zurück. Es kam ja gar nicht so selten vor, dass der Hund im Park seinen Ball versteckte oder verlegte. Nur entfesselte dann die Frage: "Wo ist der Ball?" bei ihm die allergrößte Lebhaftigkeit und im Nu kam er wieder von irgendwoher mit dem Ball im Maul angesprungen. Heute jedoch, ganz gleich wie er ihm die Frage gestellt hatte, ob er sie geflüstert, gezischt, gesäuselt oder mit spitzen Lippen vor sich hin geflötet hatte, schien sie dem Hund jedes Mal nur noch fremder geworden zu sein. Als würde gar nicht zu ihm gesprochen, mehr noch, als hätte ihn jeglicher Mut verlassen, hatte er seinen Kopf gesenkt und begonnen mit einer Gleichgültigkeit, die seinem sonstigen Wesen zuwider lief, an einem Grashalm herum zu knabbern.
     Er holte tief Luft. Vermutlich war es die Gleichgültigkeit des Hundes, die ihn dazu bewegt hatte, mit dieser Entschiedenheit nach dem Ball zu suchen. In jedes Gebüsch im näheren Umkreis war er mehrfach hineingekrochen, hatte irgendwann sogar angefangen Steine zu wenden und immer wieder hatte er dabei diese barfüßige, junge Frau erblickt, die plötzlich eine rote Sandale direkt vor seinem Gesicht hin und her baumeln ließ. Ob er nicht zufällig die dazugehörige zweite gesehen habe? hatte sie ihn gefragt und kaum, dass er den Kopf geschüttelt hatte, hatte sie sich auch schon wieder von ihm abgewandt und stur ihre eigene Suche fortgesetzt.
     Er sah auf sein Notizbuch hinab. Ein anständiger Mensch hätte ihn doch in diesem Moment fragen müssen, was er denn eigentlich verloren habe und ob man vielleicht behilflich sein könne. Dieser Gedanke aber war der jungen, barfüßigen Frau nicht im Entferntesten gekommen. Auch die Art ihrer Suche ließ jede Ernsthaftigkeit vermissen. Vielmehr flanierte sie, als sei sie nur für diesen Moment geboren, in unendlicher Selbstverliebtheit kokett auf und ab. Wie konnte ein Mensch überhaupt einen Schuh verlieren und wie würde er reagieren, wenn das einem seiner Kinder passieren würde? Auch diese Frage hatte ihn bereits im Park beschäftigt und als er nur wenig später aus einem Gebüsch heraus kroch und erneut vor der jungen, barfüßigen Frau stand, da sagte sie, dass ihre Lehre des heutigen Tages sei, dass man auch loslassen können müsse.
     Hart fühlte er den Ruck, der durch seinen Körper fuhr. Kerzengerade saß er jetzt am Tisch. Dann sank er erleichtert wieder in sich zusammen. Das war nicht der Satz nach dem er suchte.
     Wieder sah er auf sein Notizbuch hinab. Völlig spurlos war dieser dumme Satz, den die junge, barfüßige Frau ihm so leichtfertig ins Gesicht geworfen hatte jedoch nicht an ihm vorübergegangen. Zumindest hatte er seine weitere Suche bestimmt, denn statt wie bis dahin mit höchster Konzentration und Schritt für Schritt den Boden unter sich abzugrasen, war ihm nun, als ob er sich selbst bei der Suche beobachtete. Ein paar Mal hatte er sich sogar bereits umgesehen, ob die Leute am Ufer ihn schon betrachteten und auch deshalb hatte er mit einer energischen Bewegung den Kopf gehoben und die Suche für beendet erklärt. Dann hatte er den Hund gerufen, der neben einem großen Stein schläfrig in die Sonne blinzelte und war nach Hause gegangen.
     Er hob den Blick zur Wand. Hatte er, als er aus dem Park zurückgekommen war, den Satz, nach dem er suchte, bereits im Kopf oder harrte er seiner noch?
     Er schloss die Augen. Zu Hause hatte er gleich das Radio angeschaltet und sich in seinen Sessel geworfen, um die stündlichen Nachrichten zu hören. Nach den Nachrichten, an die er gerade keinerlei Erinnerung mehr hatte, hatte er den Zollstock vom Wohnzimmertisch genommen und war in den hinteren Trakt der Wohnung gegangen. Als erstes hatte er dort den Riss in der Wand nahe der Gastherme untersucht, der sich nicht erweitert hatte. Dann hatte er sich auf die Knie niedergelassen und war die Bodenkacheln durchgegangen, in denen auch kein neuer Sprung aufgetreten war und wie immer zum Schluss hatte er noch den Spalt zwischen dem Rahmen und der Tür zur Abstellkammer gemessen der nach wie vor 2,1 Zentimeter betrug. Dann war er ins Badezimmer gewechselt und obwohl er auf den ersten Blick gesehen hatte, dass seine täglichen Messungen und Untersuchungen auch dort das gleiche Ergebnis wie schon seit Wochen zeitigen würden, hatte er trotzdem kaltes Wasser in die Wanne einlaufen lassen. Nachdem er sich erst eine Weile im Spiegel betrachtet und anschließend mit dem kleinen Finger in den Schlitz hineingefühlt hatte, der sich vor einiger Zeit unter dem Fensterbrett aufgetan hatte, hatte er das Wasser wieder abgestellt und sich auf eine Ecke der Badewanne gesetzt. Ganz deutlich stand das Wasser zu dem am Fenster verlaufenden Rand höher. Ob die Wanne jedoch im Vergleich zu den Tagen und Wochen davor noch ein Stückchen zur Fensterfront hin abgesackt war, das ließ sich heute wieder nicht feststellen und während er nun schon eine ganze Weile auf die Wasseroberfläche gestarrt hatte, war ihm plötzlich der Gedanke in den Kopf geschossen, dass dieses schon ewig anhaltend schöne Wetter nicht nur ihn, sondern auch die Wohnung in einen immerwährend gleichbleibenden Zustand versenkt hatte.
     Kurz schreckte er auf und sah zum Notizbuch hinab. Dann schüttelte er den Kopf. Das war auch nicht der Satz, den er sich unbedingt notieren wollte.

zu Teil 2