Vorgeblättert

Leseprobe zu Jabbour Douaihy: Morgen des Zorns. Teil 2

16.07.2012.
Erst unsere Ankunft in Akbeh lenkte uns von Maurice ab. Dort tauchte vor uns das auf dem Hügel kauernde Dorf auf, das noch immer von den letzten Resten der vom Fluss aufsteigenden weißen Nebelschwaden eingehüllt war. Nachdem Maurice vor der letzten Kurve abgebremst hatte, fuhren wir mit quietschenden Bremsen abwärts, bis die Menschenmenge vor uns auftauchte, die sich neben der Eisenbrücke um einen Militärpanzer geschart hatte. Ein Soldat mit einem in Tarnfarben gestrichenen Helm blickte vom Turm eines Panzers herab. Nur Frauen und Soldaten waren zu sehen. Unter ihnen konnte ich meine Tante ausmachen, sie trug ein rotes Kleid, ihr Haar war zerzaust. Die meisten anderen Frauen waren schwarz gekleidet. Ich weiß nicht, warum man sie und nicht jemand anderen geschickt hatte, mich abzuholen. Ich vermutete, meine Mutter und mein Vater seien mit dem beschäftigt, was da vor sich ging. Ich erblickte sie schon von weitem: Die Arme über der Brust verschränkt, zuckte sie nervös mit den Schultern. Etwa zwanzig Frauen hatten sich zu einem einzigen Block versammelt, auf der Brücke und in ihrer Nähe stand eine kleine Schar Soldaten. Als wir aus dem Bus stiegen, hörten wir einen Soldaten seinem Kameraden erzählen, wie sich im letzten Jahr die Schneeschmelze verzögert habe, wie dann der Fluss angeschwollen sei und die Holzbrücke mit sich gerissen habe, an deren Stelle man daraufhin die Eisenbrücke errichtete. Beide hatten die Gewehre geschultert und starrten ins trübe Wasser. Ich versuchte meine Tante zu fragen, was los sei, doch sie brachte mich zum Schweigen, indem sie mir die Hand auf den Mund legte, als hätte ich einen schweren Fehler begangen. Die Frauen setzten sich in Begleitung der Schüler zu Fuß in Richtung Dorf in Bewegung. Es war eine seltsame Prozession. Meine Tante nahm mich an der Hand und marschierte mit mir los. Ich glaube, ich schaute mich immer wieder um, um zu erfahren, was meine Kameraden taten, die von niemandem abgeholt wurden; sie blieben stehen und warteten bei den Soldaten. Niemand kam, um die beiden fremden Schüler in Empfang zu nehmen, vielleicht hatten ihre Eltern nicht damit gerechnet, dass sie so plötzlich auftauchen würden. Ich habe keine Ahnung, warum ich mir um sie Sorgen machte, betraf die Gefahr doch die Fremden nicht.
Ghirb, oder in einigen Dialekten Ghurb, das ist der Plural von Gharîb, Fremder, es bedeutet also die Fremden. Und Gharb bedeutet der Westen, es ist genau die Richtung, aus der jene kommen, die nicht von uns sind, jene, die von außerhalb zu uns kamen. Nur allzu gerne behaupten wir bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dass uns jene Eindringlinge nicht ans Herz gewachsen seien. Diese Fremdlinge haben etwas an sich, was sie als solche entlarvt, sobald sie den Mund auftun. Den Fremden verrät zuallererst sein meist sonderlicher Akzent, und wir wundern uns sehr darüber, wie es geschehen kann, dass mitunter ein Vetter oder ein Nachbar, der ein oder zwei Jahre eine Schule in der Nähe der Hauptstadt besucht hat, diesen Akzent annimmt, so dass er sich in seiner Redeweise den Leuten aus Beirut oder Kasrawân annähert. Wir billigen diese Akzente in keiner Weise, und erfolglos versuchen wir sie nachzuahmen, um uns über ihre Sprecher lustig zu machen, die ans Ende der Worte ein Sch anhängen oder den Buchstaben Qâf so hart aussprechen wie die Bewohner des Schuf-Gebirges und nicht so flach wie ein Hamza, ein gutturaler Stopp, wie wir es zu tun pflegen. Als ließen diese lächerlichen Eigenarten den Sprecher auf ein undiskutierbares Niveau von Dummheit und Verstandesschwäche sinken, welches wir nicht ertragen können. Und wenn sie es uns heimzahlen, indem sie ihrerseits über unseren Dialekt spotten, bei dem wir die Konsonanten nur allzu häufig mit einem U vokalisieren, so dass der "Bruder" - Khaiji - sich in Khaiju verwandelt, und der "Vater" von Baiji zu Baiju wird, dann rechtfertigen wir das mit dem syrischen Erbe, sei doch das Syrische, so behaupten wir mitunter, unsere ursprüngliche Sprache, was keinesfalls ein Makel sei, sondern ob der weit zurückreichenden Abstammung zu Stolz Veranlassung gebe. Auch und besonders durch sein Essen verrät sich der Fremde, insbesondere durch die Art der Herstellung von Weizengrützenbällchen, die unter den Händen der Fremden dick und breit werden und denen sie Gewürze beimischen, um sie schmackhaft zu machen. Aber auch durch Gerichte, deren Namen wir zwar kennen, von denen sich in unserer Küche jedoch nicht die geringste Spur findet, wie zum Beispiel Arnabîja oder Ablama . Der Fremde wird auch nicht gezählt. Ruft man sich etwa Ereignisse ins Gedächtnis, bei denen Tote und Verletzte zu beklagen waren, dann werden die Fremden nicht erwähnt, weder namentlich noch mit der Anzahl ihrer Opfer. Und wenn sich die Nachricht von einem Unfall herumspricht, einem Mord oder dem Zusammenstoß von Autos, so besänftigen sich die Gemüter nur allzu rasch, wenn irgendjemand lauthals verkündet, das Opfer sei "ein Fremder". Dann legt sich die Aufregung und alle sind beruhigt. Eine Ehefrau aber, die von einem jungen Mann von außerhalb des Dorfes mitgebracht wird, bleibt namenlos, sie bleibt "die Fremde". Im Allgemeinen wird nicht dazu geraten, außerhalb des Dorfes zu heiraten, denn die Frau wird auf jeden Fall Ansprüche stellen und den Mann, den nur eine Tochter seines Dorfes ertragen kann, überfordern. Das "Fremdsein" beginnt nicht in einer Entfernung von Kilometern, sondern schon gleich, sobald man das Dorf nur einige hundert Meter hinter sich gelassen hat, es beginnt bei dem ersten Dorf, dessen Gärten sich mit unseren mischen … Wie lange es aber dauert, wirklich zum Dorf zu gehören und einer vom Dorf zu sein, ist ungewiss. Du kannst niemals wissen, wann man über dich und deine Eltern und deine Familie spricht, flüsternd, wann man behauptet, dass ihr "Fremde" seid, die Assad Bey aus Akkar mitbrachte, damit ihr ihm ein Haus baut. Der unwissende Zuhörer glaubt, dass sich diese berufsbedingte Zuwanderung gestern ereignet habe, doch wenn man Nachforschungen über den Lebensweg dieser hochgestellten Persönlichkeit, des Besitzers des großen Hauses, anstellt, so findet man heraus, dass es ganz sicher vor dem Jahr 1887 geschehen sein muss, denn in diesem Jahr wurde das Haus fertiggestellt, dessen Bogen deine Vorfahren erbaut und dessen glatte Steine sie geschleppt haben …
Ich sorgte mich weiterhin um das Schicksal der beiden fremden Schüler, die sich uns angeschlossen hatten, bis ich die Hupe des Autobusses vernahm, die mich ablenkte. Während wir uns auf die Frauen aufteilten, die gekommen waren, um uns abzuholen, blieb Maurice abwartend auf seinem Fahrersitz hocken. Seine Hände lagen locker auf dem Lenkrad, die grünen Augen waren noch immer feucht von seinen stummen Tränen. Wie er so dasaß und seine Hände mit ihrem ganzen Gewicht auf dem Steuer ruhen ließ, hatte er ungewollt ein Hupen ausgelöst. Die Frauen erschraken, und einige von ihnen zogen unbewusst die Kinder zu sich heran. Als ich meine Tante fragte, warum Maurice uns nicht bis nach Hause gebracht habe, wie er es gewöhnlich tat, ermahnte sie mich, den Mund zu halten, nicht nach hinten zu blicken und schneller zu gehen. Wir traten auf eine Kreuzung, so dass Bus, Soldaten und die über den Fluss führende Eisenbrücke unseren Blicken entschwanden.
Die Schar der Frauen und Schüler dezimierte sich, einige bogen in die Seitenstraßen ein, um so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Immer wieder blickten sich die Frauen nach allen Richtungen um. Wir vernahmen den Schlag der Glocke der Kirche zur Heiligen Jungfrau im Unteren Viertel, aber er klang nicht wie die üblichen Schläge, die zur Messe riefen, und auch nicht wie die dreifachen Schläge, die von einem Trauerfall kündeten. Es war nur ein einzelner Schlag, wie wir ihn nicht gewohnt waren. Er wogte über dem Schweigen des Dorfes, dann folgte eine lange Stille, ein Schlag, Stille … Mir fiel auf, dass meine Tante, immer wenn wir an der Mündung einer der Gassen vorbeigehen wollten, die in die Viertel hineinführten, mich auf die andere Seite schob, um mich mit ihrem Körper zu verdecken. In jenem Augenblick war mir nicht bewusst, dass sie lieber selbst von einer Kugel getroffen werden wollte, die aus der Tiefe einer dieser Gassen auf uns abgefeuert werden könnte. Sie beschleunigte den Schritt und zog mich mit, bis wir bergab gingen.
Dann tauschten wir die Rollen. Nun war sie es, die sich umdrehte, um sich zu vergewissern, dass niemand mehr in Hörweite war. Ich hatte das Gefühl, dass wir verfolgt würden, und so beschleunigte dieses Mal ich den Schritt, ohne dass sie dies von mir verlangte. Sobald wir aber ein Stück innerhalb des Viertels vorangekommen waren, schien sie ein wenig ruhiger zu werden. Sie begann zu reden. Ich weiß nicht, warum, aber sie sagte, das Beste, was ihr in ihrem ganzen Leben widerfahren sei, wäre, dass sie nicht geheiratet habe, obwohl die besten Jungs "um meine Hand angehalten haben", und sie begann sie aufzuzählen: Salmân Abu Schalhah, Saîd Antoun und ein Dritter, der nach Mexiko emigriert sei, wo er großen Reichtum erworben habe. Er habe sich später am Bau der neuen Dorfkirche beteiligt. Eine glückliche Entscheidung sei es gewesen, dass sie die Heirat stets abgelehnt habe. Dann blieb sie stehen und sagte mit übertriebenem Abscheu, dass sie die Männer, ihre Grobheit und ihren Geruch hasse, und dass sie Kinder genauso hasse, und was hätten Kinder denn schon für einen Nutzen!
Als wir an einer Lücke zwischen den Häusern vorbeigingen, durch die der Horizont sichtbar wurde, hörte sie auf zu reden. Sie packte mich an der Schulter, um mich in das kleine Dorf zu führen, das auf einer der Terrassen des Berges kauerte, welcher von Osten auf uns herabblickte. Dann sagte sie, dass dort kein Stein mehr auf dem anderen liege. Ich machte mir keine Vorstellung davon, was da vor sich ging, außer dass ein unfassbares Unglück geschehen sein musste, über das uns die Erwachsenen nicht in allen Einzelheiten informieren wollten. Aber ihre Andeutungen und Mienen verrieten uns, dass die Welt um uns herum dabei war einzustürzen. Was wirklich geschah, begriff ich erst, als ich einen Kameraden in meinem Alter traf, der zu den Burschen des "Banden"-Viertels gehörte. Er redete in meiner Sprache mit mir, und was er sagte, grub sich als erste Version der Ereignisse in mein Gedächtnis ein.
Als wir einen schmalen Durchgang betraten, wurde meine Tante von einem Schluckauf gepackt. Das erste Schlucken kam so überraschend und heftig, dass ihr Oberkörper nach hinten geworfen wurde und ihr ganzer Leib erzitterte. Sie blieb stehen, und man hätte meinen können, sie wolle sich umschauen, um zu erfahren, woher dieses Geräusch gekommen war. Sie hielt nicht inne in ihrem Redefluss, sie sprach schnell, sie redete vor sich hin und richtete ihre Worte nicht mehr an mich. Erst später begriff ich, dass ihre Worte desto schneller und aufgeregter hervorsprudelten, je näher wir dem Kirchplatz kamen. Sie schimpfte über die Feuchtigkeit, die unser Schicksal sei, über das Rheuma, das die Kinder befiel, über den mangelnden Glauben und die Gier. Sie erwähnte Namen von Leuten, die jemandes Vertrauen missbraucht, und von anderen, die gestohlen und getötet hatten … Ich bat sie, mit dem Reden aufzuhören, weil sich sonst ihr Schluckauf noch verschlimmere.
Dies war der einzige Satz, den ich gesprochen hatte, seit sie mich, nachdem ich aus Maurice' Omnibus gestiegen war, an die Hand genommen hatte. Aber sie beachtete mich gar nicht und verfluchte weiter die Vorfahren, die diesen Ort gewählt hatten, um sich hier niederzulassen. Warum hatten sie sich nicht einen anderen Platz gesucht, am Ufer des Meeres, von dem aus wir das Antlitz Gottes würden sehen können? Stattdessen hatten sie uns hier zwischen zwei Flüssen eingezwängt … Wir gelangten zum Tor des Nonnenklosters, wo wir die Stimme einer laut klagenden Frau vernahmen … Meine Tante blieb wie versteinert stehen, als sie die heisere Stimme hörte, dann fiel sie mit scharfen Worten über die Frau her.
- Seit sechs Uhr in der Früh hat diese Hure ihren Mund nicht gehalten, sie hat nicht mal Luft geholt, sie wird sie noch alle umbringen mit ihrem Geheul!
Dann fragte sie mich, noch immer in kurzen, regelmäßigen Abständen vom Schluckauf geschüttelt, ob ich alleine nach Hause fände. Ich nickte. Sag deiner Mutter, dass deine Tante zu nichts mehr taugt. Sie beugte sich über mich und gestand mir flüsternd, dass sie den Kirchplatz, wo wir wohnten, seit gestern nicht mehr betreten habe. Und dass sie sich den ganzen Tag und die ganze Nacht um sich selbst gedreht und verstohlen einen Blick hinter die Häuser geworfen, sich aber nicht getraut habe, den Blick lange dort verweilen zu lassen; immer wieder habe sie sogleich die Augen geschlossen und das Weite gesucht.
Ich setzte meinen Weg alleine fort. Höchstens noch zweihundert Meter. Bevor der Platz vor meinen Augen auftauchte, sah ich den Rosenpoet in der Kuppel des Glockenturms stehen. Ganz oben, dort wo die Schwalben die Nacht verbrachten, nachdem sie im Frühling vor Sonnenuntergang so niedrig ihre Kreise zogen, dass sie manchmal unsere kleinen Köpfe berührten. Er war es, der die Weihnachtskrippe baute, die er mit großen Figuren bevölkerte und durch die er wasserfallartig das Wasser rauschen ließ. Der Rosenpoet bastelte Papierflugzeuge und kritzelte mit Kohle Sprüche auf die Mauern des Viertels, in denen er zur Einheit des "Fruchtbaren Halbmonds" und zur Glorifizierung des "Führers" aufrief und die er mit seinem Pseudonym "Rosenpoet" signierte. Ich sah, wie er, den Rücken gegen die Glocke gelehnt und gemächlich vor und zurück schaukelnd, ohne dass die Glocke auch nur einen Ton von sich gab, von oben auf den Platz starrte. Mit der Hand zeigte er auf bestimmte Punkte unten und zählte laut, eins, zwei, drei …, bis er die Zehn erreichte. In dem Moment schlug er sich mit der Hand so fest gegen die Brust, dass ihn der Stoß nach hinten warf und die Glocke einmal schlug. Dann begann er von vorne, eins, zwei, drei …, es waren zehn Männer auf zehn Betten.
Sie hatten die Betten aus den benachbarten Wohnungen geholt und die Toten daraufgelegt. Meine Mutter hatte ihnen das Bett meines zwei Jahre älteren Bruders zur Verfügung gestellt, und diese Bevorzugung sollte während unserer ganzen Pubertät Anlass zum Streit zwischen uns sein. Er prahlte damit, und ich tat, als widere mich das an. Ich wunderte mich auch über unsere Nachbarin, die darauf bestanden hatte, dass man ihren Bruder auf ihr Bett lege. Danach wusch sie die Laken nicht mehr, um gierig seinen Geruch einzusaugen. Als die Laken vor Schmutz starrten, hörte sie auf, daran zu schnüffeln, aber sie wusch sie auch nicht, weil sie jedes Mal an ihren Bruder denken musste.
Der Platz war voller Frauen und Kinder, die sich in Gruppen um die Betten drängten. Ehefrauen, Mütter, Schwestern. Die Schwestern: die kleinen Nachbarsmädchen, die die Erwachsenen nachahmten, indem sie ihre Haare in zwei Büschel packten und den Kopf nach rechts und links wiegten. Ich konnte auch den buckeligen Stoffverkäufer mit der hohen Frauenstimme ausmachen, der den kleinen Mädchen in seinem erbärmlichen Französisch Liebeslieder vorsang, bevor er ihnen, wann immer sich ihm die Gelegenheit bot, in die Schenkel zwickte. Ich sah auch einen weinenden Priester. Aber ich sah keine Spur von den Männern, außer jenen, die in Sonntagstracht auf den Betten lagen, die Mienen für immer erstarrt. Ich erblickte eine Frau, die ich in unserem Viertel noch nie zuvor gesehen hatte, groß und weiß, sie ging von Bett zu Bett, setzte sich neben die Toten, richtete ihnen die Krawatten, schob eine in die Stirn gefallene Haarsträhne zurück oder wischte einen Blut- oder Schmutzfleck von der Wange, bevor sie lange in die Gesichter schaute und dann ihren Rundgang fortsetzte.

zu Teil 3