Vorgeblättert

Leseprobe zu Goncalo M. Tavares: Die Versehrten. Teil 2

19.04.2012.
"Die Kirche ist geschlossen. Wissen Sie, wie spät es ist? Es ist kurz vor fünf. Sie sollten sich hier nicht aufhalten. Nachts ist das eine schlechte Gegend, eine gefährliche Gegend."
Mylia hätte den guten Mann am liebsten ausgelacht. Eine schlechte Gegend, weil sie gefährlich ist! Sie, die ihre Krankheit mit sich herumschleppt, eine Krankheit, die bereits in ihr ist, die sie in ein, zwei Jahren töten wird. Sie, die mit dem Tod in einem Raum eingeschlossen ist, aus dem sie nicht mehr herauskommt; sie sucht doch genau diese Gefahr, das, was sie noch reizen, was zusätzliche Energien freisetzen kann. Fast hätte sie zu dem Mann, vermutlich ein kleiner Kirchendiener, gesagt: Nur weil diese Gegend gefährlich ist, ist sie doch keine schlechte Gegend. Hier lässt sich etwas aufbauen.
Denn die Gefahr ist wie eine Frage, auf die man schnell eine Antwort geben muss. Und was ich brauche, ist gute, eine exakt gestellte Frage, eine Frage, die mich zwingt, eine großartige, sinnstiftende Antwort zu finden. Die Krankheit ist bereits kein Wolf mehr, den ich mit etwas Stärkerem erschrecken kann. Sie ist ckende Wolf, sondern untrennbar mit mir verbunden.
"Ich habe keine Angst vor der Gefahr, ich würde nur gern in die Kirche gehen, und zwar jetzt", sagte Mylia.
"Es ist fünf Uhr morgens. Alles schläft. Diese Gegend ist gefährlich. Sie sollten nach Hause gehen. Am Vormittag sind wir alle ausgeruht; dann finden Sie, was Sie suchen. Um diese Uhrzeit gibt es keine guten Ratschläge. Die Leute sind müde."
Mylia schwieg eine Weile; dann krümmte sie sich, weil sie einen ungewohnten seitlichen Schmerz verspürte, der anders war als der große ständige Bauchschmerz. Dieser andere Schmerz kam von weiter oben.
"Verzeihen Sie, ich hatte gerade Schmerzen."
"Sie sollten nach Hause gehen; es ist sehr spät."
Mylia fing sich wieder. Sie fragte:
"Gibt es hier eine Kirche, die noch geöffnet ist?"
 
 
2

Der Mann verabschiedete sich, oder vielleicht ging auch Mylia einfach weiter. Das kleine Seitenportal wurde wieder geschlossen; alles zu, sogar das kleine Seitenportal. Ein Gefängnisbau. Mylia begann ihn zu umrunden.
Man hatte in der Höhe arbeiten müssen, die Männer hatten sich auf Leitern gestellt, um die Kirche zu bauen. Auf Zehenspitzen, um mit Ziegelsteinen zu hantieren, dachte Mylia amüsiert. Sich recken, um einen Ziegelstein ein paar Zentimeter höher zu platzieren, was für eine schöne Aufgabe für einen Mann.
Mylia kam ein Gedanke, der sie noch mehr lächeln und gleich darauf erröten ließ. Sie verspürte einen Druck auf der Blase.
Es war fünf Uhr vorbei. Die Türen waren verschlossen, dieser überaus sympathische (oder überaus hellhörige?) Mann hatte mit ihr gesprochen, ein kleiner Kirchendiener, der sich dafür entschuldigte, dass die Kirche geschlossen war.
Mylia kannte die Welt: Ein Mann, der sich um fünf Uhr morgens bei einer Unbekannten entschuldigt, ist ein unbedeutender Mensch. Er ist bestimmt der Kloputzer, dachte sie, bereute jedoch sogleich den Gedanken.
Aber es war nicht dieser Gedanke, der sie erröten ließ. Mylia hatte eine volle Blase, und dort, an der Kirche, war niemand. Daher hatte sie Folgendes gedacht: Ein stolzer, seine Umwelt wenig respektierender Mann würde sich, wenn er eine volle Blase hätte, einfach an die Mauer stellen, seinen Penis herausholen und pinkeln. Und genau das wollte Mylia in diesem Augenblick auch tun: an die Kirchenmauer pinkeln.
Es war weniger das Bedürfnis, an einem Ort, zu dem man ihr den Zutritt verweigert hatte, ihren Duft zu hinterlassen wie die Hunde; es war auch keine instinktive Provokation oder Auflehnung gegen die Öffnungszeiten, die an diesem Tag leider nicht ihren Wünschen und Bedürfnissen entsprachen, es war nichts dergleichen: Mylia war fast vierzig, sie handelte nicht mehr aus reiner Provokation. Und sie war krank. Sie hatte beschlossen, die ihr verbleibende Energie zu bündeln. Jede Handlung war einzig und allein auf sie selbst aus gerichtet. Ich handle für mich, ich agiere, als lebte ich vor einem Spiegel. Egoismus oder einfach nur ein sparsamer Umgang mit Reizen?
Das Bedürfnis, an die Kirchenmauer zu pinkeln, darf also nicht als Exhibitionismus verstanden werden. Es war vielmehr das vertikale, im rein biologischen Sinne menschliche Bild eines Mannes, der seinen Penis festhält und um fünf Uhr morgens an die Kirchenmauer pinkelt, dieses Bild war es, das Mylia gerade verfolgte und das sie irgendwie neidisch machte. Sie hatte es niemals bereut, Frau zu sein (und sie hatte nie versucht, etwas "Männliches" zu tun), doch nun verspürte sie einen merkwürdigen, unnötigen - fast irrationalen - Ekel, weil sie kein Mann war. Als sei sie von Grund auf gescheitert.
Ihr war klar, dass sie sich lächerlich wenn sie um diese nächtliche Stunde tatsächlich an die Kirchenmauer pinkelte. In welcher Stellung sollte sie dies tun? Mit dem Gesicht oder den Pobacken zur Mauer? In beiden Fällen würde sie leicht in die Hocke gehen müssen, und genau dieses "leicht" ärgerte sie. Ein vialer Mensch ging entweder ganz in die Hocke, warf sich notfalls sogar zu Boden, wenn er seine Feigheit eingestand, oder aber er blieb aufrecht und ohne zu schwanken stehen. Aber das ging bei ihr nicht. Bei jeder dieser starken Körperhaltungen würde sie ihre Hose beschmutzen. Und so empfand sie den kleinen Schritt, den sie gleich darauf von der Mauer zurücktrat, als Demütigung, als Ausdruck eines: Ich schaffe es nicht.

zu Teil 3