Vorgeblättert

Leseprobe zu Goncalo M. Tavares: Die Versehrten. Teil 3

19.04.2012.
Danach kam ihr ein anderes Bild in den Sinn. Wenn jemand sähe, wie sie an die Kirchenmauer pinkelte, würde er denken, eine Verrückte vor sich zu haben. Mylia hatte kleine Ängste, häusliche Ängste: Wie so viele Leute aus ihrem Bekanntenkreis hatte sie Angst vor Mäusen, und wenn ihr eines dieser grauen Tierchen über den Weg lief, bekam sie fast einen hysterischen Anfall; außerdem fürchtete sie sich vor körperlicher Gewalt. Das war eine große Angst: die Furcht vor gewaltsamem Körperkontakt mit anderen Menschen. Davor hatte sie sich von klein auf geschützt. Sie können mich zerbrechen, hatte sie damals gedacht. Sie ging nur dann auf andere zu, wenn sie sich sicher war, dass man sie gut behandeln würde. Wenn sie von guter Hand berührt würde. Also betrachtete Mylia Menschen, die körperliche Konfrontation, handgreifliche Aggressivität, den Konflikt liebten, mit großem Befremden.
     Mylias andere große Angst war, sie wieder ansehen und flüstern könnte: Die ist doch verrückt!
     Sie wollte nie wieder verrückt erscheinen. Natürlich würden die Leute nach dieser falschen Behauptung (Die ist doch verrückt!) sofort erkennen, dass sie gar nicht verrückt war, dass sie letztlich nichts anderes tat als normale Leute, doch ein einziger sie als geistesgestört einstufender Blick, allein der Gedanke daran, machte ihr schreckliche Angst. Niemand wird je wieder sagen, dass ich verrückt bin, murmelte Mylia.
 
 
3

Mylia hatte sich kurz von der Kirche entfernt. Sie würde sich nicht zum Gespött der Leute machen und sich als jemand darbieten, der den eigenen Körper nicht beherrschte, nur um an eine Kirchenmauer zu pinkeln. Sie ging in den nahe gelegenen kleinen Park, stellte sich hinter einen Baum, brachte ihre Pobacken in Position und pinkelte.
     Es war niemand in der Nähe, und ihr Bauch schmerzte noch immer. Sie hatte kein Papier dabei, also rupfte sie ein paar Kräuter aus und putzte sich damit ab. Sie warf sie weg, zog Schlüpfer und Hose hoch und richtete sich wieder auf.
     Vor ihren Augen erhob sich noch immer die Kirche, schweigend. In knapp drei Stunden würde der Tag anbrechen, und die Helligkeit war für Mylia eine eindeutige Bedrohung, eine materielle Bedrohung. Die Kirche war nicht geöffnet, weil es Nacht war, doch nun würde sie nicht den Fehler begehen, morgens hier gesehen zu werden; alle würden merken, dass sie etwas gesucht und nicht gefunden hatte. Sie hasste es, sich schwach zu zeigen, und nach der kurzen Demütigung durch den kleinen Kirchendiener, der wegen ihr das Seitenportal der Kirche geöffnet hatte, nach dieser Schwäche, etwas zu suchen, das geschlossen war, fand Mylia langsam wieder Instinkt zurück, sich nur dann blicken zu lassen, wenn sie stark war. Und diesen Instinkt kannte sie gut, man könnte sagen, bis ins letzte Detail, schließlich zwang ihre Krankheit sie ständig, Begegnungen zu verschieben: An Tagen mit starken Schmerzen würde sie sich niemals mit jemandem treffen. Das hieße aufhören, Mensch zu sein; das hatte sie inzwischen begriffen. Und obwohl Mylia wusste, dass sie nur noch ein paar Monate zu leben hatte, dass sie vielleicht in ein paar Wochen schon sterben würde, wollte sie nicht aufhören, Mensch zu sein. Der Stolz, wiederholte sie mehrmals. Verliere nie den Stolz.
     Doch da spürte Mylia unvermutet ihren Bauch. Anfangs verwirrte sie dieses neue Warnsignal: Das war nicht ihr Schmerz, das war ein anderer, aber genauso stark, sogar noch stärker.
     So ein Witz, dachte sie und hätte am liebsten gelacht. Ich habe Hunger, murmelte sie, weil ich seit Stunden nichts mehr gegessen habe. Ich bin hier allein in der Nacht, aber mein Magen ist mitgekommen; ich habe Gesellschaft.
     Was ihr erst lustig erschienen war, führte gleich darauf zu einer Überlegung und einer schwer erklärbaren Furcht. Dieser Magenschmerz, der Esslust ausdrückte, war nun stärker als der andere, konstante Krankheitsschmerz, jener Schmerz, der ihr bald schon das bringen würde, wovor alle großen und kleinen Ängste flüchteten. Wie kann es sein, fragte Mylia sich, dass der durch das Bedürfnis, Brot zu essen, hervorgerufene Schmerz ist? Die Ärzte hatten ihr doch prophezeit: Ich werde an dem Schmerz sterben, den ich gerade nicht verspüre.
     Sie erkannte deutlich, dass hier, neben der Kirche, zwei große Schmerzen miteinander konkurrierten: der Schmerz, der sie umbringen würde, der schlimme Schmerz, wie sie ihn nannte, und der andere, der gute Schmerz, der Schmerz des Appetits, der Schmerz des Essenwollens, ein Schmerz, der ihr sagte, dass sie lebendig war, gewissermaßen der Schmerz des Lebens, als wäre der Magen in diesem Augenblick, noch mitten in der Nacht, Sinnbild der Menschlichkeit, aber auch ihrer ambivalenten Beziehung zu den Geheimnissen, über die man nichts weiß. Sie war lebendig, und dieser Umstand schmerzte gerade auf objektive, materielle Art mehr als der nunmehr sekundäre Schmerz, an dem sie sterben würde. Als wäre es in diesem Augenblick wichtiger, ein Stück Brot zu essen, als unsterblich zu sein.
     Mylia blickte in alle Richtungen: Wo bekomme ich um diese Uhrzeit etwas zu essen her? Kein Licht, kein Mensch.


4

Mylia umrundete erneut die Kirche. Nirgendwo ein Licht, und das bedeutete, dass die Welt entweder gestorben oder noch nicht geboren war.
     Die geleerte Blase verschaffte ihr unverhoffte Erleichterung. Einen Schmerz hatte Mylia also besiegt, und es war, als wäre sie in dieser Nacht, ohne es zu merken, in ein Spiel hineingeraten; in ein Spiel, das ihr stets neue Probleme vorsetzte - oder besser: in sie hineinsetzte -, die nichts anderes waren als körperliche, materielle Schmerzen, konkrete Dinge des eigenen Körpers. Ein Problem hatte sie bereits gelöst: Sie hatte hinter einem Baum ihre Blase entleert, und ihre Blase hatte sich beruhigt; ein Schmerz weniger. Der Urin war draußen. Zu viel Urin im Körper schmerzt.
     Doch sie musste auch noch für andere Schmerzen in ihrem Körper eine Lösung finden, und bei einem zumindest wusste sie, dass er unheilbar war. Ein Wort war hierbei übrigens wichtig; die Ärzte, mehrere, hatten es ihr gegenüber gebraucht: Das lässt sich nicht heilen. Höchstens durch ein Wunder.
     Der erste Schock: Sie stellte ein Problem für die Ärzte dar. Ein Schmerz, sie war krank; das war ein Problem, ein biologisches Rätsel. Und die Ärzte antworteten ihr achselzuckend, mit mehr oder minder professioneller Betroffenheit, doch ohne zu handeln, ohne ihr etwas vorzuschlagen: Das ist unheilbar. Ihre Krankheit kann man nicht behandeln. Sie war ein Problem für die Ärzte geworden, und das gaben sie nun an sie zurück, unverändert, ohne etwas zu tun: das unangetastete Problem. Warum muss ich sterben?
     Mylia ist nun hinter der Kirche, steckt die Hand in die Hosentasche und holt einen kleinen staubigen Gegenstand hervor. Eine weiße Kreide. Kreide, um auf die Tafel zu schreiben. Sie hatte sie in der Hosentasche vergessen. Am Vormittag hatte sie ein Haus auf die Schiefertafel in ihrem Wohnzimmer gemalt. Sie hatte das Haus gemalt, in dem sie wohnen würde, wenn sie nicht bald schon sterben müsste. Nicht in den nächsten Monaten zu sterben bedeutete für Mylia dasselbe, wie ihre Unsterblichkeit zu erlangen. Wenn ich nicht sterbe, sagte sie, werde ich zu einem unsterblichen Wesen. Zwei Jahre.
     Doch nun hielt sie die Kreide in der Hand: Sie liebte es, damit zu malen. Grobzeichnungen nannte sie es.
     Die Kreide in der rechten Hand, trat sie an die Rückwand der Kirche. Nachts wirkte die Wand gelb, doch Mylia war sich nicht sicher. Die Nacht verfälschte die Farben oder löschte sie ganz aus. Aber die Kreide war zum Glück weiß, obszön weiß, dachte sie und lächelte.
     Plötzlich, ohne zu überlegen, was sie tat, schrieb sie in winzigen, kaum erkennbaren Buchstaben ein Wort an die Wand: Hunger.


5

Mylia betrachtete die restliche Wand und dachte: Was kann ich um fünf Uhr morgens noch an die Rückwand einer Kirche schreiben?
     Sie versuchte, sich an Bücher zu erinnern, die sie gelesen hatte, an Sätze, die für diesen Augenblick und diese Wand geeignet waren.
     Da verspürte sie wiederum eine starke Regung ihres Magens, des zweiten Schmerzes. Sie ließ den Arm sinken, die Kreide fallen und ging langsam auf eine andere Straße zu. Sie hatte Hunger, und der Schmerz wurde langsam unerträglich.
     Während Mylia immer schneller ging, dachte sie beinahe amüsiert, ich habe solchen Hunger, ich werde nicht sterben! Mit einem solchen Hunger kann man unmöglich sterben!
     Mylia fühlte sich in der Tat merkwürdig sicher: Dieser Hungerschmerz war eine Garantie, eine Garantie für Unsterblichkeit, zumindest eine momentane. Ich kann nicht einfach so an dem anderen Schmerz wenn dieser hier so stark ist! Und in dieser Gewissheit versuchte sie, das Essbedürfnis zu vergessen. ich esse, vergeht dieser Schmerz, und dann andere, und an dem sterbe ich sehr wohl.
 
Dort hinten ein Licht, vielleicht ein bereits geöffnetes Café, und rechts davon eine Telefonzelle. Sie blieb stehen und ging dann zur Telefonzelle. Der Bauchschmerz hörte nicht auf; ich muss ganz schnell was essen, sonst sterbe ich, murmelte Mylia und lachte. Sie nahm ein paar Münzen, warf eine davon in den Schlitz, wählte eine Nummer, es tutete. Niemand nahm ab. Vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf, zwölf, dreizehn, vierzehn: Jemand nahm ab. "Ernst", sagte Mylia, "ich bin an der Kirche. Bist du's?"
     Dann fiel Mylia in Ohnmacht.

                                                             *

Mit freundlicher Genehmigung der DVA
(Copyright Deutsche Verlags-Anstalt)


Informationen zum Buch und zum Autor hier