Vorgeblättert

Leseprobe zu Götz Aly: Die Belasteten. Teil 5

28.02.2013.
Im Bannkreis des Bösen

Will man die innere Dynamik des nationalsozialistischen Staats begreifen, müssen die gesellschaftlichen Dunkelzonen, die jenseits aller Ideologie bestanden, ins Auge gefasst werden. Die Morde an zunächst 70000 psychisch Kranken waren bis zum Sommer 1941 leichter vonstattengegangen, als die Organisatoren anfangs erwartet hatten. Oft wird gesagt, jene Männer von der Aktion T4, die erst Behinderte mittels Gas ermordeten und dann Juden, hätten die Euthanasiemorde zum Vorlauf des Holocaust werden lassen. Damit wird jedoch der entscheidende Zusammenhang hinter technischen und personellen Kontinuitäten verdeckt. Der Fall liegt weniger bequem.

Vor allem lehrte die Aktion T4 ihre Initiatoren: Ein solches Großverbrechen kann mitten in Deutschland durchgeführt werden. Weil die Deutschen den Mord an den eigenen Volksgenossen hinnahmen, gewannen die führenden Politiker die Zuversicht, sie könnten noch größere Verbrechen ohne bedeutenden Widerspruch begehen. Wer zulässt, dass die eigene an Schizophrenie leidende Tante in der Gaskammer stirbt oder der fünfjährige spastisch gelähmte Sohn die Todesspritze erhält, den wird das Schicksal der als Welt- und Volksfeinde verfemten Juden nicht kümmern, der wird gleichgültig bleiben, wenn zwei Millionen sowjetische Gefangene binnen sechs Monaten verhungern, damit deutsche Soldaten und deren Familien mehr zu essen haben.

Wie bei der Aktion T4 ging die NS-Führung auch bei der »Endlösung der Judenfrage« tastend und schrittweise vor. Sie nahm bestimmte Gruppen von der Deportation aus, an denen sich Widerstand hätte kristallisieren können: sogenannte Halbjuden und jüdische Ehepartner von Nichtjuden. Sie behandelte Veteranen des Ersten Weltkrieges und Alte zunächst etwas milder. Erst wurden Ostjuden ermordet, dann die deutschen und westeuropäischen Juden; erst die Männer, dann alle; erst diejenigen, die als arbeitsunfähig galten, dann jedoch alle. Zunächst sollte das Zentrum der Vernichtung in Weißrussland fernab entstehen, dann stellte sich heraus, das Projekt »Endlösung« könnte auch weiter im Westen, selbst auf annektiertem deutschen Boden, in Auschwitz, ins Werk gesetzt werden.

Die Vorsicht und das Austesten möglicher Widerstände und Grenzen folgten den Erfahrungen aus der Aktion T4. Im einen wie im anderen Fall ermöglichten Hitler, seine Mitführer und Berater dem Volk das Wegsehen, erfanden mäßig verhüllende Tarnbegriffe. An die Stelle des Begriffs »Verlegung« rückten sie die Begriffe »Evakuierung « und »Arbeitseinsatz im Osten«. All das geschah unter dem Stichwort »geheime Reichssache« mit dem einzigen Ziel, der eigenen Bevölkerung das Schweigen, das Hinnehmen zu erleichtern und sie damit zugleich umso fester an die Führung zu binden. Dafür war es erforderlich, dass in kontrollierter Weise spürbar blieb, dass jeder und jede Deutsche in den Sog ungeheuerlicher Verbrechen gerieten und halbbewusst in die Alternative Endsieg oder Untergang getrieben wurden - und sich hatten treiben lassen.

Zudem hatte das autoaggressive Moment der Aktion T4 die Mehrheit der Deutschen moralisch abgestumpft. Von Anfang an wohnte dem biopolitischen Programm Erbhygiene der Hang zur Selbstverstümmelung inne. Das galt für die Zwangssterilisierung von 350000 Deutschen während der ersten nationalsozialistischen Jahre und erst recht für die physische Vernichtung körperlich und geistig Gebrechlicher. Eine Gesellschaft, die sich selbst fortwährend derartige Schmerzen und Verluste zufügt, verroht, wird auch nach außen immer aggressiver. Sie verliert die Skrupel, empfindet es sogar als gerecht, wenn Ähnliches und Schlimmeres anderen Menschen angetan wird, zumal solchen, die als fremd oder feindlich gelten.

Die keinesfalls regimetreuen, jedoch staatsloyalen Protestanten Gerhard Braune, Friedrich von Bodelschwingh oder Theophil Wurm führten vertrauliche Gespräche und schrieben gegen die Morde flammende Briefe an staatliche Stellen. Sie bewirkten nichts. Öffentlich bekannt wurden ihre zahnlosen Eingaben erst nach dem 8. Mai 1945. Der Einzige, der, wenn auch spät, die Situation durchschaute und, von christlich-fundamentalen Grundsätzen geleitet, zu einem der Situation angemessenen und wirksamen Protest fand, war Clemens August Graf von Galen. Mit vollem persönlichem Einsatz und dem Gewicht seiner Autorität zerriss er für einen Moment den über das Morden gebreiteten Schleier des Schattenhaften und Undurchsichtigen. Vielfach gebrauchte er in seinen drei Predigten dafür die Begriffe Mord und Totschlag - im Sinne des Strafgesetzbuchs und des Fünften Gebots Gottes: Du sollst nicht töten! So und nur so brachte er die Führer des Staates in Bedrängnis und die vielen Deutschen in Verlegenheit, die lieber Nicht-so-genau- Wissende bleiben wollten.

Galens Erfolg hielt nicht lange vor. Der Beginn des totalen Krieges und die Mitte 1942 taktisch veränderten, noch undurchsichtigeren Formen des Mordens machten ihn wieder zunichte. Vor allem aber: Der Bischof von Münster blieb allein. Sieht man von der deutlich schwächeren Predigt des Berliner Bischofs Konrad von Preysing ab, so folgte kein weiterer katholischer Bischof seinem Beispiel. Die Spitzen der protestantischen Kirchen Deutschlands erwogen nicht einmal, ihren noch starken gesellschaftlichen Einfluss von den Kanzeln herab geltend zu machen. Nachdem Karl Brandt, Hitlers Beauftragter für die Euthanasieverbrechen, 1947 im NürnberDie ger Ärzteprozess zum Tode durch den Strang verurteilt worden war, reichte die Direktion der Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel ein Gnadengesuch ein.

Die allermeisten Deutschen hatten die Verbrechen hingenommen. Sie hatten sich in den Bannkreis des Bösen ziehen lassen. Deshalb schwiegen sie nach 1945 weiterhin. In den Wohn- und Schlafzimmern hingen die Fotos der gefallenen Ehemänner, Söhne und Brüder. Fotos der Onkel oder Großmütter, die als Pflegebedürftige, Demente oder psychisch Auffällige ums Leben gebracht worden waren, unterlagen einem ungeschriebenen Bilderverbot.

Mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlags

Informationen zu Buch und Autor hier