Vorgeblättert

Leseprobe zu Friedrich Christian Delius: Die Frau, für die ich den Computer erfand. Teil 1

06.07.2009.
An einem heißen Julitag 1994 entdeckte ich auf der Terrasse des Gasthauses "Burg Hauneck", auf einer abgelegenen Höhe des hessischen Berglands, den alten Herrn, den ich seit Jahren zu sprechen suchte. Obwohl wir verabredet waren, glaubte ich im ersten Moment an eine Erscheinung: so weiß leuchtete sein Haar im Spätnachmittagslicht. Ich trat näher, schaltete das Aufnahmegerät ein, begrüßte ihn und fand später folgende Sätze auf sieben Tonbändern gespeichert:


(Zwischen Oberstoppel und Unterstoppel)

Ja, der bin ich. Aber sprechen Sie meinen Namen nicht so ehrfürchtig aus, junger Mann! Ich bin hier in Zivil, und Sie hoffentlich auch ... Setzen Sie sich! Nein, neben mich, damit Sie was von der Landschaft haben. Außerdem hör ich besser auf dem linken Ohr. Ich hab Ihnen ja gesagt, Sie werden mich auf Anhieb finden, so viele Doppelgänger hab ich nicht, jedenfalls nicht auf der Höhe zwischen Oberstoppel und Unterstoppel ... Ganz meinerseits. Ich freue mich, Sie wiederzusehen. Bitte, nehmen Sie Ihr Gert aus der Tasche, legen Sie es auf den Tisch, ich hab keine Angst vor diesen Maschinchen ... Dafür sind wir ja noch gut, wir Alten, dass wir die Mikrofone füttern, die unersättlichen Raubtiere ... Sie haben auch so ein winziges. Früher, die großen fand ich viel schnittiger, da kam man sich gleich irgendwie bedeutend vor ... Sie haben Ihr Zimmer bezogen? Alles in Ordnung? ... Ja, es ist einfach, aber solide, ich mag diese einfachen Landgasthöfe. Das Schwimmbad im Keller hätten sie sich sparen können meinetwegen, Schwimmen auf dem Stoppelsberg, das passt irgendwie nicht, oder? ... Haben Sie die Hitze gut Überstanden? ... Ich hab uns den Ecktisch reservieren lassen, mein Stammplatz, bin oft hier oben. Ist doch schön, der weite Blick in die Rhön hinein, auf die spitzen Berge, direkt auf das Hessische Kegelspiel ... Sehr gut, ich sehe, Sie haben keine Frage im Gesicht, was das nun wieder sein soll, das Hessische Kegelspiel. Schon die Hessen aus Frankfurt oder Wiesbaden, keine Ahnung haben sie von den Schönheiten der Vorderrhön, von diesen Basaltkuppeln, den eleganten Basaltkuppeln, erloschne Vulkane, einer neben dem andern. Fast so anmutig wie die Hügel in der Toskana, finden Sie nicht? ... Ich weiß, das hab ich nicht vergessen ... Trotzdem, ich gratuliere, der Test mit dem Kegelspiel ist bestanden. Heimatkunde, das ist immer ein Pluspunkt bei mir. Auch das glaubt mir keiner ... Aber nicht dass Sie denken, ich hätte Sie nur deswegen hierher auf den Stoppelsberg eingeladen, weil Sie die Gegend kennen ... Das werd ich Ihnen noch verraten, später, weshalb Sie heute neben mir sitzen und kein anderer ... Verschnaufen Sie erst mal, wir haben den ganzen Abend und die ganze Nacht, wenn Sie durchhalten. Haben Sie schon gemerkt, ich hab uns extra eine Vollmondnacht ausgesucht ... Weil ich da sowieso nicht schlafen kann. Wie geht es Ihnen damit? ... Nach dem heißen Tag serviert man uns eine laue Sommernacht, falls die Vorhersage stimmt. Mal sehn, ob wir Glück haben mit dem Mond und den Wolken, es sieht ja ganz gut aus ...


(Der Festakt)

Aber ich warne Sie, heute bin ich bester Laune ... Vorgestern erst hab ich abgesagt in Braunschweig und meine Tochter hingeschickt. Ja, vorgestern erst, aus Gesundheitsgründen, so kurzfristig kann man nur mit Gesundheitsgründen absagen bei solchen Festivitäten ... Ich geb es zu, als wir uns vor drei Wochen verabredet haben, da hatte ich die Absage schon im Hinterkopf. Ich wollte den Vollmond nicht verstreichen lassen. Ich wollte den Termin mit Ihnen und nicht mit Braunschweig. Aber bilden Sie sich bloß nichts darauf ein! Das ist mein Vergnügen und nicht Ihr Verdienst! Und jetzt sitz ich hier in der freien Natur und nicht im getäfelten Saal in der ersten Reihe, und hier schwirren keine Fotografen rum, die mich zum Grinsen nötigen. Und jetzt, in diesen Minuten, kurz nach sechs, fängt der Festakt an. Es ist wie Schuleschwänzen, nur viel schöner. Weil sie mich nicht mehr bestrafen können. Im Gegenteil, sie können sowieso nur das Beste Über mich erzählen, Oberbürgermeister, Minister, Präsidenten, Professoren ... Es ist der vierzehnte Ehrendoktor, ich hab extra noch mal nachgezählt ... Ja, für mich auch, und die Karte bitte, Kathi ... Und jetzt gleich, nach der Musik, Mozart passt immer, ein Flügel passt immer noch in die Ecke, spricht der Oberbürgermeister. Wissen Sie, das Händeschütteln, die Blitzlichter, das Lächeln, die Konversation Über das Wetter und den neusten Streich von Bill Gates, und dann Mozart, das ginge ja noch, wenn nicht die Reden wären, die immer gleichen Reden, die immer gleichen Sätze. Glauben Sie mir, ich kenne die Oberbürgermeistersätze, ich kenne sie alle auswendig, die Ministersätze, die Professorensätze. Das ganze Arsenal der Lobreden, die auf mich abgefeuert werden und die mir gleichgültig geworden sind und gegen die ich mich nicht mehr wehren will und nicht mehr wehren kann außer mit einer Absage aus Gesundheitsgründen zwei Tage vorher. Und das Schlimmste, nein, das Komischste ist eigentlich, dass ich meine eigenen Reden nicht mehr hören kann oder nicht mehr hören will. Ich kann nichts Neues mehr sagen, in dem Rahmen nicht, wo alles so künstlich und feierlich und weihevoll ist, bei einem Festakt kann ich nichts Neues mehr sagen, obwohl ich noch einiges zu sagen habe oder zu sagen hätte, was ich noch nie gesagt habe ... Nein, aber darum hab ich Ihrer Drängelei nachgegeben, deshalb hab ich Sie erhört, sozusagen, Ihre Anfrage wegen eines ausführlichen Interviews, eines langen Gesprächs. Erhört, das klingt anzüglich, oder? ... Sei's drum, redigieren Sie das weg, meinetwegen. Streichen Sie, was Sie wollen ... Hauptsache, Sie kapieren, dass ich endlich mal, wie soll ich sagen, anders reden will. Keine Frackrede, keine Krawattenrede, sondern eher im Arbeitskittel, verstehen Sie? Ich will wenigstens den Versuch machen ... Nein! Bloß nicht schreiben! Nie wieder! Einmal Memoiren, das ist Strafarbeit genug. Was das an Kraft kostet, sag ich Ihnen, nie wieder. Da nimmt man Rücksicht, da lässt man so viel weg, da mogelt man sich durch, da stellt man sich, ob man will oder nicht, aufs Podest, wo man vielleicht objektiv hingehrt, aber das ist einem trotzdem peinlich, und dann untertreibt man wieder, was auch falsch ist, es ist eine höllische Arbeit. Nein, ich traue den Autobiografien nicht, nicht mal meiner eigenen. Da nehm ich mir doch lieber vor, eine ganze Nacht vor einem Recorder zu sitzen, sieben, acht, zehn, zwölf Stunden reden und sich ausfragen lassen. Was ist das schon gegen wochenlanges, monatelanges, jahrelanges Schreiben und Verwerfen und Verbessern und Verschlechtern, nie wieder freiwillig so eine Tortur. Einen ganzen Abend und eine ganze Nacht, das ist doch menschlich, finden Sie nicht? Menschlicher als die eigenen Erinnerungen geradezubiegen und auf Zeilen zu quetschen. Lieber Schwung holen und in einem großen Bogen festhalten, was ich vielleicht noch zu sagen oder zu ergänzen habe. Ich werd versuchen, mich nicht allzu oft zu wiederholen, das ist versprochen. Aber den großen Bogen, den inneren Bogen, die Gefühle ... Genau: laut denken, ohne Rücksicht, ohne allzu viel Rücksicht. Das bin ich mir und meinem Alter noch schuldig. Und vor allen Dingen einer Frau bin ich das schuldig. Der Frau, die keiner kennt. Der Frau, für die ich den Computer erfunden habe ... Nein, dazu später, haben Sie Geduld ... Dafür brauch ich Sie, hab ich beschlossen, ganz einfach. Ich brauch Ihr Mikrofon auf dem Tisch und nicht die Braunschweiger Mikrofone auf einem blumengeschmückten Rednerpult. Vor Oberbürgermeistern, Ministern und Professoren könnte ich von der Frau gar nicht reden, von einer heimlichen Liebschaft sowieso nicht ... So ist es, wir machen uns unsern eigenen Festakt hier auf fünfhundert Meter Höhe, auf der Terrasse. Wir feiern mein Schuleschwänzen, Prost! ... Ich hoffe auf Ihre gefällige Kooperation ... Aber seien Sie vorsichtig, ich hab Sie gewarnt, ich bin bester Laune ...

Teil 2